Appell ans Unbewusste
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Bislang experimentieren nur wenige Unternehmen in Deutschland mit Nudges. Dabei können die subtilen Hinweise die Arbeitsproduktivität deutlich erhöhen – mit sehr geringem Aufwand. Siemens, B. Braun Melsungen und Bosch machen vor, wie es geht.
Von****Wolfgang Freibichler, Michael Gropp
Manager betrachten sich gern als vernunftgesteuerte Wesen, deren Erfolg vor allem auf ihrem brillanten Verstand beruht. Wer ihnen erzählt, dass sie bei ihren Entscheidungen wesentlich von Instinkten gesteuert werden, wird womöglich Kopfschütteln ernten, mitunter sogar empörte Ablehnung. Dabei könnten Führungskräfte durch einen geschickten Umgang mit dem Unbewussten einen erstaunlichen Verhaltenswandel bei Mitarbeitern, Kollegen und sich selbst anstoßen.
"Nudging" – so viel wie "Anstupsen" – heißt das Zauberwort, das die US-Professoren Richard Thaler und Cass Sunstein 2008 in ihrem Buch "Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt" in die Managementliteratur eingeführt haben. Thaler wurde für seine verhaltensökonomischen Arbeiten 2017 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Er hatte herausgefunden, dass kleine Veränderungen des Umfelds große Auswirkungen auf das unbewusste Denken und dadurch auf das Verhalten von Menschen haben können.
Nudges nutzen weder Regeln noch Anweisungen oder finanzielle Anreize, um Verhaltensänderungen anzustoßen; Menschen behalten stets ihre Entscheidungsfreiheit. Doch weil Nudges die Rahmenbedingungen verändern, fällt es den Betroffenen leichter, sich klug zu verhalten. Regierungen in aller Welt nutzen dieses Wissen zur Verbesserung der Altersvorsorge, des Gesundheits- oder Bildungswesens. Auch im Bundeskanzleramt arbeitet eine Gruppe von Wissenschaftlern, Regierungsmitarbeitern und Bürgern am Einsatz von Nudging in der Politik.
In der Wirtschaft dagegen ist diese Methode bisher noch wenig bekannt. Bislang galt Nudging dort vor allem als Mittel, um Konsumenten zu gewünschtem Verhalten zu bewegen. Doch langsam setzt sich in Unternehmen die Erkenntnis durch, dass gezielte "Stupser" auch Mitarbeitern helfen können, ihre Arbeit produktiver und schneller zu erledigen. Wir nennen dieses Konzept Nudge-Management, weil es die Theorie des Nudging auf die Unternehmensführung überträgt. (Den Begriff prägte einer von uns, Wolfgang Freibichler, 2017 in einem gemeinsam mit Philip Ebert verfassten Beitrag im "Journal of Organization Design".) Indem Nudge-Management die Arbeitsumgebung neu gestaltet, hilft es, das unbewusste Verhalten der Mitarbeiter im Sinne der Unternehmensziele zu optimieren.
Wer die Ursprünge des Konzepts studieren möchte, muss - wie so oft bei Innovationen – ins Silicon Valley schauen. In den Sommern der Jahre 2007 und 2008 traf sich eine Gruppe von Techunternehmenslenkern zum Austausch mit führenden Verhaltenswissenschaftlern in Kalifornien. Teilnehmer der "Edge Masterclass": Larry Page und Sergey Brin von Google, Amazon-CEO Jeff Bezos, Wikipedia-Gründer Jimmy Wales, Tesla-Chef Elon Musk und andere Silicon-Valley-Größen. Vortragsredner: unter anderem Richard Thaler und Daniel Kahneman, der bereits 2002 für seine Erkenntnisse über instinktive Entscheidungsfindung ("Schnelles Denken, langsames Denken") den Wirtschaftsnobelpreis erhalten hatte.
Was diese Lektionen in Verhaltensökonomie im Silicon Valley angestoßen haben, lässt sich heute bei Google besichtigen. Dort durchdringen Nudges die gesamte Unternehmenskultur. "We use nudges to make people happier and more effective", bringt es der ehemalige Personalleiter Laszlo Block auf den Punkt. Am bekanntesten ist wohl ihr Einsatz in den Google-Betriebsrestaurants. Dort befindet sich Wasser im Kühlschrank auf Augenhöhe, zuckerhaltige Getränke dagegen sind auf Kniehöhe zu finden. Teller für das Büfett fassen nur kleine Portionen. Obst liegt griffbereit, Süßigkeiten sind unter Abdeckungen versteckt. Grüne Schilder stehen für gesunde Mahlzeiten wie Salat und Gemüse; süße Nachspeisen sind mit roten Schildern gekennzeichnet.
Auch die Raumarchitektur bei Google ist voller Nudges. Ein großes Team von Verhaltenswissenschaftlern und Datenanalysten ermittelt akribisch, wie sich das Arbeitsumfeld auf Zusammenarbeit und Selbstmanagement der Mitarbeiter auswirkt. Unzählige Nudges sind das Resultat dieser Arbeit.
Doch wie sieht es in deutschen Unternehmen aus? Ist das Konzept hierzulande überhaupt bekannt? Noch sind die Vorbehalte groß, doch einige Unternehmen experimentieren durchaus sehr erfolgreich mit Nudges. Als Vorreiter gelten Siemens, der Medizintechnikhersteller B. Braun Melsungen und Bosch. Einige ihrer Maßnahmen möchten wir im Folgenden vorstellen.
Als die Führungskräfte im Qualitätsmanagement von Siemens Gas and Power im Sommer 2018 zum ersten Mal von Nudge-Management hörten, standen sie vor einer schwierigen Aufgabe. Ihr Problem: Im Gasturbinenfertigungswerk in Berlin waren die Kosten für Ausschuss und Nacharbeit bei Turbinenschaufeln zu hoch. Weil die Schaufeln sehr kompliziert geformt sind, verlangt die Fertigung viel manuelles Geschick und hohe Konzentration der Mitarbeiter beim Sandstrahlen. Messungen zeigten jedoch immer wieder, dass die Oberflächenrauigkeit der Schaufeln nach dem Strahlen nicht den Vorgaben entsprach, hauptsächlich weil die Mitarbeiter sich nicht genügend Zeit für die Bearbeitung nahmen – obwohl alle Abläufe klar definiert waren und regelmäßig geschult wurden. Die Ursache lag also meist in menschlichem Fehlverhalten.
Normalerweise setzen Qualitätsverantwortliche in solch einer Situation die altbewährten Führungsinstrumente ein: Sie beschreiben Prozesse und Verantwortlichkeiten noch genauer, fordern Six Sigma ein, führen zusätzliche Kennzahlen ein und organisieren Trainings. Bei Siemens entschied man sich jedoch für einen anderen Weg. Das Management beschloss, menschliche Verhaltensfallen zu identifizieren und erstmals Nudging im Qualitätsmanagement anzuwenden. (Hinweis: Die Autoren arbeiteten bei Siemens gemeinsam an der Einführung von Nudges im Qualitätsmanagement – Anm. d. Red.)
Anhand eines Flussdiagramms ließen sich die einzelnen Prozessschritte analysieren, die ein Siemens-Mitarbeiter an der Anlage ausführt: Er steigt über eine kleine Stufe auf einen Gitterrost, auf dem er beim Sandstrahlen stehen wird. Dann steckt er seine Hände durch zwei Löcher der gekapselten Strahlkabine hinein in dicke, schulterlange Gummihandschuhe, die fest mit der Kabine verbunden sind. Mit der einen Hand greift er die mehrere Kilo schwere Schaufel, mit der anderen Hand die Sandstrahldüse. Jetzt beginnt der eigentliche Prozess, den der Mitarbeiter durch ein Sichtfenster der Kabine sehen kann: Aus der Düse kommt mit Hochdruck der Sandstrahl. Diesen muss er in einem Winkel von exakt 30 Grad auf die Oberfläche der Turbinenschaufel richten, damit diese nach mehreren Minuten eine gleichmäßige Rauigkeit erhält.
Auf der Suche nach Verhaltensfallen stellten die Führungsverantwortlichen viele Fragen: Was verleitet die Mitarbeiter dazu, den Sandstrahlprozess zu schnell abzuschließen? Ist es das Stehen auf dem Gitterrost? Die Ablenkung durch vorbeigehende Kollegen? Liegt es am verschwommenen Blick durch die zerkratzte Scheibe oder an der wenig ergonomischen Handhabung von Schaufel und Hochdrucksandstrahler? Selbstkritisch diskutierten die Verantwortlichen auch darüber, wie sich der vorgegebene Winkel von 30 Grad zwischen gekrümmter Schaufel und Sandstrahl überhaupt einhalten lässt, wenn es keine optische Orientierung gibt.
Ganz bewusst bezogen sie bei diesen Überlegungen keine Mitarbeiter aus dem Sandstrahlprozess mit ein, sondern analysierten die Verhaltensfallen nur mit dem Management und Führungskräften, die nahe am Prozess agieren. Denn es ist grundsätzlich schwierig, eigene Verhaltensfallen zu reflektieren oder sich selbst zu nudgen. Zudem besteht die Gefahr, dass Mitarbeiter, die in die Überlegungen einbezogen werden, später unbewusst gegen den selbst geschaffenen Nudge anarbeiten.
Auf der Suche nach Lösungen nahmen die Führungskräfte eine Branche in den Blick, in der Nudgin von jeher stark genutzt wird: den Einzelhandel. So sind Böden in Shopping-Malls in der Regel hart, sofern Kunden dort schnell passieren sollen. Dort, wo sie verweilen und kaufen sollen, sind die Böden dagegen bewusst aus weicherem Material.
Diesen Nudge übertrug Siemens direkt auf die Sandstrahlanlage und montierte eine weiche Gummimatte auf den Gitterrost, damit das Stehen und Arbeiten dort angenehmer ist. Auch weitere Nudges ließen sich einfach und kostengünstig installieren: Ein einfacher Sichtschutz verhindert nun, dass die Mitarbeiter abgelenkt werden; die Sichtfenster spiegeln nicht mehr; und sobald die Strahlanlage in Betrieb ist, läuft eine große Uhr automatisch mit. Sie dient als Gegengewicht zum subjektiven Zeitempfinden – wie eine elektrische Zahnbürste, die durch Vibration anzeigt, wann die optimale Zeitdauer zum Putzen erreicht ist. Auch für die schwierige Aufgabe, einen exakten Winkel zwischen Schaufel und Sandstrahldüse einzuhalten, fand sich eine Nudge-Lösung: In jeder Strahlkabine hängt mittlerweile ein 30-Grad-Winkel aus Stahl, der die gewünschte Position visualisiert.
Der Erfolg der Nudges im Qualitätsmanagement war durchschlagend: Erste Messungen zeigten eine Verbesserung der Oberflächenrauigkeit von 50 Prozent; der Aufwand für Nacharbeiten sank deutlich. In den folgenden Monaten zeigte sich, dass die Verbesserungen nachhaltig wirkten. Das überzeugte selbst jene Manager, die Nudge-Management anfangs noch skeptisch belächelt hatten.
Auch ein zweiter Prozess ließ sich durch Nudges entscheidend verbessern. Dabei ging es um das Pulver zum keramischen Beschichten der Schaufeln. Dieses entmischt sich schnell, ähnlich wie bei einer Packung Müsli, in der sich durch rüttelnden Transport die gröberen Komponenten oben ablagern und die feineren nach unten rutschen. Ist das Pulver in der Schaufelfertigung nicht ausreichend durchmischt, werden erhebliche Nacharbeiten notwendig.
Zwar gibt es zum Durchmischen spezielle Maschinen, in denen die Pulverbehälter wie in einer Waschmaschine eingespannt und getaumelt werden können. Genau diesen Schritt ließen die Mitarbeiter jedoch oft instinktiv aus. Denn das Pulver sieht mit und ohne Durchmischung exakt gleich aus. Der nächste Prozessschritt – die Beschichtung – lässt sich zudem auch dann starten, wenn das Pulver nicht durchmischt wurde. Zusammen mit dem Zeitdruck, unter dem die Mitarbeiter stehen, führte das immer wieder dazu, dass Mitarbeiter das Durchmischen vergaßen.
Inzwischen animieren Sticker auf den Pulverbehältern zum Taumeln; aufgeklebte Fußspuren auf dem Hallenboden stellen eine Verbindung zwischen der Taumelanlage und dem vor- und nachgelagerten Prozess her. Seitdem hat sich die Prozesskonformität – also die Einhaltung der vorgegebenen Bearbeitungsschritte – um 90 Prozent erhöht.
Das Medizintechnikunternehmen B. Braun Melsungen aus der Nähe von Kassel vertraut auf Nudges, um die Produktivität von Meetings zu steigern. Mit beachtlichem Erfolg: "Wir haben durch Nudges unsere Meetingeffizienz um bis zu 100 Prozent gesteigert", berichtet Klaus Dieter Pannes, Senior Vice President für Operative Exzellenz und Strategie. Ein Beispiel: Zweimal im Monat findet im Bereich für intravenöse Systeme die große Abteilungsleiterkonferenz statt. Sie dauert einen ganzen Vormittag und lief noch vor Kurzem so ab wie Besprechungen auf der ganzen Welt: Ein Kollege spricht und präsentiert per Powerpoint; die übrigen Teilnehmer verschwinden derweil hinter ihren aufgeklappten Laptops.
Doch diese Zeiten sind vorbei. Die Teilnehmer drängen sich jetzt um Pinnwände voll bunter Moderationskarten, diskutieren, schauen sich in die Augen, hören einander zu. Wo früher Routine und Langeweile herrschten, ist jetzt Energie und Dynamik zu spüren. Was hat diese Veränderung bewirkt? "Im Grunde ganz einfache Maßnahmen", sagt Jürgen Stihl, Group Senior Vice President des Bereichs für intravenöse Systeme. "So simpel, dass es deshalb Zweifel gab, ob sie wirklich funktionieren können." Stühle raus, Tische raus, Beamer raus. Stattdessen Stehtische hinein, ringsum Pinnwände und eine große Stoppuhr. Heute versteckt sich niemand mehr hinter seinem Notebook. Powerpoint-Präsentationen umfassen statt 80 nur noch 8 Folien, und Projektvorträge sind spätestens nach 20 Minuten beendet.
Der Erfolg ist messbar: "Die Meetingdauer hat sich um 50 Prozent reduziert", berichtet Stihl. Durch die Fokussierung auf das Wesentliche sinke das Risiko, dass wichtige Informationen untergehen. "Die Vortragenden überlegen sich nun vor dem Meeting intensiver, welche Informationen wirklich relevant sind."
Weil sich Nudges oft schon mit geringem finanziellen Aufwand realisieren lassen, sind sie überall schnell umzusetzen. So gibt es den wohl schönsten Konferenzraum von B. Braun Melsungen praktisch kostenlos: Das Computersystem zeigt bei der Reservierung nicht nur Meetingräume wie "Indonesien" oder "Italien" an, sondern ermöglicht auch ein sogenanntes Walking-Meeting unter freiem Himmel. Die Teilnehmer – bewährt hat sich eine Zahl von zwei bis drei Personen – laufen dann diskutierend 30 oder 60 Minuten durch den Park oder die angrenzenden Wälder.
"Walking-Meetings sind gerade bei schwierigen oder kontroversen Themen sehr hilfreich", weiß Klaus Dieter Pannes aus Erfahrung. Es entspreche der menschlichen Natur, in schwierigen Situationen aufzuspringen und auf und ab zu gehen, anstatt ruhig sitzen zu bleiben. Die bessere Durchblutung des Gehirns und der Perspektivwechsel trügen zur Problemlösung bei. "Außerdem ist man gezwungen, den Weg auch zusammen zurückzugehen."
Der Technologiekonzern Bosch setzt Nudging ein, um die Qualität von Personalentscheidungen zu verbessern. "Wir haben uns intensiv damit beschäftigt, wie Menschen ihr Verhalten ändern können", sagt Heidi Stock, Vice President Talent Acquisition und Diversity bei Bosch. "Klassische Ansätze wie Seminare sind wichtig, um ein Bewusstsein für die Thematik herzustellen, haben aber nur eine begrenzte Wirkung auf das Verhalten."
Weil Menschen 95 Prozent der auf sie einprasselnden Informationen instinktiv verarbeiten und nicht rational, lässt sich die Entscheidungsfindung allein mit Trainings kaum verbessern. Daher setzt Bosch bei Personalentscheidungen gern auf Nudge-Management. So untersuchte eine Projektgruppe, an welchen Stellen im Besetzungsprozess die Gefahr vorschneller Urteile besonders groß ist und welche Nudges helfen können. Sie identifizierte drei Schlüsselmomente: 1. wenn Personalverantwortliche den idealen Kandidaten skizzieren; 2. wenn sie die Lebensläufe der Bewerber beurteilen und 3. wenn sie die ersten Fragen im Vorstellungsgespräch stellen.
Um solche Verhaltensfallen künftig zu vermeiden, bekommen Führungskräfte bei Bosch eine Checkliste für den Besetzungsprozess an die Hand. Diese "stupst" den Manager beispielsweise an, weniger nach einem Klon des bisherigen Stelleninhabers zu suchen und den Fokus stärker auf die wirklich benötigten Kompetenzen zu legen. So fällt die Beurteilung der Kandidaten objektiver aus. Ihr Aussehen und die damit unbewusst assoziierten Eigenschaften ("Halo-Effekt") beeinflussen die Personalentscheidung weniger stark; auch ihre Namen und die mit ihrer vermeintlichen Herkunft verbundenen Stereotype verlieren an Relevanz.
Weil es wissenschaftlich belegt ist, dass Menschen am Vormittag wesentlich rationalere Entscheidungen treffen als nachmittags, legt das Unternehmen zudem wichtige Personalentscheidungen gezielt in die erste Tageshälfte. "Führungskräfte haben jeden Tag viele wichtige Entscheidungen zu treffen", sagt Heidi Stock. "Das verlangt Hochleistungen vom menschlichen Gehirn und wirkt sehr ermüdend." Gleichzeitig nehme der Anteil unbewussten Denkens an der Entscheidungsfindung zu, je weiter der Tag voranschreite. Dies könne Personalentscheidungen stark beeinflussen: Wer wird eingestellt, als Projektleiter ausgewählt oder befördert? Später am Tag entscheiden sich Chefs mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für Kandidaten, die ihnen ähnlich sind ("Mini-me Bias"), die also beispielsweise an der gleichen Universität studiert haben, das gleiche Geschlecht oder Hobby haben.
Welche Auswirkungen die Maßnahmen tatsächlich auf die Recruitingqualität haben, lässt sich nach so kurzer Beobachtungsdauer noch nicht sagen. Anders als im Qualitätsmanagement bei Siemens oder in den Meetings bei B. Braun Melsungen, wo es in kurzer Zeit viele Wiederholungen gibt, ist hier noch nicht genug Zeit vergangen, um einen Effekt belastbar zu messen.
Doch bei Bosch ist man von der positiven Wirkung überzeugt. Die nächsten Nudges seien schon in Arbeit, kündigt Recruitingchefin Stock an: "Wir beschäftigen uns gerade mit einer neuen Software, die den Führungskräften einen personalisierten Interviewfragebogen auf Basis des definierten Wunschkandidaten zur Verfügung stellt." So will Bosch vermeiden, dass Führungskräfte wegen unpräziser Fragen im Interview die falschen Kandidaten einstellen.
Die Führungskräfte bei Siemens, B. Braun und Bosch haben erlebt, wie Nudges in kurzer Zeit bei ihren Mitarbeitern eine Verhaltensänderung bewirken. Was können andere Manager tun, um ebenfalls vom Nudge-Management zu profitieren?
Jahrzehntelang wurde an Universitäten das Bild vom Homo oeconomicus vermittelt, der angeblich jederzeit rational handelt und nach Maximierung seines Grenznutzens strebt. Auf dieser Vorstellung bauen viele akribisch geplante Ziel- und Bonussysteme auf. Den Führungsstil hat die aktuelle Managergeneration von ihren Vorgesetzten gelernt.
Mittlerweile gilt das Modell des Homo oeconomicus jedoch als veraltet und allzu theoretisch. Menschen handeln in vielen Situationen rational, in vielen aber auch nicht. Wieso sonst geben sie in einem Restaurant im Ausland ein großzügiges Trinkgeld? Da sie das Lokal vermutlich nie mehr betreten werden, bringt ihr Handeln ihnen in Zukunft keine Nutzenmaximierung. Je besser Führungskräfte also verstehen, warum ihre Mitarbeiter mitunter nicht rational handeln, desto eher können sie ihr eigenes Fehlverhalten und das ihrer Beschäftigten minimieren. Mit einem grundlegenden Verständnis für die Kraft der Instinkte läuten sie einen Paradigmenwechsel ein, der ihnen und ihren Unternehmen Wettbewerbsvorteile verschafft.
Vier Arten von Nudges unterstützen Manager dabei, das unbewusste Denken und Handeln ihrer Mitarbeiter in unternehmerisch sinnvolle Bahnen zu lenken. Bei den Selbst-Nudges_geht es darum, sein eigenes unbewusstes Denken zu überlisten – beispielsweise indem sie in ihrem Mailsystem einen "stillen" Posteingang einrichten, der bei neuen Nachrichten weder optische noch akustische Signale sendet. So lassen sich mögliche Quellen der Ablenkung bewusst ausschalten. Führungs-Nudges_betreffen das Führungsverhalten von Managern. So ist es erwiesen, dass sie vormittags bessere Entscheidungen treffen als am Nachmittag. Wichtige Entscheidungen sollten deshalb wie im Recruitingprozess bei Bosch vorzugsweise zwischen 8 und 11 Uhr fallen, wenn das Gehirn noch frisch ist. Bei den Umgebungs-Nudges_liegt der Fokus auf der Gestaltung des physischen Arbeitsplatzes. Dazu gehört auch, wie bei B. Braun Melsungen, die Konferenzraumzone. So fördern offene Arbeitscafés die bereichsübergreifende Zusammenarbeit, während Stillarbeitszonen mit Zitrusduft ein konzentriertes Arbeiten erleichtern. Prozess-Nudges_wiederum unterstützen das Einhalten von standardisierten Arbeitsabläufen, wie wir es am Beispiel Siemens gesehen haben: Gummimatten, Uhren, aufgeklebte Fußspuren. So lässt sich eine moderne Arbeitsatmosphäre schaffen, die Effektivität, Effizienz und nicht zuletzt die Motivation der Mitarbeiter steigert.
Wer das unbewusste Denken und Handeln seiner Mitarbeiter optimieren möchte, muss sich darüber im Klaren sein, dass er am Nervensystem des Unternehmens operiert. Bereits kleine Eingriffe können das Verhalten der Beschäftigten stark beeinflussen. Daher ist ein gezieltes, systematisches Vorgehen wichtig.
Bewährt haben sich die folgenden vier Schritte: Zunächst sollte das Management sein Ziel festlegen: Welches Verhalten wollen wir überhaupt verbessern? Woran würden wir den Zielzustand erkennen? Mit welchen Kenngrößen könnten wir den Fortschritt messen? Im zweiten Schritt müssen Führungskräfte genau beobachten, in welche Verhaltensfallen ihre Mitarbeiter tappen – zum Beispiel indem sie deren E-Mail-Verhalten oder den Ablauf von Meetings analysieren. Die dazu passenden Nudges wählen Führungskräfte im dritten Schritt aus und führen sie im Unternehmen ein. Und schließlich messen sie die Verbesserungen mit den zu Beginn definierten Kennzahlen.
Nudge-Management ist ein wichtiger Führungsansatz für moderne Unternehmen. Es bietet die Chance, das unbewusste Denken und Handeln der Mitarbeiter zu steuern und auf diesem Weg Effizienz und Effektivität im Unternehmen zu steigern. Gleichzeitig schafft es eine innovative Arbeitsatmosphäre, in der sich Menschen wohlfühlen und motiviert sind. Nudges erfordern nur einen geringen Aufwand und genießen zudem hohe Akzeptanz bei den Mitarbeitern – schließlich wird niemand zur Veränderung gezwungen.
© HBM 2020
Die Autoren
Wolfgang Freibichler ist Partner bei der Managementberatung Porsche Consulting und Experte für New Work. Er hat zahlreiche Unternehmen bei der Einführung von Nudge-Management unterstützt. Michael Gropp leitet bei Siemens das globale Qualitätsmanagement für die Fertigung und Beschaffung von Heißgasteilen. Seit 2018 arbeitet er zusammen mit Wolfgang Freibichler an der Einführung von Nudging im Qualitätsmanagement von Siemens.
