Arbeit frisst Privatleben? Wie Du eine verdauliche Balance herstellst, die Sinn stiftet und bezahlt wird!
Work-Life-Harmonie statt Work-Life-Balance: Welche Maßnahmen gegen die Entgrenzung von Beruf und Alltag helfen, warum man eine Trennung von beidem nicht erzwingen kann und wie man dennoch den individuellen Weg zur Ausgeglichenheit findet.
Burn-out! Die Angstdiagnose für jeden Mitarbeiter. Eine Diagnose, die noch viel zu oft für persönliches Versagen im Job steht. Immer wieder kommt es zu Fällen, bei denen Mitarbeiter dem Leistungsdruck auf der Arbeit nicht standhalten können, persönliche Grenzen überschreiten und sich als Konsequenz dieser psychologischen Erkrankung ausgesetzt sehen. Allen Signalen zum Trotz werden Überstunden angehäuft, es wird auch im Urlaub gearbeitet oder gänzlich auf diesen verzichtet, obwohl längst klar ist: Zu viel Arbeit macht krank.
Leider ist Burn-out keine Seltenheit mehr. Im Gegenteil: Bis vor wenigen Jahren als „Modeerkrankung“ für die Schwachen der Gesellschaft denunziert, hat sich die Zahl der inzwischen anerkannten psychologischen Erkrankung laut einer DAK Umfrage seit 2006 nahezu verzwanzigfacht. In Japan gibt es sogar ein Wort für den Tod durch Überarbeitung: Karoshi. Doch wie konnte es so weit kommen? Das Arbeiten ist heute doch sicherer und menschengerechter als je zuvor. Für den allgemeinen und sozialen Arbeitsschutz treten Gesetze, Organe und Gewerkschaften ein, und dennoch scheinen wir vermehrt unter unserer Arbeit zu leiden. Und wofür das Ganze?
Wir scheinen Jobs zu machen, die wir hassen, um Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen, mit Geld, das wir nicht haben, um Menschen zu imponieren, die wir nicht mögen.Tyler Durden, „Fight Club“
Das Zitat aus dem Film „Fight Club“ beschreibt das Problem sehr treffend: Oftmals wird die Arbeit und der damit einhergehende Status und Konsum zum Ersatz für soziale Beziehungen, Familie oder die eigene Sinnessuche. Die Gefahr der Überarbeitung besteht heute mehr denn je, da viele Mitarbeitende aufgrund der zunehmenden Vernetzung ständig mit der Arbeit verbunden sind. Selbst im Urlaub, so das Ergebnis einer Erhebung von YouGov im Auftrag des Technologieunternehmens Slack, ist mehr als jeder dritte deutsche Büroarbeitende für den Job erreichbar.
Die Folgen von „Work-Life-Blending“
Diese zunehmende Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, die auch als „Work-Life-Blending“ bezeichnet wird, wird von einigen Unternehmen aktiv gefördert. Dazu gehören insbesondere die oftmals als „Top-Arbeitgeber“ ausgezeichneten US-Technologieunternehmen des Silicon Valleys, aber auch Unternehmen wie Adidas in Deutschland. Auf dem „Campus“ dieser Unternehmen findet das Frühstück mit den Kollegen statt, in der Mittagspause wird Sport gemacht, um nach getaner Arbeit auch den Feierabend mit den Kollegen am Kickertisch oder an der unternehmenseigenen Bar verbringen zu können. Diese Traumarbeitgeber positionieren sich mit gratis Essen und Getränken, Sportplatz, Swimming-Pool, Fitnessbereichen, modernsten Büros, Kindertagesstätten, Arztpraxen und sogar Übernachtungsmöglichkeiten.
Aber Achtung: Gerade in einer solchen „Rundumbetreuung“ muss ein Mitarbeiter die Arbeit nie mehr verlassen. Das kann im Extremfall dazu führen, dass die Mitarbeiter systematisch aus ihren alten Freundes- und Familienkreisen ausgegrenzt werden. Die zusätzliche Entwicklung von Ritualen und einer eigenen Firmensprache festigen das Bild einer großen Familie. Und wenn die Arbeit zur Familie wird, wofür braucht man dann eigentlich noch eine Familie zu Hause? Mitarbeitende bewegen sich im Extremfall nur noch in ihrer Arbeitsglocke, werden eindimensional, weil sie sich nur noch mit ähnlichen Menschen treffen, und gewöhnen sich daran, dass für sie gesorgt wird, ohne sich selbst zu viele Gedanken machen zu müssen. Im Buch „The Circle“ beschreibt der Autor Dave Eggers dieses Phänomen anhand eines fiktiven Unternehmens in der Zukunft:
Das hier soll ein Ort der Arbeit sein, klar, aber es sollte auch ein Ort der Menschlichkeit sein. Und das bedeutet die Förderung von Gemeinschaft. Besser gesagt, es muss eine Gemeinschaft, eine Community, sein. Das ist einer unserer Slogans, wie du wahrscheinlich weißt: Community first.Dave Eggers
Dieser Slogan klingt wie in einem modernen Unternehmen der Gegenwart – doch der Rest des Buches zeigt, wohin diese Entgrenzung im Extremfall führen kann. Die Arbeit frisst sich allmählich in die Privatsphäre, bis letztendlich das gesamte Privatleben von der Arbeit eingenommen wird. Das besonders Paradoxe dabei ist, dass Mitarbeitende sich oft selbst die Schuld dafür geben, wenn sie in diesem Umfeld überfordert werden. Schließlich tut der Arbeitgeber ja augenscheinlich alles dafür, dass es den Mitarbeitenden gut geht. Arbeitnehmende und Arbeitgebende sollten hier gleichermaßen aufmerksam sein und frühzeitig Grenzen setzen.
Work-Life-Balance statt Work-Life-Blending
Es ist wenig verwunderlich, dass die Forderungen nach einer gesunden Work-Life-Balance mit klarer Trennung von Arbeits- und Privatleben immer lauter werden. Dabei ist Work-Life-Balance für viele nicht nur eine romantische Vision des Arbeitslebens, sondern der Kern für eine nachhaltige Karriere, wie Brian Dyson, ehemaliger COO von Coca-Cola, bemerkt:
Stellen Sie sich vor, das Leben sei die Kunst des Jonglierens mit fünf Bällen: Arbeit, Familie, Gesundheit, Freundschaft und Spiritualität müssen in der Luft gehalten werden. Schnell werden Sie verstehen, dass die Arbeit ein Gummiball ist. Wenn Sie ihn fallen lassen, springt er wieder hoch. Aber die anderen bestehen aus Glas! Wenn einer davon herunterfallen sollte, wird er zerkratzt, angebrochen, beschädigt oder sogar komplett zerbrochen. Daran müssen Sie denken, wenn Sie Ihr Leben balancieren.Brian Dyson
Die Beschäftigung mit der Work-Life-Balance ist zunächst nichts Neues, sondern seit der Industrialisierung gang und gäbe. Frei nach dem Motto „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ hatten Arbeiter schon damals eine klar vereinbarte Anwesenheitszeit und konnten danach tun, was sie wollten. Das gleiche System hat sich auch in den Büros dieser Welt durchgesetzt, in denen die Stechuhr Anfang und Ende der Arbeit bestimm(t)en. Gibt es die Lösung aller Probleme also eigentlich schon seit über 100 Jahren?
Zwar kann ein Zwang zur Trennung von Arbeit und Leben durchaus für eine gesündere Work-Life-Balance sorgen. Doch es bleibt die Frage, ob eine solch „erzwungene“ Trennung von Arbeit und Leben den Anforderungen der neuen Arbeitswelt tatsächlich gerecht wird. Könnte es in wissensbasierten und kreativen Tätigkeiten nicht sinnvoller sein, eine flexiblere Trennung zwischen Arbeit und Freizeit anzustreben, die dem selbstbestimmten Mitarbeitenden überlassen bleibt? Denn vielleicht möchte dieser ja lieber einmal länger Urlaub machen, oder an einem Tag zehn Stunden arbeiten und am nächsten gar nicht, statt jeden Tag fünf Stunden. Außerdem hat er vielleicht nicht so klar planbare Aufgaben, dass diese jeweils in eine statisch getrennte Work-Life- Struktur passen.
Zunehmend agieren Unternehmen bereits mit flexibleren Work-Life-Balance-Konzepten. Unbegrenzte Urlaubstage, Vertrauensarbeitszeit oder der Wegfall der Anwesenheitspflicht sind keine Seltenheit mehr. Doch funktionieren auch diese eben nur dann, wenn der Mitarbeitende es schafft, sich Grenzen zu setzen, um sich im enthemmten Work-Life-Blending nicht selbst zu verlieren.
Halten wir fest: Die klassische Work-Life-Balance, also die strikte Trennung von Arbeit und Leben, tritt aufgrund neuer Kommunikationstechnologien und sich verändernder Unternehmens- und Mitarbeiterbedürfnisse immer stärker in den Hintergrund. An ihre Stelle treten die flexible Trennung von Arbeit und Leben – bis hin zum Work-Life-Blending, bei dem die Grenzen sich vollständig aufgelöst haben. Dies entspricht zwar zunächst vermeintlich moderner Arbeit, macht jedoch auch vermehrt krank. Steuern wir also zunehmend in eine Sackgasse?
Sinngebung
Nicht unbedingt. Denn es existiert durchaus ein Weg, um Work-Life-Blending positiv zu gestalten. Und dieser Weg heißt: Sinngebung! So finden beispielweise Ärzte oftmals einen übergreifenden Sinn in ihrer Arbeit mit den Patienten. In der Konsequenz leidet diese Berufsgruppe, laut einer Studie des Marburger Bundes (MB) Bayern, nicht stärker unter klinisch relevanten, psychisch depressiven Symptomen als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung – und dies, obwohl sie dafür prädestiniert wäre: Ärzte schlafen statistisch gesehen überdurchschnittlich schlecht, können nach Feierabend kaum abschalten und geraten oft in Stresssituationen mit hoher emotionaler Belastung.
Auch in nicht sozialen Berufen können Menschen Sinn in ihrer Arbeit finden. So zum Beispiel die Mitarbeiter eines Unternehmens wie Patagonia. Mit der Verpflichtung, 1 Prozent des Unternehmensgewinns für den Schutz und die Erhaltung der Umwelt zu spenden und den Fokus auf eine nachhaltige Welt und zufriedene Mitarbeiter zu richten, wird den Mitarbeitenden ein übergreifender Sinn in der Arbeit gestiftet. Ideale wie dieses können Menschen zu Höchstleistungen bewegen, ohne dass sie dabei ausbrennen, wenngleich hier natürlich eine große Verantwortung beim Arbeitgeber liegt, ein solches Szenario nicht auf Kosten der Mitarbeiter auszunutzen.
Der individuelle Weg zur Work-Life-Harmonie
Natürlich ist es inspirierend, einen Blick auf weltverbessernde Unternehmen zu werfen, in denen sinnvolle Arbeit und somit positives Life-Work-Blending potenziell einfach(er) möglich ist. Aber was ist, wenn ich nicht das Glück habe, in einem Konzern zu arbeiten, der so augenscheinlich Positives schafft? Die Auseinandersetzung mit dieser Frage führt zu einer Lösung, die in den folgenden Worten von Fritjof Bergmann, dem Begründer des Begriffes „New Work“, Ausdruck findet und theoretisch bei jedem arbeitenden Menschen zur Anwendung kommen kann:
Nicht wir sollten der Arbeit dienen, sondern die Arbeit sollte uns dienen. Die Arbeit, die wir leisten, sollte nicht all unsere Kräfte aufzehren und uns erschöpfen. Sie sollte uns stattdessen mehr Kraft und Energie verleihen, sie sollte uns bei unserer Entwicklung unterstützen, lebendigere, vollständigere, stärkere Menschen zu werden.Fritjof Bergmann
Paradoxerweise verschmelzen in diesem Szenario also Leben und Arbeit noch weiter, jedoch nicht unbedingt zeitlich, sondern eher „innerlich“. Bergmann sieht als wichtigen Bestandteil dieser Lösung, dass der Alltag mit einer Arbeit gefüllt wird, zu der man sich persönlich berufen fühlt und die man „wirklich, wirklich machen will“. Denn auf diese Weise unterstützt die Arbeit automatisch die Selbsterfüllung im Leben.
Leben und Arbeit werden harmonisch vereint, es entsteht eine Work-Life-Harmonie. Wie beim Work-Life-Blending verschwimmen zwar auch hier die Grenzen, jedoch nicht zu Ungunsten der einen oder anderen Seite. Vielmehr unterstützen und verstärken sich beide Seiten gegenseitig. Die Herausforderung besteht nun darin, eine Tätigkeit zu finden, die diesem Anspruch tatsächlich gerecht wird. Dafür gibt es unterschiedliche Wege.
Die Bedeutung von Ikigai
In Japan gibt es ein Konzept, das sich mit der individuellen Suche nach dem Lebenssinn beschäftigt. Es nennt sich „Ikigai“ und beschreibt vier relevante Dimensionen, die miteinander in Einklang zu bringen sind.
Es gilt, etwas zu finden, dass man liebt, von der Welt gebraucht wird, man gut kann und das bezahlt wird. Nur wenn alle vier Punkte erfüllt sind, wird die persönliche Berufung entdeckt, und es entsteht das Gefühl der „Lebensinbrunst“. Werden beispielsweise nur die ersten drei Punkte erfüllt, gibt es zwar einen Lebensinhalt, der erfüllt und glücklich macht; dieser bietet jedoch nicht die nötige finanzielle Sicherheit. Andersherum: Wären also die letzten drei Punkte erfüllt, verfügte das Individuum zwar über ein komfortables Leben, hätte jedoch eine innere Leere ohne Leidenschaft für das Tun.
In einer groß angelegten Studie, bei der über 3000 Todesfälle untersucht wurden, stellte sich heraus, dass Ikigai nicht nur einen positiven Einfluss auf die psychologische, sondern auch auf die physische Gesundheit hat. Probanden, die in ihrem Leben ihr Ikigai nicht fanden, hatten eine signifikant höhere Mortalität als Menschen, die nach dem Konzept des Ikigais Leben konnten.
Die Vision von Stewart D. Friedman
Eine ähnliche Ansicht vertritt auch der US-amerikanische Professor der Wharton School of Business der Universität von Pennsylvania, Stewart D. Friedman, der dort das Work-Life-Integration Project leitet. Nach nunmehr 30 Jahren Forschung und Tausenden von Interviews kam er zu dem Ergebnis, dass Personen, die ihre einzigartige Gabe und Leidenschaft identifizieren und nutzen können, auch diejenigen Personen sind, die zufriedenere und erfolgreichere Leben führen. Der Weg dorthin führt, laut Friedman, über eine bewusste Integration von Arbeit und Privatleben. Dazu müssen die folgenden vier Domänen erfolgreich vereint werden: Arbeit/Schule, Zuhause/Familie, Netzwerk/Gesellschaft und das „Ich“ mit der Privatsphäre des Körpers und Geistes.
Nur wenn alle diese Lebensbereiche als Ganzes betrachtet und miteinander in Einklang gebracht werden, kann ein so genanntes „Vier gewinnt“ entstehen. Und von diesem profitieren wiederum alle Bereiche im Einzelnen. In seinem Buch „Leading the Life You Want: Skills for Integrating Work and Life“ beschreibt er anhand von drei Kernaussagen, wie diese harmonische Integration der verschiedenen Lebensbereiche erreicht werden kann:
Sei echt: Handle mit Authentizität, abhängig von dem, was dir am wichtigsten ist.
Sei vollständig: Handle mit Integrität, als Ganzes.
Sei innovativ: Handle mit Kreativität durch kontinuierliches Experimentieren.
Keine One-Size-fits-all-Lösung
Auch wenn das Handeln nach ebendiesen Kernaussagen, genauso wie die Suche nach dem Ikigai, in der persönlichen Verantwortung jedes Einzelnen (Mitarbeitenden) liegt, können auch Unternehmen einen relevanten Beitrag zur stärkeren Harmonisierung von Lebenszielen und Arbeit leisten. Denn Mitarbeitende können letztlich nur so echt, vollständig und innovativ handeln, wie das spezifische Unternehmen dies auch zulässt. Und dies schließt auch ein, möglichst individuell auf deren Bedürfnisse einzugehen – auch außerhalb der Grenzen der Arbeit.
In der Konsequenz gibt es auch kein Besser oder Schlechter. Work-Life-Harmonie mag zwar das aktuell am meisten Erfolg versprechende Konzept sein, auch dieses kann und sollte aber nicht zum allgemein gültigen Dogma werden. Denn je nach Lebenssituation, persönlichen Bedürfnissen und Lebensentwurf kann auch eine strikte Trennung von Arbeit und Leben durchaus wünschenswert sein. So wird es Menschen geben, die ihre Tätigkeit als bloße Erwerbsarbeit sehen, und die entweder nach getaner Arbeit keinen Gedanken mehr an diese verlieren möchten, einfach Abstand brauchen oder sich durch die Arbeit eine andere erfüllende Tätigkeit finanzieren. Der Trend zur Flexibilisierung hingegen wird fortbestehen und sich weiter verstärken, sodass eine vermehrte Entgrenzung von Arbeits- und Privatleben entsteht. Wenn dies der Fall ist, können die Konzepte zu einer stärkeren Harmonisierung von Arbeit und Leben dabei helfen, dass ebendiese Entgrenzung schlussendlich einen positiven Effekt auf Mitarbeiter und Unternehmen hat.
Studien wie die des „Harvard Business Review“ zeigen bereits, dass glückliche Mitarbeitende im Durchschnitt 31 Prozent produktiver sind und eine dreifach höhere Kreativität aufweisen. Wenn es also gelingt, den Mitarbeitenden ein erfüllteres und glücklicheres Leben zu ermöglichen, trägt dies in der Regel auch zu einem nachhaltigeren Unternehmenserfolg bei. Gleichzeitig steigt laut Roman Herzog Institut die Chance auf eine höhere Lebenszufriedenheit um ganze 22 Prozent, wenn die eigene Arbeitszufriedenheit um nur einen Prozentpunkt zunimmt.
Die Investition in die individuelle Work-Life-Balance ist somit ein wertvoller Schlüssel zu einem erfüllten Leben und schafft eine lohnende Win-win-Situation für alle Beteiligten.