Aufstieg der Manufakturen
Spätestens seit der Corona-Pandemie, in der unser Bewegungsradius stark eingeschränkt ist, entdecken viele Menschen Produkte, die in ihrem näheren Umkreis gefertigt werden. Früher bedeutete die Beherrschung eines Handwerks eine Partnerschaft mit Werkzeugen, Materialien und Abläufen: Es bedeutete, sich in Geduld zu üben, was auch in vielen anderen Lebensbereichen von Bedeutung war. Handgemachtes stellt als wertvolles Kulturgut auch eine nachhaltige Alternative zum schnellen Konsum und zur Welt der Massenprodukte dar.
Vorteile von Manufakturen:
Sie erschaffen etwas, das Bestand hat, Sinn und Nutzen stiftet.
Sie tragen zur Stabilisierung des ländlichen Raumes bei, wenn es um Wertschöpfung, die Versorgung mit Produkten, Dienstleistungen, Arbeits- und Ausbildungsplätzen geht.
Sie bringen Menschen zusammen und sind somit soziale Orte.
Sie stärken die emotionale Bindung an nicht kopierbare und konkurrenzlose Dinge.
Sie stiften Identität und verbinden Tradition und Innovation.
Sie zeigen das Machbare in der Gegenwart, aber auch Wege in eine bessere Zukunft.
„Vor allem durch die lokale Produktion steigen für Manufakturen die Herstellungskosten enorm, sodass sie mit konventionellen Produkten ohnehin preislich nicht konkurrieren können. Aber durch die lokale Arbeit ergibt sich die Möglichkeit, transparent und kundennah zu arbeiten, wodurch hohe Ansprüche an soziale Verantwortung und Produktqualität, die im Zuge der Digitalisierung an Bedeutung verloren haben und dadurch gesunken sind, mehr in den Fokus rücken“, sagt die Modedesignerin Natascha von Hirschhausen, die das gleichnamige Label betreibt. Handwerk, Leidenschaft für das Produkt und das Arbeiten in kleinen, lokalen Betrieben werden für sie zum Leitfaden transparenter Kundenkommunikation und aktiv gelebt. Auch hebt sie das Maß an Qualität in Material und Verarbeitung sowie Kundennähe, Authentizität und Transparenz hervor, das Großunternehmen oft nicht leisten (können).
Kirstin Hennemann gründete 2002 in Berlin-Prenzlauer Berg ihre Manufaktur. Sie studierte zunächst Politik und Germanistik, erlernte dann aber das Schuhmacherhandwerk, nachdem sie frustriert von einer Shoppingtour in Frankfurt zurückkam. Gabriele Braun ist als zweite Berufsumsteigerin 2014 zu ihrer Berufung gekommen. 1989 lernte sie nach ihrem Betriebswirtschaftsstudium in Deutschland und USA als Unternehmensberaterin bei Accenture. Nach 15 Jahren Beratung und zehn Jahren als Führungskraft bei SAP und Continental wagte sie den Sprung in ein völlig neues Umfeld: Sie verschrieb sich dem Schuhmacherhandwerk. Im Januar 2016 wurde die Maßschuhmacherei Kirstin Hennemann zur Maßschuhmacherei Hennemann & Braun. Alle Arbeitsschritte, die zur Herstellung eines Schuhs notwendig sind, werden hier in der Werkstatt durchgeführt. Der Aspekt der Nachhaltigkeit liegt hier buchstäblich auf der Hand: „Wenn sich beispielsweise mehr Menschen nicht nur an der modischen Vielfalt im Schuhregal orientieren würden, sondern auf Klasse statt Masse setzen und sich ein paar wenige Maßschuhe leisten würden, wäre dem eigenen Geldbeutel, der eigenen Gesundheit und vor allem der Umwelt gedient“, sagen die Inhaberinnen.
Das ist auch ein Ziel des Buches „Manufakturen in Niederbayern. Von der Liebe zu handgemachten Dingen“ von Christine Hochreiter. Für die gebürtige Passauerin, die selbst ein Faible für Handgemachtes hat, gibt es nichts Schöneres, als spannende (Lebens-)Geschichten zu finden und zu erzählen. Der Niederbayerin war schon früh bewusst, dass sie Journalistin werden möchte. Nach einem Studium der Romanistik und Politikwissenschaft in Regensburg und Paris arbeitete sie fast drei Jahrzehnte bei der Mittelbayerischen Zeitung und leitete viele Jahre das Wirtschaftsressort. In ihrer Publikation stellt sie handgemachte Erzeugnisse aus Niederbayern vor, darunter Nudel-Kreationen aus dem Rottal, Spirituosen- und Schokoladenspezialitäten aus der Hallertau, Naturseifen, Zigarren, schmiedeeiserne Pfannen, Glaskunst oder Ledergürtel aus dem Bayerwald. Viele der hier vorgestellten (Kunst-)Handwerker verstehen ihr Tun ebenfalls als Gegenentwurf zur industriellen Massenfertigung. Die meisten von ihnen haben ihre handwerkliche Passion zum Beruf gemacht: wie die Bankerin, die nun Dirndl designt, der Werkleiter einer Konservenfabrik, der heute in seinem „Werkstoi“ Messer fertigt oder die Sozialpädagogin, die aus der Jugendarbeit kommt und nun Sitzauflagen, Handpuppen, Wandbilder, Taschen, Mützen und Kleidung herstellt und heute als Filzgestalterin arbeitet.
Dazu ein paar Unternehmensbeispiele: Auch Karup Design möchte die Welt zu einem besseren Ort machen. Das Unternehmen sieht seine Verantwortung in einer nachhaltigen Denk- und Handlungsweise zum Wohle der Umwelt. So stammt das FSC Mix zertifizierte Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft, größtenteils aus Schweden, Finnland und Estland. Lacke und Farben sind wasserbasiert und die Füllungen für Sofas und Futon-Sessel werden überwiegend aus Faserabfällen aus der Textilproduktion hergestellt. In Sachen CO2-Bilanz arbeitet die Marke stetig daran, ihren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Es wird an neuen Wegen im Transportbereich getüftelt, und es werden zum Beispiel Möbel aus zerlegbaren Einzelteilen gebaut, um die Transportwege effizienter zu nutzen und Platz zu sparen. Das Engagement hier betrifft auch den sozialen Bereich: Das Projekt „Bett im Sack“ unterstützt obdachlose Menschen, die leichte und isolierende Matratzen erhalten (Quelle: memolife).
Christian Amthor und Michael Kremer führen das Unternehmen TRANQUILLO seit 2003. Was in einem kleinen Laden in der Dresdner Neustadt mit Second-Hand-Ware begann, ist mittlerweile zu einer Firma herangewachsen, das hauptsächlich faire Lifestyleprodukte und ökologische Fashionkollektionen herstellt und vertreibt. Von handbemaltem Geschirr über fair gehandelte Teppiche bis hin zu selbst gestalteten Kleidungskollektionen aus nachhaltigen Materialien werden ausgewählte Designprodukte angeboten. Das Unternehmen selbst sowie ein Großteil der Kollektionen tragen das Siegel des Global Organic Textile Standard (GOTS), der für die Einhaltung sozialer und ökologischer Anforderungen entlang der gesamten Produktionskette sorgt. Eine enge Zusammenarbeit mit den Herstellern sowie faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen in den kleinen Manufakturen sind für das Unternehmen besonders wichtig. Mit der Goodweave-Zertifizierung setzt es sich gegen Kinder- und Zwangsarbeit in der Teppichproduktion ein.
Dazu brauchen wir eine greifbare Identität zu allem, was uns umgibt und einen unmittelbaren Bezug zu Natur und Umwelt. Die Vertrautheit mit der Natur macht auch das gestaltete Dasein in einer Wohnung aus, die erst aufgrund von Gewohnheiten und uns umgebenden Dingen zu den eigenen vier Wänden wird. Um Dinge wertzuschätzen zu können, braucht es einen „analogen" Verstand und ein lebendiges Herz.
Weiterführende Informationen:
Wolltreffer der Geschichte! Darum boomt Stricken in Krisenzeiten
Filz und Gesellschaft: Wie wir Kunst und Alltag wieder in Form bringen
Von Knöpfen und Köpfen: Wie sich die Welt öffnen und gestalten lässt
Christine Hochreiter: Manufakturen in Niederbayern. Von der Liebe zu handgemachten Dingen. SüdOst Verlag. Regenstauf 2021.
Alan Moore: Design. Warum das Schöne wichtig ist. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018.
Natascha von Hirschhausen: Einfluss der Digitalisierung auf die Mode und warum daraus eine Frage der Verantwortung entsteht. - Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Nachhaltigkeit begreifen: Was wir gegen die dummen Dinge im Zeitalter der Digitalisierung tun können - Gabriele Braun und Kirstin Hennemann: Maßschuhe – ein nachhaltiges Produkt in Zeiten der Digitalisierung. Alle Beiträge in: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. 2. Auflage. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2021.