Aufbruch, Größenwahn, Demut: Wir sind Europa und das Meer
Aufbruch in „Neue Welten“
Vielen Europäern ist heute kaum bewusst, dass Europa geografisch gesehen ein maritimer Kontinent ist - umgeben von zwei Ozeanen und vier Meeren. Mit einer Gesamtküstenlänge von etwa 70.000 Kilometern hat kein anderer Erdteil mehr Berührungspunkte mit dem Meer als Europa. Im Alltag der meisten Bewohner spielt der Kontinent allerdings kaum eine Rolle, obwohl sich Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Terror und Armut über das Mittelmeer auf den Weg hierher machen.
Wie grundlegend das Meer die Entwicklung und Identität des Kontinents geprägt hat und welche Rolle es bis in die Gegenwart hinein spielt, zeigte die Ausstellung „Europa und das Meer“ im Deutschen Historischen Museum. Die Globalisierung begann, als die ersten europäischen Schiffe nach Umrundung der Erdkugel in ihre Heimathäfen zurückkehrten. Die zurückgekehrten Entdecker hatten die Erfahrung gemacht, dass Herausfahren geistigen und materiellen Gewinn bringt. Die zweite dynamische Phase der Globalisierung fällt in das 19. Jahrhundert und in die Zeit der Kolonialisierung. Im Wesentlichen abgeschlossen war diese Geschichte der Welt-Erschließung, als sich die Kolonien emanzipierten. Der Drang, Handel über die Meere hinweg zu treiben, ist allerdings schon seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. Nachweisbar. Doch erst im späten 15. und 16. Jahrhundert kam es in Folge der europäischen Entdeckungsreisen zu einer nie dagewesenen Expansion der Handelsnetze und zur Errichtung überseeischer Imperien. Einen Wendepunkt in der Geschichte der Seefahrt markiert der Übergang ins 16. Jahrhundert, als maritime Netzwerke über den Atlantischen, Indischen und Pazifischen Ozean ausgeweitet wurden – in bislang unbekannte Regionen.
Von der venezianischen „Seeherrschaft“ über die iberische Expansion, den Aufstieg der „Schiffbaunation“ Niederlande, den transatlantischen Sklavenhandel und die britische Dominanz in der Weltwirtschaft bis in die Gegenwart wird im Deutschen Historischen Museum auf 1.500 Quadratmetern ein länder- und epochenübergreifendes Panorama Europas präsentiert, dessen Kultur, Weltbild und Selbstverständnis sich maßgeblich im Austausch mit der Welt geformt hat.
Aufbruch in „Neue Welten“
Der Pionier in der Meeresforschung, Jacques Cousteau, verwies darauf, dass der Mangel an Zusammenarbeit zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern ein fataler Fehler sei: „Wenn wir in Sicherheit auf unserem einen Planeten leben wollen, müssen wir erkennen, dass wir Naturwissenschaftler brauchen, die uns Wahrheiten enthüllen, und Geisteswissenschaftler, die uns deren Bedeutung klarmachen. Wir brauchen Naturwissenschaftler, die uns vor den Naturgewalten beschützen, und Geisteswissenschaftler, die uns vor uns selbst beschützen.“ Um die ambivalente Rolle des Meeres deutlich zu machen, braucht es alle Fachdisziplinen und den Blick über das eigene Spezialgebiet hinaus.
Ein dichtes Netz maritimer Handels- und Verkehrswege schuf die Voraussetzung für den globalen Transport von Waren und Rohstoffen, Informationen und Ideen, Menschen und Moralvorstellungen. Cecil Rhodes, der bekannteste britische Vertreter der Kolonialidee in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts, schrieb: „Wir müssen neue Länder finden, aus denen wir leicht Rohstoffe gewinnen und wo wir zugleich von der billigen Sklavenarbeit profitieren können, die die Eingeborenen der Kolonien leisten. Die Kolonien können auch ein Abladeplatz für die Überschussproduktion unserer Fabriken sein.“ Ähnliche Gedanken formulierten Ende des 19. Jahrhunderts auch Lord Lugard, der englische Gouverneur von Nigeria, und der ehemalige französische Präsident Jules Ferry.
Doch bereits im 16. Jahrhundert, als die ersten Schiffe nach Umrundung der Erdkugel in ihre Heimathäfen mit materiellem Gewinn und „Erdoberflächenwissen“ (Sloterdijk) zurückkehrten, begann die Welt so zu werden, wie sie heute ist – ein Mix aus Abenteuer, Demut und Größenwahn. Hollands Kaufleute waren im 17. Jahrhundert die Pioniere des globalen Geschäftsverkehrs: Sie handelten mit allem, und weil ihre Werften und Schiffe effizienter und günstiger arbeiteten als die europäische Konkurrenz, waren ihre Frachtkosten niedriger und ihre Gewinne höher. Die Kaufleute drangen auch auf eine Beschleunigung des Warenverkehrs. Denn „Langsamkeit wird zum Risiko; die Langsamen schreiben schnell Verluste“, schreibt der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Peter Borscheid in seinem Buch „Das Tempo-Virus“.
Auch für die Bewohner der anderen Kontinente war das europäische Ausgreifen folgenreich: Die Ankunft der Europäer bedeutete für sie vor allem Ausbeutung, Gewalt, Rassismus und Unterdrückung. Machtpolitische Interessen, das Streben nach wirtschaftlicher Dominanz und koloniales Denken gingen fast immer Hand in Hand. Ferne wurde mit handgreiflichen Mitteln immer mehr beseitigt. Auch die Global Player der Gegenwart kennen keine Abstände. Werbeanzeigen und Konzernkampagnen zeigen oft einen Globus, mit dem zum Ausdruck gebracht werden soll, wie “weltläufig“ das Unternehmen auf der Höhe der Zeit ist: bereit zum Aufbruch. „Für bestimmte Konzerne war die Antwort bis vor kurzem einfach: Zwinge die Welt, deine Sprache zu sprechen und deine Kultur zu übernehmen“, schreibt Naomi Klein zur Jahrtausendwende in ihrem Buch „No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht“. Träger von Globalisierungsphantasien ist auch das Internet als „technogenes Meer“ mit seinen unermesslichen virtuellen Räumen und Profitmöglichkeiten.
Vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent
Jahrhundertelang galten die Meere als die natürlichen Grenzen der Kontinente, erst mit dem technischen Fortschritt wandelten sie sich zum vielgenutzten Transitraum. Allein zwischen 1840 und 1880 wanderten 15 Millionen Menschen aus ganz Europa auf der Suche nach neuen Lebensperspektiven Richtung Übersee aus. Heute bestehen die EU-Grenzen zu zwei Dritteln aus Küstenlinien, die im sich abschottenden Europa zunehmend wieder zu Schranken werden. Historisch betrachtet sind Migrationsbewegungen eine Dauererscheinung. Die Fluchtursachen waren heute wie damals: Krieg, Armut, Perspektivlosigkeit, politische oder religiöse Verfolgung. Die Ausstellung präsentiert die Entwicklung Europas vom Auswanderungskontinent im 19. Jahrhundert zum Einwanderungskontinent im 20. und 21. Jahrhundert. Im Zentrum steht die gefahrenvolle Schiffspassage als eigentlicher Akt der maritimen Migration. Die heutigen Bedingungen erweisen sich dabei als weit gefährlicher als im 19. Jahrhundert: Bis 2017 ertranken über 25.000 Menschen im Mittelmeer.
Nutzung, Ausbeutung und Vermüllung der Weltmeere
Bereits seit Jahrtausenden betreiben die Europäer Fischfang. Heutzutage gewinnen nicht nur Erdöl und Erdgas, sondern auch erst vor wenigen Jahrzehnten entdeckte Rohstoffe wie Kobaltkrusten, Manganknollen und Methanhydrate an Bedeutung. Überfischung, Havarien und Vermüllung bedrohen jedoch nicht nur die Zukunft der Weltmeere, sondern das globale Klima und das ökologische Gleichgewicht insgesamt. Forscher gehen davon aus, dass bereits im Jahr 2050 mehr Plastik als Fisch in den Ozeanen schwimmen wird. Die UNO hatte am 5. Juni 2018 anlässlich des Weltumwelttags eindringlich vor den Gefahren durch Plastikmüll gewarnt, der einige Meeresregionen „in Plastiksuppe“ verwandelt. Nur etwa neun Prozent des weltweit jemals hergestellten Plastiks seien recycelt worden – fast 80 Prozent blieben hingegen auf Müllhalden, in Ozeanen und Wasserstraßen, wo es tausende Jahre dauere, bis sie komplett abgebaut seien. Jährlich verenden bis zu 100.000 Meeressäuger und eine Millionen Meeresvögel an dem Plastikmüll, den wir unserer Umwelt überlassen. Wenn wir unser globales Verhalten nicht verändern, wird es laut aktuellen Berechnungen schon im Jahr 2030 mehr Müll als Fische im Meer geben.
Angesichts schwindender Ressourcen erkundet die Tiefseeforschung das Meer auf der Suche nach Lösungen für die Zukunft. Aktuelle Exponate wie die „Friendly Floatees“ genannten Plastiktiere zeigen eindrucksvoll, wie aus Meeresmüll unerwartet wichtige Forschungsergebnisse über die weltweiten Meeresströmungen gewonnen werden können.
Auf europäischer Ebene läuft der Countdown für ein nachhaltiges Fischereimanagement
Die EU hat sich verpflichtet, die Überfischung bis 2020 zu beenden, um den Raubbau an den marinen Ökosystemen maßgeblich einzudämmen. Zum Welttag der Meere am 8. Juni ruft Slow Food Deutschland alle verantwortlichen Entscheidungsträgerinnen und -träger dazu auf, die Ziele der Fischereireform endlich entschlossen umzusetzen. Meere und Ozeane stabilisieren unser Klima und sichern unsere Ernährung. Der EU bleiben noch sieben Monate, um einen wichtigen Beitrag zu ihrem Schutz zu leisten und die Nachhaltigkeitswende in der europäischen Fischerei herbeizuführen. Diese hat sie mit der Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik im Jahr 2013 selbst angestoßen. Damals verpflichteten sich die Mitgliedstaaten rechtlich dazu, die Überfischung in Europa bis zum Jahr 2020 zu beenden. Mithilfe wissenschaftlich empfohlener Fanggrenzen sollten sich Fischbestände wieder auffüllen und auf lange Sicht ergiebig sein. Bei mehr als einem Drittel der europäischen Fischbestände ist dieses Ziel noch immer nicht erreicht.
„Die Fortschritte sind schlichtweg zu langsam, in der Ostsee verzeichnen wir sogar erhebliche Rückschritte. Die Fangquoten für viele Bestände liegen weiterhin oberhalb der wissenschaftlichen Empfehlungen. Aus unserer Sicht aber erweisen die verantwortlichen Entscheidungsträger, darunter das Bundeslandwirtschaftsministerium, der Fischerei damit einen Bärendienst. Biologisch notwendige Kürzungen der Fangquoten zu umschiffen schadet letztlich allen Beteiligten, nicht zuletzt, weil schrumpfende Fischbestände anfälliger für andere Stressfaktoren wie beispielsweise steigende Wassertemperaturen und Sauerstoffmangel sind“, sagt Nina Wolff, Fischerei-Expertin von Slow Food Deutschland.
Aktuell sind zwei wichtige Fischbestände – der westliche Hering und der östliche Dorsch in der Ostsee – in einem so schlechten Zustand, dass die Wissenschaft einen Fangstopp empfiehlt. Ab 2020 sind Fangquoten oberhalb der wissenschaftlichen Empfehlungen keine Option mehr, da nicht mehr rechtmäßig. Dass die Politik ihre eigene Gesetzgebung einhält, ist für Slow Food nicht nur ökologisch und sozial unabdingbar, sondern auch eine Voraussetzung dafür, dass die Menschen das Vertrauen in die Politik nicht weiter verlieren. Seit 2019 sind Fischerinnen und Fischer der EU außerdem dazu verpflichtet, alle getätigten Fänge mit an Land zu bringen. Bislang wurden unbeabsichtigt mitgefangene Fischarten oder nicht vermarktungsfähiger Babyfisch ungenutzt, verletzt oder tot wieder über Bord geworfen (Quelle: Pressemitteilung Slow Food, 6.6.2019).
Die Erfindung des Badeurlaubs
Gleichzeitig gilt das Meer als Sehnsuchts- und Erholungsort. Im 18. Jahrhundert entdeckten die Europäer die ästhetischen und therapeutischen Qualitäten des Meeres: Die motivische Vorliebe von Caspar David Friedrich für Segler und Boote ist seit den frühesten Studien aus der Zeit um 1798 belegt. Mit seinen Meeresbildern und Seelandschaften wurde der Ausblick auf das Meer und auf ferne Schiffe zu einem Topos der Romantik, mit dem Einsamkeit und (Unendlichkeits-)Sehnsucht ausgedrückt wird.
Der Ozean wurde von einer bedrohlichen Naturgewalt zum Inbegriff von Erhabenheit und Schönheit und zum Ort der Heilung und Entspannung. In den neu gegründeten Seebadeanstalten, beginnend in Brighton und anderen britischen Badeorten, traf sich der europäische Adel zur Kur und Kontaktpflege. Bald wurden überall an den Nord- und Ostseeküsten und später im südlichen Europa Seebäder gegründet, auch das Bürgertum pflegte nun zunehmend die jährliche „Sommerfrische“ am Meer. Im Zuge dieses Mentalitätswandels entdeckten Künstler die Meeres- und Küstenlandschaften als eigenständige Sujets. Im Gefolge von Jules Michelets „Das Meer“ (1861) wurde die See als paradiesische Landschaft geradezu neu gefunden. Viele Menschen suchten am Meer und auf den Meeren Heilung von den Frustrationen auf dem Festland. Die künstlerische Entdeckung einer Region zog häufig auch ihre touristische nach sich. Im modernen Verständnis ist der Tourismus eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und kam dank der Revolution des Verkehrs- und Kommunikationswesens im 20. Jahrhundert erst richtig in Bewegung. Mit dieser Dynamik wurde die einstige Sommerfrische zum modernen Urlaub. Im späten 20. Jahrhundert mündete die touristische Erschließung der Küstenregionen in das neue Zeitalter des globalen Massentourismus.
Weiterführende Informationen:
Ulrich Baron: Das Geld, der Tod, das Meer. In: DIE ZEIT. Nr. 18 (27. April 2006), S. 88.
Peter Borscheid: Das Tempo-Virus: Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt a. M. 2004.
Jaques Cousteau und Susan Schiefelbein: Der Mensch, die Orchidee und der Oktopus. Mein Leben für die Erforschung und Bewahrung unserer Umwelt. Frankfurt a. M. 2008.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Verpackt oder unverpackt? Warum Stoffkreisläufe eine Frage der Nachhaltigkeit sind. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Europa und das Meer. Herausgegeben von Dorlis Blume, Christiana Brennecke, Ursula Breymayer und Thomas Eisentraut für das Deutsche Historische Museum. Hirmer Verlag. München 2018.
Naomi Klein: No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht. München 2001.
Christine Kruttschnitt: Aufbruch in die neue Welt. In: STERN 21 (2006), S. 86.
Jerry Mander, Edward Goldsmith: Schwarzbuch Globalisierung. Eine tatale Entwicklung mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern. München 2004, S. 34 f.
Herman Melville: Moby Dick. Roman. Aus dem Englischen von Alice und Hans Seiffert. Berlin 2013.
Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt a. M. 2005.