"Begegnen wir der Zeit, wie sie uns sucht": Was Karl Lagerfeld mit Stefan Zweig verbindet
Er lebte sehr gut mit sich allein. Das war für ihn der absolute Luxus: nur zu machen, was er will - ohne auf die Uhr zu sehen. Das schenkte sich Karl Lagerfeld nicht nur an den Wochenenden, sondern auch „preiswert“ zu Weihnachten. Es war für ihn ein Tag wie jeder andere, den er allerdings noch mehr genossen hat, weil er ihm ganz allein gehörte und niemand etwas von ihm wollte. Er lud niemanden ein und ging auch nicht aus dem Haus. Silvester genauso: „Das ist ja noch schlimmer, auf einer Party mit vielen Leuten, denen man allen ein gutes neues Jahr wünschen muss, wo die einem total egal sind. Nein, nein, nein. Da höre ich doch lieber zu Hause meine Musik…“ Lagerfeld ist immer inspirierend, weil er einen anderen Blick auf die Welt und das Leben hat.
Mit diesem Shakespeare-Zitat beginnt Stefan Zweig sein Buch „Die Welt von Gestern“. Es könnte auch Lagerfelds Schaffen „eingeschrieben“ sein, der sich als jemanden bezeichnete, der aus der Zeit herausgefallen ist. So interessierte ihn das 18. Jahrhundert schon seit seiner Kindheit wegen des materiellen Ausdrucks von Architektur, Malerei und Kleidung. 2014 fand in Salzburg seine „Métiers d’Art“-Schau für Chanel im historischen Schloss Leopoldskron statt, das der Vorstellung eines Rokoko-Schlosses entspricht, wie er es schon als Kind im belgischen Kinderbuch „Der kleine König“ (1906) geliebt hat. Jede Stadt, in der die „Métiers d’Art“ gezeigt wurde, hatte eine besondere Verbindung zur Geschichte von Chanel. Salzburg hatte allerdings auch viel mit Karl Lagerfeld zu tun, der Stefan Zweig sehr verehrt hat.
Als im Herbst 2015 das Buch „Stefan Zweigs brennendes Geheimnis“ von Ulrich Weinzierl erschien, titelten die Medien: „Stefan Zweig war ein Exhibitionist“. Was wissen die Leser von einem Buch, wenn sie „das“ wissen? Warum diese literarische Detektivarbeit, die sich dem "brennenden Geheimnis" eines Autors widmet? Was bleibt nachhaltig im Gedächtnis von einem „Enthüllungsbuch“? Wohl nicht die Erkenntnis, dass sich der weltberühmte Autor zwanghaft selbst entblößt hat. Ein solches Buch kann nur in der Vernetzung mit anderen Zusammenhängen gelesen werden, wenn es persönlich Sinn machen soll. Ohne Berücksichtigung der Gegenwart, dem Zeitalter der Selfies und Selbstentblößung, würde es nur bei der Frage bleiben: „Und nun?“ Karl Lagerfeld ist für mich der Türöffner, um das brennende Geheimnis besonders kreativer Menschen zu verstehen. Das macht auch das Zeitlose des Buches von Ulrich Weinzierl aus: Es lädt dazu ein, Dinge in Beziehung zu setzen, deren Ergebnisse durchaus überraschend sind.
Die Arbeit, bekannte Zweig einmal gegenüber Romain Rolland, „ist die einzige Tür, durch die ich mir selbst zu entrinnen vermag.“
Auch für Karl Lagerfeld war es der höchste Luxus, in Ruhe arbeiten zu können: „Ich bin wahnsinnig gern allein, da kann ich meine Batterien aufladen, lesen, zeichnen, nicht auf die Uhr schauen.“ Er gehörte nicht zu den Kreativen, die darauf warten, dass sie von der Muse geküsst werden. Er stellte sich ihr einfach, in dem er von morgens bis abends arbeitete. Dann kamen ihm die besten Ideen.
Volker Weidermann beschreibt in seinem Buch „Ostende“, dass Stefan Zweig immer wieder alle Kraft zusammennehmen musste, um „nicht ständig sich selbst zu beobachten“. An Hermann Hesse schrieb Zweig 1903: „Auch ich habe mich viel verschwendet an‘s Leben – nur jenes letzte Überfließen fehlt mir: der Rausch. Ein bisschen bleibe ich immer nüchtern …“
Lagerfeld hat nie Alkohol getrunken, nie geraucht oder Drogen genommen. Er hasst Rausch, weil er ihn aus dem „eiskalten Beobachterstandort“ herausbringt. Er mochte zwar alles, was neu war – aber immer mit einem gewissen Abstand. Als Beobachter: „Ich bin der Professor, der das Insekt betrachtet, nicht das Insekt selbst.“ Als eine Chanel-Show in einem Supermarkt „gespielt“ wurde, interessierte es ihn nur, dort Fotos zu machen: „Ich brauche das Leben ja nicht selbst zu leben, nicht?“ Die Realität selbst interessierte ihn nicht.
Stefan Zweig blieb das Prominent-Sein immer fremd. Durch das Künstliche würde die Unbekümmertheit der inneren Natur verloren gehen. Wie auch bei Lagerfeld entwickelte sich mit den Jahren bei ihm jener „Wesenszug zum Privaten“. In seinen Erinnerungen schreibt er, dass er zugunsten der inneren Freiheit seit je „jede Form äußerer Ehrung“ abgelehnt hat und „keinen Orden, keinen Titel, keine Präsidentschaft in irgendeinem Vereine angenommen, nie einer Akademie, einem Vorstand, einer Jury angehört“ hat.
Auch Lagerfeld hat sich Gruppenzwängen nie unterordnen wollen: Er liebte es, allein zu sein. Auch ging er später nirgends mehr hin: „Die Leute wollen immer mit einem sprechen. Die Deutschen sind die schlimmsten. Das ist unmöglich. Man kann sich nicht mehr konzentrieren, man wird ständig unterbrochen.“ Soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook fand er „stupide“ und nutzte sie nicht. „Ich finde, das sind unnötige Indiskretionen.“
Stefan Zweig hatte zeitlebens den unbändigen Willen, anderen etwas Gutes zu tun. Carl Zuckmayer schreibt in seinen Erinnerungen über ihn: „Er war von Natur aus kein Gefühlsmensch, oder aber, er konnte und wollte die Herzlichkeit seiner Empfindungen nicht unmittelbar ausdrücken und zur Schau tragen. Wem er sich aber einmal verbunden fühlte, dem brachte er eine unbegrenzte, liebevolle Brüderlichkeit entgegen“.
Für Lagerfeld war Höflichkeit eine Erziehungsfrage. Er schrieb vor einigen Jahren: „Ich habe neulich in einer Zeitung gelesen, dass ich nett und herzlich zu den Leuten sei. Das sei eine Höflichkeit aus einer anderen Zeit.“
Stefan Zweig hatte gern junge Menschen um sich. Oskar Maurus Fontana berichtete, dass er einmal einen der „Vorstadtbälle besuchte. Zweig tanzte allerdings nicht, sondern schaute nur angeregt und „fast gierig“ zu. Er blieb „der Voyeur im Vagen“.
Lagerfeld fand Menschen seiner Generation entsetzlich, weil die meisten über Krankheit und Altern sprechen. Junge Menschen hat er in der Mode lanciert: „die haben Karrieren gemacht, und sie bringen mir ihre Jugend, ihre Spontaneität, die Welt von heute.“
Alles, was Stefan Zweig in der Welt der Literatur und der Musik etwas bedeutet hat, besaß er „in der Handschrift derjenigen, die sie geschaffen haben“ (Volker Weidermann).
Auch Karl Lagerfeld sammelte Bücher. Er besaß sogar noch die aus seiner Schulzeit. Sein Gehirn war „wie eine Diskette“ – er hatte „Milliarden von Referenzen im Kopf“.
In seinem Tagebuch vermerkt Stefan Zweig 1912: „Ich weiß, daß ich in Frauen aber auch Männern oft etwas befreie. Nur hüte ich mich, dies erotisch auszunützen, vielmehr ich erzeuge diese Freiheit erst durch eine ungesprochene erotische Ablehnung.“
Karl Lagerfeld sprach nicht über sexuelle Orientierungen, doch fand er die alte Idee von Männlichkeit überholt. Jeder Mann hatte für ihn etwas Weibliches an und in sich, beides vermischte sich. Statt „Androgynie“ verwendete er lieber das französische Wort „l’ambiguïté“ (Zweideutigkeit) Wenn er von seinem Model Baptiste Giabiconi sprach, verband er damit als Beobachter sein ästhetisches Gefühl: „In etwa dasselbe, wie wenn Sie sich im Museum ein Gemälde anschauen.“
Hunde gehörten für Stefan Zweig nicht nur zum Haushalt auf dem Kapuzinerberg in Salzburg. Er sprach immer von „meinem Sohn Rolf“ beziehungsweise „meinem Sohn Kaspar“. Die Haustiere waren neben seiner Arbeit für ihn wie eine emotionale Salzburger Heimat.
"Witzig - und dann doch zum Heulen." So bezeichnete Karl Lagerfeld einmal das Verhalten seiner Birma-Katze Choupette, die auf Shootings mit Laetitia Casta und Linda Evangelista posierte und die Titelseiten von Vogue, Grazia und Harper's Bazar zierte. Das Tier von Männermodel Baptiste Giabiconi soll der Designer während seines Urlaubs als Katzensitter versorgt haben. Das ans Herz gewachsene „Schätzchen" blieb bei Karl - und beide trugen fortan denselben Nachnamen. Choupette ist das wärmende Symbol seiner Freiheit und seiner zurückgeholten Kindheit, denn er wurde zu Hause nie eingeschränkt, hat sich selbst erzogen, konnte sich dem widmen, was er gern tat und wurde niemals unter Druck gesetzt.
Von Stefan Zweig können wir lernen, was Nachhaltigkeit in der Geschichte bedeutet - dass niemals ganz verloren geht, was Generationen vor uns geschaffen haben. Wir müssen nur (wieder) lernen, „in größeren Dimensionen zu denken, mit weiteren Zeiträumen zu rechnen“.
Lagerfeld arrangierte sich mit der ihm bemessenen Zeit und wollte bis zu seinem Tod im Jahr 2019 immer etwas Neues, ihm noch Unbekanntes schaffen. Dafür muss man sich für alles interessieren und darf nicht nur in eine Richtung gehen. Auch riet er, niemals der eigenen Eitelkeit über Erreichtes zu erliegen: „Ruhte sich niemand auf seinen Lorbeeren aus - weder Politiker noch Künstler oder Erfinder -, stünde die Zeit nicht so still, wie es einem heutzutage vorkommt.“ Eine kluge Botschaft auch zu Weihnachten und zum Jahreswechsel, die ohne unnötige Indiskretionen auskommt.
„Immer im High-Speed, kreativ bis zum letzten Tag“: Alfons Kaiser über Karl Lagerfeld
Das Verschwinden der schönen alten Welt: Was von Karl Lagerfeld bleibt
Nicole Simon (Fotografie) und Alexandra Hildebrandt (Text): KARL. Reflections. Kindle Edition 2020.
Ulrich Weinzierl: Stefan Zweigs brennendes Geheimnis. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015.
Volker Weidermann: Ostende 1936, Sommer der Freundschaft. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.