Andersmachen (7/2020): Wie man an viele Ideen kommt, damit der Sprung ins „Danach“ gut gelingt
Nach Corona wird vieles anders sein. Hierauf müssen sich die Unternehmen vorbereiten. Der Startpunkt dafür sind viele Ideen – von ideenreichen Menschen gedacht. Dazu wird die kollektive Intelligenz der Mitarbeiter ganz gezielt in Kreativ- und Entscheidungsprozesse integriert. So kann jenseits von Administration und Bürokratie eine Vielfalt von Innovationen entstehen.
Das MIT Center for Collective Intelligence und viele andere Forschungseinrichtungen haben anhand von Untersuchungen immer wieder gezeigt: Zwar ist die Intelligenz einzelner Mitglieder einer Gruppe von Bedeutung, wenn es um Ergebnisse geht, die kollektive Intelligenz, auch „Weisheit der Vielen“ genannt, spielt jedoch eine noch viele größere Rolle.
Nur wer viel würfelt, der würfelt am Ende auch Sechser. Wenn also genügend kluge Köpfe zusammenkommen, lässt sich jedes Problem lösen. Gemeinsam gelingt es am besten, Ideen zu entwickeln, die zuvor noch niemand hatte und auf die man allein nicht gekommen wäre.
Einen zweiten gebräuchlichen Terminus, den der Schwarmintelligenz, nutze ich nicht, denn leider gibt es ja auch sehr dumme, lärmende, fehlgeleitete Schwärme. So erzeugen Obrigkeiten über Macht, Angst, Gängelei und Kontrolle den supergefährlichen blinden Gehorsam. Wer die Regeln befolgt und tut, was ihm via Dienstanweisung auferlegt wird, hat eben nichts zu befürchten.
Querdenker, Musterbrecher und Innovateure, die man für gute Ideen braucht, sind in einem solchen Umfeld nicht zu erwarten. Entscheidungsmonopole und Dauerbefehle von oben verbunden mit Wissensdefiziten, Opportunismus und Konformität machen jede Organisation „schwarmdumm“ (Gunter Dueck). Und das wiederum führt ins Aus – und nicht in die Zukunft.
Die Innovationskraft steigt mit der Anzahl gleichberechtigt Involvierter
Bereits 2004 hat der Soziologe James Surowiecki in seinem Weltbestseller "The Wisdom of the Crowds" anhand vieler Beispiele gezeigt, dass eine Gruppe in aller Regel „klüger ist als ihr gescheitestes Mitglied“. So steigt zum Beispiel die Innovationskraft mit der Anzahl gleichberechtigt involvierter Personen, sofern die Gruppe inhomogen ist und ihr Wissen wertschätzend teilt.
Wieso inhomogen? Homogene Gruppen, also solche mit gleichartigen Mitgliedern, neigen zum Gleichklang und zum Griff nach Routinen, jedoch kaum zum kühnen Erkunden von Neuem. Der Zugewinn einer inhomogenen Gruppe ergibt sich aus der Meinungsvielfalt, der Öffnung für unterschiedliche Denkweisen und einer damit verbundenen Experimentierfreudigkeit.
Eine inhomogene Zusammensetzung ist divers. Sie berücksichtigt beide Geschlechter, Jung und Alt, Denker und Macher, Routiniers und Novizen, unterschiedliche Disziplinen, verschiedene Hierarchiestufen und, wenn situativ passend, auch einen Nationalitätenmix. Drei besondere Faktoren erhöhen den Gruppen-IQ, fand die Organisationsprofessorin Anita Woolley heraus:
mindestens zwei Frauen in der Gruppe,
einfühlsames Verhalten der Mitglieder und
gleichberechtigter Austausch auf Augenhöhe.
Vielredner und Selbstdarsteller hingegen vermindern den Gruppen-IQ, was gleichermaßen für aufgeblasene „Gockel“ wie für „Diven“ gilt. Nur-Männer-Gruppen und dabei vor allem Führungskräfte verplempern leider viel wertvolle Zeit mit Wichtigkeitsgehabe und Positionierungsgerangel. Nur-Frauen-Gruppen verbleiben hingegen allzu oft in einem zögerlichen Konsens.
Passende Rahmenbedingungen für den Einsatz der „Weisheit der Vielen“
Kluge Entscheidungen kann eine Gruppe immer nur dann gut treffen, wenn
jeder Teilnehmer in seiner Meinungsbildung unabhängig ist,
jeder Zugang zu allen entscheidungsrelevanten Informationen hat,
jeder einzelne seine Meinung äußern darf und angehört wird,
man sich autoritätsfrei auf ein passendes Vorgehen einigen kann.
Ferner braucht es einen zugleich konstruktiven und respektvollen Umgang. Schließlich muss sich die Gruppe auch treffen können – derzeit virtuell, später dann auch wieder real. Menschen arbeiten ganz einfach am besten zusammen, wenn sie sich sehen.
Warum das so ist? Worte können lügen. In Gestik und Mimik zeigt sich die wahre Gesinnung. Dies erzeugt in uns Resonanz. Ein gutes Intuitionsradar kann das spüren und decodiert friedliche Absichten genauso wie Ruchlosigkeit. Körpersprachliche Signale können aber nur bei physischer Nähe wirklich gut entschlüsselt werden, weil dann alle Sinne mitbeteiligt sind.
Geht es um Andersdenken, um unkonventionelle Lösungen sowie um kleine und große Innovationen, sollten die Arbeitsorte zudem so informell wie möglich gestaltet sein. Stimmen die Rahmenbedingungen, dann steigt nicht nur die Aussicht auf eindrucksvolle Erfolge. Es steigt auch die Chance auf den Serendipity-Effekt. Das ist das Stolpern über glückliche Zufälle, was durch die „Weisheit der Vielen“ begünstigt wird.
Auch über Online-Events entfaltet sich die „Weisheit der Vielen“ gut
Die „Weisheit der Vielen“ lässt sich mithilfe spezieller Programme auch Online organisieren, sogar in ganz großem Stil. In diesem Fall spricht man von Innovation-Jams. Das sind virtuelle Veranstaltungen, die auf speziellen Jam-Plattformen über einen Zeitraum von ein bis drei Tagen stattfinden. Bei IBM wurden dazu 50.000 Mitarbeiter, Kunden und Partner global involviert.
Onlinegestützt diskutieren die Teilnehmer in moderierten Foren und bringen ihre Ideen ein. Software kanalisiert die Themen über Bewertungen, Rankings und Diskussionshitze. Bei der Telekom fand so ein Jam mit 2500 Mitarbeitern statt. Um zwei Fragestellungen ging es dabei: „Wie verbessert der Bereich seine Zusammenarbeit?“ Und: „Welche neuen Geschäftsideen lohnt es sich zukünftig weiterzuentwickeln?“ Innerhalb von 72 Stunden wurden 170 konkrete Ideen generiert.
Moderierte Großgruppen-Anlässe sorgen für besonders viele Konzepte
Für später nehmen wir uns dann wieder Präsensveranstaltungen vor. Bei einem Großgruppen-Event lässt sich die „Weisheit der Vielen“ am besten entfesseln. Perspektivenreichtum, Co-Kreativität und gegenseitige Befruchtung lassen Ideen geradezu sprudeln. Um dieses Potenzial abzuschöpfen, können an einem einzigen Tag um die 50 bis 100 Mitarbeiter hierarchie- und abteilungsübergreifend (!) an die zu bearbeitenden Themen herangeführt werden.
So entstehen im Rahmen einer kompakten Tagesveranstaltung umsetzungsreife operative Konzepte, die idealerweise noch vor Ort durch Gruppenentscheid abgesegnet werden und dann sofort in die Umsetzung gehen. Sie müssen also nicht erst die üblichen Gremien und Instanzenwege durchlaufen, was wieder nur unnötig aufhält und Initiativen versanden lässt.
Die Führungskräfte bitte ich in meinen Workshops, sich im Hintergrund zu halten. Wahre Leader sprechen erst zum Schluss und ergänzen nur noch die Dinge, die ihnen strategisch wichtig sind. Manchmal bin ich geradezu überrascht, wie viel von dem, was die Geschäftsleitung sowieso vorhat, von den Mitarbeitern selbst eingebracht wird.
Außerdem wichtig: Die in den Workshops verabschiedeten Konzepte sind keine Dogmen, an die man sklavisch gebunden ist. So wie man die Segel neu setzt, wenn der Wind aus einer anderen Richtung weht, so sind Vorgaben beweglich zu halten und einmal getroffene Entscheidungen bei Bedarf immer wieder neu zu justieren.
Mehr zum Thema in: Die Orbit-Organisation. In 9 Schritten zum Unternehmensmodell für die digitale Zukunft (Finalist beim International Book Award 2019)
Und für die, die sich echt an die Arbeit machen wollen: Die nächste Ausbildung zum zertifizierten Orbit-Organisationsentwickler findet vom 17. - 19. Feb. 2022 in München statt. Zu weiteren Infos und zur Anmeldung geht's hier.
Über die Autorin: Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung. Zu diesen Themen hält sie Impulsvorträge auf Veranstaltungen und Fachkongressen. 2015 wurde sie für ihr Lebenswerk in die Hall of Fame der German Speakers Association aufgenommen. Zudem wurde sie mit dem BestBusinessBook Award 2019 ausgezeichnet. www.anneschueller.de