Auf den Spuren von Grenzgängern und Visionären
Der Begriff „Grenzgänger“ ist allgegenwärtig. Wer aber ist ein Grenzgänger? Ein zwischen zwei Extremen Schwankender, der sich notdürftig im Dazwischen eingerichtet hat und zwischen zwei Welten zu Hause ist? Ein Genie und Exzentriker? Ein Mensch mit Charisma und Charakter, der nicht stromlinienförmig und angepasst durchs Leben schwimmt? Jemand, der die Kanten des Lebens sucht, sich an ihnen stößt, anstößig ist und unduldsam? Menschen, die Dinge anders machten und auf ihre Weise trotzdem erfolgreich sind, ziehen viele in ihren Bann, weil sie sich nach etwas sehnen, dass Grenzgänger verkörpern. Doch nicht der Erfolg ist der Faktor ihrer Sehnsucht, sondern der eigene Weg. Wo vieles gleichgeschaltet und glatt ist in dieser Welt, wird der Ruf nach echten „Typen“ wie Ludwig II., Albert Einstein, Hermann Hesse, John Lennon oder Muhammad Ali stärker. Grenzgängertum ist eine Gratwanderung, aber auch die Fähigkeit, Brücken zu bauen, um scheinbar entfernte Dimensionen zu verbinden.
Sie holen aus ihren Begabungen und Stärken das Maximale heraus.
Ohne Intuition und einen starken Willen sind sie wie auf hoher See ohne Kompass. Aber eben in dieser Bedrohlichkeit liegt für sie auch die Chance, über sich selbst hinauszuwachsen und Dinge zu tun, die anderen eher unmöglich erscheinen.
Sie unterscheiden weder zwischen Beruf und Privatsphäre noch zwischen Pflicht und Neigung. Diese Elemente gehören für sie alle zusammen.
Da sie sich in verschiedenen Welten auskennen, wissen sie, was es bedeutet, ein Fremder zu sein. Mit diesem Wissen obliegt ihnen auch die Tugend der Toleranz, der Integrität und der Zivilcourage.
Sie haben den Drang, über das ihnen gesetzte Maß und das Limit ihrer Möglichkeiten hinauszugehen und ihre Grenzen ständig zu erweitern. Doch kehren sie im Gegensatz zu den Grenzüberschreitern, die dem Reiz der Grenze erliegen, immer wieder zurück.
Sie folgen ihren Ideen, begleitet von unbändiger Neugierde und leicht entflammbarem Enthusiasmus für alles Neue, und handeln, ohne den Ausgang zu kennen.
Sie zeichnen sich durch einen ausgeprägten Möglichkeitssinn mit einem unbegrenzten Raum alternativer Denk- und Handlungsweisen aus.
Neugier gehört zu ihren wichtigsten Eigenschaften. Sie brauchen sie, um auf Änderungen in ihrem Umfeld zu reagieren und zu lernen.
Sie haben eine hohe Reflexionsfähigkeit, zeichnen sich durch ganzheitliches Prozessdenken aus und sehen die Erscheinung der Dinge in ihren Zusammenhängen.
Sie lieben das Rollenspiel und sind sich bewusst, dass, wer sich neuen Herausforderungen stellt, auch bereit sein muss, neue Rollen zu lernen, die zuweilen auch Verhaltensweisen erfordern, die bislang vielleicht noch nicht zum eigenen Repertoire gehörten. (Allerdings setzt ein gutes Rollenspiel ein reiches Innenleben voraus, eine Substanz, die sich ständig neu füllt.)
Sie schaffen Zukunft, indem sie Träume in Realität umwandeln.
Schon als Kind zeigte Ludwig II. Freude am Anderssein, am Kostümieren und Theaterspielen. Wie erklären Sie sich die Vorliebe für Maskenspiele?
Wenn sich Ludwig II. als Sonnenkönig Ludwig XIV. oder als Lohengrin maskierte und verkleidete, verwandelte er sich in diesen Rollenspielen in die jeweils dargestellten Personen und verkörperte für eine gewisse Zeit etwas anderes als sich selbst. Die Maskierung und Kostümierung halfen ihm, in eine Welt abzutauchen, die im realen Dasein sonst nicht zur Geltung kam. Verkleidungen waren für ihn eine Möglichkeit zur (Selbst-)Inszenierung und gestatteten ihm, individuelle Gefühle darzustellen und seine wahren Sehnsüchte auszuleben. Es war eine Möglichkeit zur Flucht aus der ihm oft genug verhassten Realität. Beim Ablegen der Kostümierung und um wieder zu sich selbst zurückzufinden, musste er das eigene Leben wieder ausgraben, was ihm oft sehr schwerfiel.
Weshalb verweisen Sie in ihrem aktuellen Buch „Der Ludwig-II.-Prozess. Die Schuldigen an der Königskatastrophe“ auf Ludwig als einen Grenzgänger? War er nicht vielmehr ein Grenzüberschreiter?
Jeder Grenzgänger setzt sich immer wieder der Gefahr aus, Grenzen zu überschreiten. Bei Ludwig II. handelte es sich um „Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit, Realität und Irrationalismus, absolutisti¬schem Majestätsbewusstsein und volksnahem Herrschertum, Natur und Kunst, Regierungspflicht und Künstlerfreiheit, Gesundheit und Krankheit, sexueller Konvention und Libertinage“, wie dies der Historiker Hermann Rumschöttel treffend formulierte. Ein Grenzgänger, wurde er auch nach seinem Tod, indem er sich seither sowohl auf der Seite der geschichtlichen Wirklichkeit als auch auf der Seite des Mythos aufhält. Immer wieder war Ludwig II. auch gezwungen, sein entgrenztes Leben wieder in Grenzen zurückzuführen, wenn sein grenzüberschreitendes Verhalten die Regierung, die Kirche und das Volk zu sehr provozierte und zu teils heftigen Gegenreaktionen reizte.
Weshalb war Ludwig II. ein Visionär? Und was können wir diesbezüglich noch heute von ihm lernen?
Auch wenn viele immer noch meinen, Ludwig II. sei nur ein Träumer gewesen, zeigen seine Aktivitäten, dass er ein Visionär war mit ausreichend Mut, um den ersten Schritt für alle jene zu tun, die ihn dafür belächelt haben. Seine Visionen ohne Aktionen wären nur Halluzinationen geblieben. Als Visionär sah er jedoch das, an was er glaubte, während seine Skeptiker erst glaubten, als sie es sahen. Wir brauchen mehr denn je Visionäre mit dem Mut zu Visionen - sind sie doch das Archiv der Zukunft. Nur Visionen lassen eine Welt entstehen, in der alles möglich ist, sogar dauerhafter Frieden.
Vielen Dank für das Gespräch.
In welchen Unternehmensbereichen sind Menschen mit „Grenzgängerprofilen“ gefragt? Wo können Sie sich am besten entfalten und innovativ sein? Und wo gehen sie kaputt? Wenn Unternehmen daran gelegen ist, keine Auftragsempfänger, sondern Menschen mit Eigeninitiative, Risikobereitschaft und sozialer Kompetenz zu beschäftigen, sollte das vernetzte, ganzheitliche Denken in die planerische Praxis übertragen werden. Auch in den Bereichen Personal und Personalentwicklung müsste dies einen angemessenen Platz finden. Gerade weil sie für keinen speziellen Job ausgebildet wurden, können beispielsweise Geisteswissenschaftler häufig besser mit neuen Situationen umgehen. Doch in der Regel haben Betriebswirte bei der Einstellung noch immer die besseren Chancen.
Für den Personalexpertem und Unternehmer Werner Neumüller sind Einstellungstests, psychologische Klassifizierungen oder Big Data eher sachorientiert und nur eine Teilbetrachtung des Menschen in seiner ganzen Komplexität. Er kritisiert, dass der Entscheidungsspielraum und Verantwortungsbereich von Führungskräften heute zunehmend standardisiert und eingeschränkt wird - zunehmend verdrängt von vermeintlich objektiven Benchmarks: „Seiteneinsteiger, Richtungswechsler, Umorientiere, Übermotivierte, Genies – schlicht nicht Systemkonforme – erhalten heute immer seltener eine Gelegenheit, sich zu zeigen und beweisen. Wer würde heute bei all den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln und Eignungsdiagnostiken einen Richard Branson (Legastheniker), einen Mark Zuckerberg (Studienabbrecher) oder einen Albert Einstein (Schulverwiesener) als Mitarbeiter einstellen?“
Er plädiert dafür, dass die zukünftige Entwicklung in der Personalauswahl vor allem in die ganzheitliche Betrachtung der Bewerbenden gehen sollte und kritisiert, dass schon in Kindergärten Erzieher erste Prognosen in Bezug auf Talente und Kompetenzen abgeben. Die sogenannte „Frühförderung“ beginnt teilweise schon im Kleinkindalter, z. B. in Bezug auf frühen Musik- oder Sprachunterricht. Kinder sollen spielen, hinterfragen, verstehen, beobachten, lernen und staunen. Doch schnell wird dies in Systeme gepresst. Aus Kreativität wird Konformität. Aus Genialität wird Gehorsam. Die von Steve Jobs als anders Denkende bzw. als Rebellen, Idealisten und Visionäre Titulierten werden sanktioniert. Die Frage „Was will ich aus meinem Leben machen?“ ist für viele Menschen mit zunehmendem Alter schwieriger zu beantworten. Das verwundert allerdings nicht, denn schon Kindergärten werden immer seltener ein Ort des Spielens, des Ausprobierens oder ein Ort der freien Entwicklung – „häufig wirken sie wie Früherziehungsstätten für High Potentials. Leistungsdruck und ständige Beurteilung setzen sich dann in der Schule, die von standardisierten sachorientierten Lehrplänen geprägt ist, fort.
Das Streben von Eltern und Lehrerschaft nach dem sicheren Übertritt in das Gymnasium nach der 4. Klasse beginnt oft schon in der 1. Klasse, in Form von Nachhilfe oder Förderunterricht“, so Neumüller. In einer solchen Atmosphäre der „Leistungsförderung“ können sich echte Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten kaum oder nur schwer entwickeln. „Würde bereits im Kindergarten und danach in der Schulzeit den Begabungen eines jungen Menschen mehr Beachtung geschenkt als dem stupiden Eintrichtern von standardisierten Lehrinhalten, sähe vieles in unserer Welt besser aus.“
Vollkommen anders: Warum wir Exzentriker und Regelbrecher brauchen
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Alfons Schweiggert: Der Ludwig-II.-Prozess. Die Schuldigen an der Königskatastrophe. Volk Verlag, München 2022.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen - 2018 Inspirationen und Impulse für Unternehmer. SpringerGabler Verlag. Berlin, Heidelberg 2018.