Arbeitszeit rauf? Arbeitszeit runter? Oder einfach anders Arbeiten?
Was sollen wir tun?
Die Frage, wie die Arbeit der Zukunft aussieht, bewegt derzeit die Gemüter. Im Kern geht es dabei auch um die Arbeitszeit. Konkret: Sollen wir in Deutschland wieder länger arbeiten, inklusive Verschiebung des Renteneintrittsalters nach oben, oder deutlich kürzer? Oder geht es am Ende nur um ein anderes Arbeiten, ohne die zeitliche Komponente in den Vordergrund zu stellen?
Ein paar Gedankenimpulse
Demografische Entwicklung massiv unterschätzt
Deutschland steckt im Dauerkrisenmodus. Mittendrin der Megatrend der demografischen Entwicklung, der sich schon heute in vielen Branchen als gefühlter Fachkräftemangel widerspiegelt. Allerdings sind sich die meisten einig: Wir stehen volkswirtschaftlich erst am Anfang einer viel größeren negativen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt.
Das Statistische Bundesamt schreibt dazu in seiner Bevölkerungsschätzung: Im Jahr 2018 waren in Deutschland 51,8 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 66 Jahren. Bis zum Jahr 2035 wird die erwerbsfähige Bevölkerung um rund 4 bis 6 Millionen auf 45,8 bis 47,4 Millionen schrumpfen. Anschließend wird sie sich zunächst stabilisieren und danach bis zum Jahr 2060 je nach der Höhe der Nettozuwanderung auf 40 bis 46 Millionen sinken. Ohne Nettozuwanderung würde sich die Bevölkerung im Erwerbsalter bereits bis 2035 um rund 9 Millionen Menschen verringern.
Zuwanderung allein wird das Problem nicht lösen
Die Politik geht derweil genau den in der Schätzung der Bevölkerungsvorausberechnung bezeichneten Weg. Einerseits soll das Erwerbspersonen-Potenzial durch Zuwanderung vergrößert werden. Die Diskussionen rund um die beschleunigten Verfahren zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft zeigen allerdings, dass dem Vorhaben zahlreiche Missverständnisse zugrunde liegen.
Einerseits wird eine Erwerbstätigkeit an das Vorliegen einer deutschen Staatsbürgerschaft geknüpft. Andererseits wird so getan, als ob die Staatsbürgerschaft das Problem nachhaltig lösen könnte. Die ebenfalls wichtigen Themen, wie zum Beispiel die tatsächliche Integration der Menschen in den deutschen Arbeitsmarkt und passende Rahmenbedingungen für den Einsatz ausländischer Menschen im deutschen Mittelstand, werden vermutlich unterschätzt.
„Wir müssen die Arbeitszeit verlängern!“
Immerhin ist der Politik bewusst, dass Zuwanderung allein die Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht vollkommen lösen, bestenfalls eine Zeitlang lindern wird. Daher rückt zunehmend (wieder mal) die Frage nach der Arbeitszeit in den Fokus. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen mit Blick auf eine Erhöhung des Renteneintrittsalters (Verlängerung der Erwerbstätigkeit). Zum anderen durch die Anpassung der wöchentlichen Arbeitszeit zur (vermeintlichen) Steigerung der Produktivität. Ich schreibe hier bewusst „vermeintlich“, da vieles aus meiner Sicht rein theoretische Rechnereien sind, die sich erst noch an der Realität werden messen lassen müssen.
Politik, Wirtschaft und Beschäftigte uneins
Deutsche Wirtschaftswissenschaftler sprechen sich immer wieder für längere Arbeitszeiten aus. Anders sei die Mehrbelastung der Beitragszahler nicht zu finanzieren, wurden Forscher des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im Focus zitiert.
In gleichem Maße hatte der Vorschlag von BDI-Präsident Siegfried Russwurm, die Wochenarbeitszeiten in Deutschland auf 42 Stunden auszuweiten, eine kontroverse Debatte ausgelöst. Die Leser:innen der Seite RedaktionsNetzwerk Deutschland versammeln sich jedenfalls hinter einem eindeutigen ablehnenden Stimmungsbild und sprachen sich mit 89% gegen eine Arbeitszeiterhöhung aus.
Längere Arbeitszeiten und Mitarbeitergesundheit
Nehmen wir mal die generelle Unlust vieler Beschäftigter auf eine allgemein längere Wochenarbeitszeit aus der ohnehin schon maximal emotionalen Debatte heraus und schauen stattdessen auf die Faktenlage.
Denn dort verzeichnen wir aktuell einen rapiden Anstieg von Stress und Überlastung am Arbeitsplatz. Die Zahlen mentaler Erkrankungen durch Burn-out, Dauerstress und Druck steigen kontinuierlich an. Dies zeigt der DAK-Report eindrücklich, der beim Anstieg der Krankheitstage aufgrund psychischer Belastungen eine Steigerung von 41% ausweist.
Auch wenn sicherlich ein Teil dieser Entwicklung mit der privat angespannten Situation während der Coronapandemie sowie der folgenden Multikrisen zusammenhängt – in dieser Situation die Arbeitszeit noch weiter nach oben zu schrauben dürfte die Situation eher weiter verschlechtern.
Der Wunsch nach mehr Work-Life-Balance
Hinzu kommen allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen, bei denen immer stärker der Wunsch nach einer möglichst hohen Work-Life-Balance geäußert wird. Zumeist werden sie mit den künstlichen Konstrukten der Generationen Y und Z in Zusammenhang gebracht. Aber letztlich dürfte das Bedürfnis in allen Altersgruppen wichtiger werden.
Dabei spielt es auch keine Rolle, dass sich über die gestiegene digitale Verfügbarkeit die Work-Life-Balance immer mehr in Richtung Work-Life-Blendung verschiebt. Überarbeiten möchte sich heute niemand mehr.
Aber sind deshalb auch alle gleich „leistungsfaul“, wie man insbesondere im Zusammenhang mit der „Generation Z“ häufiger liest? Sagen wir mal so: Ist der grundsätzliche Gedanke, weniger Arbeiten zu wollen und trotzdem ein erfülltes und gutes Leben führen zu können, per se so verwerflich?
Und abseits von New-Work-Romantik gibt es eine Reihe von Beispielen in der Praxis, wo eine Arbeitszeitreduzierung genau dies ermöglicht hat.
Verschiedene Konzepte zur Arbeitszeitverkürzung
Arbeitszeitverdichtung auf vier Tage
Für das Schaffen von mehr Work-Life-Balance gibt es ebenfalls zahlreiche, sehr unterschiedliche Ansätze. Zum einen wurde in einigen Ländern eine Verdichtung der Arbeitszeit auf vier Tage pro Woche verprobt, ohne die wöchentliche Gesamtarbeitszeit zu reduzieren. Dies schafft rein rechnerisch zumindest einen Tag Raum für eigenen Gestaltung und bestenfalls Erholung. Es bedeutet jedoch genauso, dass an den übrigen Tagen länger gearbeitet werden muss. Spannend wird es zu sehen, wohin Vorstöße führen, die 10-Stunden Höchstarbeitsgrenze pro Tag flexibler zu gestalten.
Das Problem dabei liegt weniger an der Arbeitszeit an sich. Vielmehr ist das Konzept tückisch, weil Arbeitszeit leider nicht gleichgesetzt werden kann mit Produktivzeiten.
Nur weil Menschen länger „bei der Arbeit sind“, heißt das noch lange nicht, dass in gleichem Maße auch mehr geleistet wird oder gar die Produktivität steigt.
Hinzu kommt, dass in Zeiten von mobiler Arbeit und Homeoffice die Arbeitszeitaufschreibung mangels alternativer Lösungen häufig auf Vertrauensbasis erfolgt. Wobei auch klar ist, dass es keinen Unterschied macht, wenn Menschen stattdessen durch lange Anwesenheiten im Büro das Phänomen der Arbeitsillusion bedienen.
Echte Arbeitszeitreduktion bei vollem Lohnausgleich
Eine echte Arbeitszeitreduktion erfolgt erst dann, wenn unabhängig von der Anzahl der Tage, an denen gearbeitet wird, die wöchentliche Gesamtarbeitszeit sinkt. So gibt es hier bereits schon zahlreiche spannende Praxisbeispiele.
Die Steuerkanzlei von Erich Erichsen beispielsweise hat sich für einen recht radikalen Wechsel auf eine 25-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich entschieden. Das Gehalt der Teilzeitkräfte wurde entsprechend deutlich aufgestockt. Dafür gibt es aber aber einen hohen Druck in Richtung Effizienz und sogenannte „Stillarbeitszeiten“, bei denen der soziale Austausch (das Gespräch an der Kaffeemaschine) bewusst eingeschränkt wird.
In der Podcast-Folge Klartext HR #09 erzählt der Steuerberater von der Umstellung.
Eine andere Steuerkanzlei hat mir unlängst auf einer von mir moderierten Veranstaltung von der Einführung einer 34-Stunden-Woche erzählt. Ebenfalls bei vollem Gehaltsausgleich. Durch massive Effizienzgewinne bei den Prozessen konnte die Produktivität dabei nicht nur gehalten werden. Die 15-%ige Arbeitszeitreduzierung führte sogar zu einer Überkompensation und freien Zusatzkapazitäten. Darüber stieg die hohe Mitarbeiterzufriedenheit weiter an, unter anderem da die Belegschaft aktiv in die Umstellung eingebunden wurde. Vorteile im Bereich Employer-Branding und Personalmarketing sind bei dieser Betrachtung noch gar nicht berücksichtigt.
Auch und vor allem im Handwerk scheint die 4-Tage-Woche hohes Potenzial zu haben, insbesondere was die Überwindung des massiven Fachkräftemangels angeht. Buchautor und Speaker Martin Gaedt hat Hunderte positive Beispiele dafür parat.
4-Tage-Woche höchst umstritten
Aufhorchen ließ das Ergebnis eines internationalen Pilotprojekts zur Einführung der 4-Tage-Woche. Laut n-tv beteiligten sich Forscher aus Boston, Cambridge und Dublin sowie mehr als 30 Unternehmen mit insgesamt gut 900 Mitarbeitern – vorwiegend aus Irland und den USA. Darunter waren IT-Unternehmen, Gastronomie, Unternehmensberatungen sowie Bauunternehmen.
Den Studienleitern zufolge brachte die Arbeitszeitverkürzung übrigens keine negativen Effekte bei der Produktivität mit sich. Stattdessen wurden in den Unternehmen die Prozesse effizienter gestaltet. Über das halbe Jahr hinweg stieg der Umsatz der Unternehmen sogar um durchschnittlich 8%. Verglichen mit der gleichen Periode im Vorjahr sogar um 38%.
Positive Auswirkungen auf die Gesundheit und Mitarbeiterzufriedenheit inklusive. Allerdings sind diese Studien zurecht in die Kritik geraten, weil sie zweckentfremdet wurden, wie Arbeitszeitexperte Guido Zander weiß.
Er gibt benennt kritische Aspekte mit Blick auf die immer lauter werdenden Forderungen nach einer 4-Tage-Woche (u.a. Ziel der IG Metall im Rahmen der aktuellen Verhandlungen).
Reicht nicht auch ein Anders-Arbeiten?
Geht es also am Ende doch nur um den Mut zum radikalen Neudenken? Oder funktioniert der das Konzept tragende positive „Personalmarketing-Effekt“ nur, solange ein solches Arbeitszeitkonstrukt die Ausnahme in einer Branche ist? Was passiert, wenn dieses Alleinstellungsmerkmal ebenfalls kippt, weil das Format sich wider Erwarten doch verbreitet?
Das führt mich gleich zur Frage, ob es denn überhaupt einer Anpassung der Gesamtarbeitszeit bedarf. Möglicherweise reicht ja eine neue Art, wie wir arbeiten beziehungsweise welche Haltung wir zum Thema Arbeit einnehmen.
So dürfte es bereits einen Unterschied machen, wenn zum Beispiel
Arbeitgeber klarstellen, dass während einer bestehenden Krankheit keine Arbeit geleistet werden soll, sondern der Fokus auf vollständige Erholung gelegt wird
Präsentismus folglich als unerwünscht eingestuft wird
Arbeitsorte, Arbeitsbedingungen und Ausstattung in puncto Ergonomie und Co top sind
Gesundheitsthemen weit oben auf der Agenda der Arbeitgeber bzw. HR-Bereiche stehen und konsequent bearbeitet werden
die Möglichkeiten von Prävention und Behandlung sowie Unterstützungsangebote im Bereich BGM ausgebaut werden
über menschenorientierte Führungsarbeit Individuen auch als solche ganzheitlich betrachtet und entsprechend wertschätzend behandelt werden
Kleine Schritte: Self-Care-Days
Es muss wahrscheinlich gar nicht immer sofort der „große Wurf“ oder das radikale Umdenken beim Thema Arbeitszeit sein. Teilweise reichen schrittweise Verbesserungen. Spannend finde ich in diesem Zusammenhang sogenannte Self-Care-Days. Dabei erhalten Beschäftigte zusätzlich freie Tage, an denen sie sich mit oder ohne Unterstützung des Arbeitgebers der Erholung beziehungsweise Gesundheit und Steigerung ihrer Resilienz widmen können.
Vermutlich gibt es eine Vielzahl weiterer erzählenswerter Initiativen von Arbeitgebern. Welche kennen Sie? Und auf welcher Seite stehen Sie bei der Frage nach einer Arbeitszeiterhöhung oder Arbeitszeitverkürzung?