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Ausstieg auf Zeit: Warum sich immer mehr Menschen für ein Sabbatical entscheiden

Immer mehr Berufstätige in Deutschland nehmen sich eine Auszeit oder träumen davon.

„Menschen gehen arbeiten, häufig mehr als die im Arbeitsvertrag fest geschriebene Arbeitszeit - danach muss der Körper gepflegt oder in Form gebracht werden: Es stehen Treffen mit Bekannten und Verwandten an, sowohl im Berufsleben als auch in der Freizeit hängt ein Termin am anderen. Zeit zum Nichtstun, zum Seele baumeln lassen, muss in den Wochenplan miteinbezogen werden, sonst gibt es sie nicht“, sagt die Sonderpädagogin und Sportlerin Tanja Walther-Ahrens. Das Gefühl, ständig von einem Termin zum anderen zu hetzen, kaum Muße zu haben, um mit den Kindern in Ruhe spielen zu können, oder der Wunsch, mal wieder mitten am Tag ein Buch zu lesen‎, ließen auch in ihr Träume wachsen und den Wunsch nach einer Auszeit entstehen.

Tanja Walther-Ahrens, geboren 1970, wuchs in Hessen in ländlicher Idylle auf. Nach mehrmaligem Gewinn der Meisterschaft der Landesverbände mit dem hessischen Auswahlteam in den 80er-Jahren erfolgte nach dem Abitur und mit kleinen Umwegen der Umzug nach Berlin, wo sie mit dem Studium der Sonderpädagogik und Sportwissenschaften begann und eine erfolgreiche Karriere in der Bundesliga von 1992 bis 1994 bei Tennis Borussia Berlin startete. Es folgte eine sportliche Herausforderung in den USA durch ein Sport-Stipendium am William Carey College, Mississippi von 1994 bis 1995, danach spannende Jahre bei Turbine Potsdam in der Bundesliga von 1995 bis 1999. Seit 2006 ist sie Delegierte der European Gay and Lesbian Sport Federation (EGLSF). Von 2011 bis 2013 leitete sie die Arbeitsgruppe „Bildung“ als Teil der Kommission Nachhaltigkeit des Deutschen Fußball Bundes. Die diplomierte Sportwissenschaftlerin arbeitet hauptberuflich als Sonderpädagogin. Heute ist sie immer noch leidenschaftliche Fußballerin in der Berliner Landesliga beim SV Seitenwechsel. Der Ausstieg aus dem Berufsleben und das damit verbundene Wissen, dass sie ihren Job als Lehrerin nur bis zur Rente machen kann, wenn sie mir ab und zu eine Auszeit gönnt, ist für sie das ausschlaggebende Argument für ein Sabbatical gewesen.

Sie wollte weniger gestresst sein‎ und ihre Akkus wieder aufladen.

„Schon während des Jahres vor dem eigentlichen Sabbatical lässt es sich viel entspannter in Stresssituationen reagieren, im Hinterkopf ist immer schon der Gedanke: ‚Nächstes Jahr bin ich nicht hier!‘“, sagt sie. Den Reizt des Sabbaticals machen für Walther-Ahrens vor allem Dinge des Alltags aus: „Einfach mal nichts tun. Zeit mit wundervollen Menschen genießen, ohne den nächsten Termin im Auge zu haben. Meine Tochter ganz spät in den Kindergarten bringen. Stundenlang auf dem Spielplatz sitzen‎. Die Tageszeitung von vorne bis hinten lesen. Lange joggen gehen. Eine neue Sprache lernen ...“ Inzwischen hat sie schon mehrere Sabbaticals genommen. Beim ersten Mal stand das Reisen auf dem Programm: „Endlich Zeit haben, die Orte zu entdecken, die ich schon immer sehen wollte: Australien, Hawaii, Neuseeland. In zerrissenen Jeans durch San Francisco Freundinnen besuchen in Florida! Und dabei an jedem Ort so viel Zeit haben, wie es braucht, um die Orte zu genießen!“

So ging es auch Julia Lemac, Assistentin der Verkaufsleitung Export bei Häcker Küchen. Sie ist dem Familienunternehmen noch immer dankbar, dass sie die Möglichkeit erhielt, sich in Neuseeland persönlich und beruflich weiterzuentwickeln. Im April 2019 startete sie in Frankfurt, und es ging es über Dubai und Sydney nach Wellington, der Hauptstadt von Neuseeland, gelegen am südlichsten Ende der Nordinsel. Vieles musste in den ersten zwei Wochen organisiert werden: WG-Zimmer, Bankverbindungen, Handyvertrag, Steuernummer. Einen Job hatte sie sich schon im Vorfeld organisiert: „Ein Freund von mir hat ein Küchenstudio in Wellington und dies war natürlich eine großartige Chance, um Auslandserfahrung zu sammeln und gleichzeitig meine Englischkenntnisse aufzufrischen.“ Ihr Arbeitsleben begann bei German Kitchens Limited. „Hier verbrachte ich den Großteil meiner Zeit in Neuseeland zwischen Küchendesign, Küchenverkauf, Baustellenbesuch & Aufmaß, Social Media, Design-Awards, Kundenevents, Erstellung von Designkonzepten und Angeboten, Koordination von Containerlieferungen und Montageorganisation, als Ansprechpartner für Gerätebestellungen und Kontakt zu unseren Lieferanten nach Deutschland …“

Sie arbeitete allerdings nicht nur, sondern sammelte viele kulturelle, sportliche und persönliche Eindrücke und Abenteuer. Eines der größten Highlights war für sie die Einladung zum Vortrag „The European Union, Multilateralism and the Future of Democracy“ des verstorbenen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Thomas Oppermann, mit dem sie sich austauschte, und der sie spontan zur German Unity Party einlud. Julia Lemac besuchte Matches der All Blacks, der Rugby Nationalmannschaft in Wellington, lernte den Haka Tanz und unternahm zahlreiche Wochenendtrips. Während ihres fünfwöchigen Weihnachtsurlaubs ging sie auf große Neuseeland-Rundreise: „Ich bin auf Berge gestiegen, durch den neuseeländischen Regenwald gewandert und habe einsame Strände entdeckt. Die Kombination aus rauer Küstenlandschaft, kargem Vulkangebiet, blitzblauen Seen und unberührten Nationalparks machen dieses Land für mich zu einem meiner allerliebsten Reiseziele.“ In Auckland sah sie sich das neue Häcker Studio an und lernte das Team vor Ort kennen. An der 43 m Kawarau Bridge in Queenstown, the Home of Bungy Jumping, ist sie ins neue Jahr gesprungen. Vor ihrer Rückkehr nach Deutschland arbeitete sie weiter in Wellington. Sie ist ihrem Unternehmen sehr dankbar für diese Möglichkeit und sieht heute vieles mit anderen Augen, weil sie Wissen, das ihrer täglichen Arbeit zugutekommt, „draußen“ erlebt und „erfahren“ hat.

„Tatsächliches Fachwissen kann in Schulungen vermittelt werden - sei es bedingt durch den demographischen Wandel oder durch die sicherlich zunehmende Industrie 4.0 wird die Eigenverantwortlichkeit, Zielorientierung, Flexibilität, Lern- und Teamfähigkeit neben Loyalität der Belegschaft immer wichtiger werden. Um diese zukünftigen Anpassungen Herausforderungen besser zu bestehen, muss sicher noch dynamischer über optimierte Aus- und Fortbildungsinhalte diskutiert werden. Zukünftig kommt es neben den fachlichen Qualifikationen aber auch auf persönliche und zwischenmenschliche Fähigkeiten an“, sagt der Personalexperte Werner Neumüller und Geschäftsführer der NEUMÜLLER Unternehmensgruppe. Diese können in Teilen in Weiterbildungen vermittelt werden – am wichtigsten sind jedoch persönliche Erfahrungen mit Weitblick, wie sie beispielsweise bei einem Sabbatical gewonnen werden können.

Auch Arnd Bornemann, der Internationale Wirtschaftsbeziehungen und Orientalistik studierte und in verschiedenen operativen und strategischen Führungspositionen bei Großkonzernen tätig war, verbrachte die ersten zehn Jahre seines Berufslebens an verschiedensten Orten. Im Rahmen seiner Verantwortlichkeiten war er 15 Jahre in der Türkei, in Südostasien und in Hong Kong stationiert. Sein Weg führte ihn von der Türkei über Südostasien nach Hong Kong. Er wollte raus aus dem täglichen Hamsterrad und kam auf die Idee eines Sabbaticals. Er folgte seinem Bauch und kündigte seine damalige Position als Leiter des Repräsentative Office in Hong Kong. Als neuen Standort suchte er sich Berlin aus. Besonders schätzte er, jeden Tag selbst über die eigene Zeit verfügen zu können

Seit dem zweiten Sabbatical ist es bei Tanja Walther-Ahrens eine Reise zu sich selbst.

Damit verbunden ist die Auseinandersetzung mit neuen Lebensabschnitten und neuen Familienentwürfen und der Wunsch‎, „Zeit zu haben für all die Dinge, die sonst zu kurz kommen wie Zeitung lesen, mit einem Getränk und einer Freundin in der Sonne sitzen, spazieren gehen, mal wieder die Wohnung entrümpeln.“ Alle Angestellten im Öffentlichen Dienst können wie sie ein Sabbatical beantragen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, es dann auszugestalten, was auch damit zu tun hat, wieviel Einkommen im Monat zur Verfügung stehen soll. Ein bis zwei fehlende Personen können an einer Schule problemlos überbrückt werden, weil es ständig Veränderungen im Kollegium gibt durch Auszubildende, Menschen die in Rente gehen, Krankheit, das Ende der Elternzeit etc. Eine Kollegin übernahm während des Sabbaticals ihre Fachbereichsleitung. „‎Zum Teil musste ein bisschen zusammengerückt werden, oder es wurden zeitweise Honorarkräfte eingestellt, wenn zu viele Fehlzeiten vorhanden waren.“ Walther-Ahrens hat eine sehr kollegiale Schulleitung: „Sie wissen hier, dass ein solches Sabbatical für alle Beteiligten eine Bereicherung ist. Eine Auszeit ermöglicht neben Erholung auch das völlige Aussteigen aus dem Arbeitsalltag, so dass hinterher eine völlig neue Sicht auf das Arbeiten möglich ist. Beim Reisen sind mir in den verschiedenen Ländern auch neue Ideen für uns als Schule begegnet. Außerdem beugt ein Sabbatjahr Burn-out-Entwicklungen vor‎.“

Weiterführende Informationen:

Julia Lemac: NEUSEELAND – DAS SCHÖNSTE ENDE DER WELT. Eindruck von meiner Zeit in Neuseeland. In: INTERN. Das Magazin für Häcker-MitarbeiterInnen. Nr. 36 (November 2020), S. 36-39.

Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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