Benteler-Chef Ralf Göttel zum Gasembargo: „Die Autoproduktion in Europa käme zum Erliegen“
Ohne russisches Gas könnte der Autozulieferer 60 Prozent seiner Produkte nicht mehr herstellen. Mit noch größeren Sorgen blickt Göttel nach China.
Düsseldorf. Als Ralf Göttel 2017 die Führung von Benteler übernahm, war das Familienunternehmen angeschlagen. Schulden in Milliardenhöhe gefährdeten die Existenz des Autozulieferers. Ende 2020 gelang es Göttel, mit den Banken eine Refinanzierung auszuhandeln, die an einen Sanierungsplan gebunden ist. Seitdem läuft das Geschäft besser.
Der Umsatz ist im vergangenen Jahr von 6,4 auf 7,3 Milliarden Euro gestiegen. Vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen und Finanzierungsaufwendungen blieben Benteler unterm Strich 330 Millionen Euro. Der Cashflow bewege sich laut Göttel auf einem „Break-even-Niveau“. Benteler könne sein Geschäft organisch finanzieren und sei nicht auf weitere Kredite angewiesen.
Der Autozulieferer fertigt unter anderem Karosserieteile, Fahrwerksmodule und Fahrwerkskomponenten. Rund 85 Prozent des Konzernumsatzes macht das Autozulieferergeschäft aus. Die verbliebenen 15 Prozent stammen aus der Stahlrohrsparte.
Die russische Invasion in der Ukraine hat Auswirkungen auf das Geschäft von Benteler. Dadurch sind Lieferketten teilweise gerissen und wichtige Handelsrouten versperrt, sagt Göttel. Ein Gasembargo würde Benteler stark treffen. Rund 60 Prozent der Produkte könnte das Unternehmen dann nicht mehr fertigen, so Göttel.
Der Benteler-Chef geht in diesem Fall davon aus, dass die europäische Autoproduktion zum Erliegen käme. „Nicht allein wegen uns, sondern weil immer irgendein Akteur in der Produktionskette wegbrechen würde“, sagt Göttel.
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Lesen Sie hier das gesamte Interview:
Herr Göttel, in Russland hat Benteler ein Automotive-Werk. Wie ist derzeit die Lage in den Werken?
Wir haben uns klar gegen Krieg positioniert und produzieren in Russland derzeit nicht mehr. Einige Komponenten, die Benteler in Russland weiterverarbeitet hatte, sind mittlerweile von Ausfuhrbeschränkungen betroffen wegen des Risikos des Dual Use. Diese Teile könnten auch in ein Militärfahrzeug eingebaut werden.
Um welche Komponenten handelt es sich?
Wir verwenden beispielsweise Elektronikbauteile in unseren Fahrwerkskomponenten, die von anderen Lieferanten kommen. Teile, die wir direkt produzieren, sind nicht von Ausfuhrbeschränkungen betroffen.
Continental hat wegen behördlichen Drucks die Produktion in seinem russischen Reifenwerk wieder aufgenommen. Sieht sich Benteler zu ähnlichen Schritten gezwungen?
Ich kann auf jeden Fall bestätigen, dass es diesen behördlichen Druck vor Ort mit der Drohung der Enteignung gibt. Es wird in diesem Zusammenhang auch mit persönlichen Konsequenzen für einzelne Mitarbeiter gedroht. Wir stehen aber perspektivisch nicht vor der Wahl zwischen einer Wiederaufnahme der Produktion oder einer Enteignung, weil wir nicht für den Endverbrauchermarkt fertigen.
Wo genau sind Ihre Lieferketten infolge des Krieges gerissen beziehungsweise angespannt?
Wir haben eine kritische Lieferkette in der Ukraine. Da geht es um metallische Vormaterialien für Motorenkomponenten. Gemeinsam mit dem betroffenen Kunden haben wir das Thema stabilisiert. Zum einen, indem wir die Produktion in andere Länder verlagert haben. Zum anderen konnte die Produktion in der Ukraine teilweise wiederaufgenommen werden, weil sich die Frontlinien dort verschoben haben.
Und in Russland?
Material aus Russland beziehen wir nicht direkt. Es beschäftigen uns vor allem logistische Themen. Wichtige Handelsrouten funktionieren nicht mehr, beispielsweise Zugverbindungen aus China und Überflugrechte. Dazu kommt der Mangel an Lkw-Fahrern.
Mit welchem logistischen Mehraufwand rechnen Sie in diesem Jahr?
Wir rechnen mit einem hohen zweistelligen Millionenbetrag. Dieser entsteht nicht nur durch die russische Invasion in der Ukraine und ihre Folgen, es spielen auch höhere allgemeine Rohstoffkosten eine bedeutende Rolle. Und die Seefracht, die durch den Corona-Lockdown in China beeinträchtigt wird.
Vor allem vor dem Hafen in Schanghai stauen sich die Frachter. Was wird das für Auswirkungen auf die Autoindustrie haben?
Das wirft die mittelfristige Planung vieler Autobauer und Automobilzulieferer durcheinander. Auf der ersten und zweiten Zuliefererebene kann man die Auswirkungen noch abschätzen, für alle Ebenen darunter wird es schwierig. Die Lieferkette ist außerordentlich komplex. Wir befinden uns als Industrie derzeit in einem Zeitalter der Volatilität, wie ich es in dieser Form noch nie erlebt habe. Wenn wir Glück haben, dann wird es nur kurzfristig teurer, weil beispielsweise fehlende Komponenten eingeflogen werden müssen. Wenn wir Pech haben, dann wird es wieder einen Mangel an diversen Teilen geben.
„Befürchte, dass der Konflikt nicht über Sanktionen gelöst werden kann“
Bei der Herstellung von Stahlrohren spielt die Prozesswärme eine wichtige Rolle. Wie stark ist Benteler von Gas abhängig?
Wir sind laut Bundesnetzagentur ein sogenannter Gas-Großverbraucher in Deutschland. In einer möglichen Abschaltsequenz wären wir daher betroffen. Diese Sequenzen werden gerade intensiv diskutiert. Und Benteler ist sicherlich im Vergleich zur Medizin- oder Lebensmitteltechnik weniger systemrelevant.
Was würde passieren, wenn kein russisches Gas nach Europa mehr fließen würde?
Wir sind international aufgestellt, von unseren 92 Standorten sind 18 in Deutschland. Fakt ist jedoch: Wenn es zu einem längerfristigen Gasmangel käme, könnten wir die Produktion hierzulande nicht aufrechterhalten. Und ich gehe davon aus, dass die gesamte Automobilindustrie in Europa zum Erliegen kommen würde. Nicht allein wegen uns, sondern weil immer irgendein Akteur in der Produktionskette wegbrechen würde.
Was wären die Konsequenzen für Benteler?
Die größten Gasverbraucher bei uns sind die Lackierstraßen und die Wärmebehandlung, also das Erhitzen und Formen von Stahl. Ungefähr 40 Prozent unserer Produkte könnten ohne Gas hergestellt werden, 60 Prozent nicht.
Die deutsche Wirtschaft verurteilt den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Sie verschließt sich aber vor wirksamen Sanktionen wie einem Gasembargo. Wie steht Benteler dazu?
Als Mensch und Bürger kann ich verstehen, wenn Europa die Sanktionen weiter verschärft, um der Gewalt ein Ende zu setzen. Für viele Unternehmen und ihre Mitarbeitenden hätte das aber fatale Folgen. Ich befürchte zudem, dass sich der Krieg längst einer gewissen Logik entzieht. Sanktionen, die schon seit Jahren existieren, haben offensichtlich nicht viel gebracht.
Sie halten die derzeitigen Sanktionen gegen Russland also für nicht ausreichend?
Ich befürchte, dass der Konflikt nicht direkt über Sanktionen gelöst werden kann.
Der Krieg wird aber irgendwann enden, das Verhalten der deutschen Wirtschaft während des Krieges wird bleiben. Was glauben Sie, wie werden die Menschen, vor allem in der Ukraine, mit den Bildern russischer Gräueltaten in Butscha und Mariupol im Hinterkopf, dieses Verhalten in der Rückschau bewerten?
Man wird sich wahrscheinlich fragen, warum man gewisse Dinge nicht hat kommen sehen und früher entschieden gehandelt hat. Die Menschen werden sich später sicherlich darüber wundern, warum die Politik und auch die Wirtschaft so lange nicht wahrgenommen haben, welche Absichten die russische Regierung tatsächlich verfolgt. Aber es ist unheimlich schwierig vorherzusagen, wie über das, was derzeit in Europa passiert, in Zukunft gedacht wird.
Wie bewerten Sie die aktuelle Politik der Bundesregierung hinsichtlich des Ukrainekonflikts?
Generell habe ich ein Grundvertrauen, dass die deutsche Regierung im Rahmen des Möglichen agiert und Dinge einleitet, die lösungsorientiert sind. Ich kenne ja auch nicht alle Hintergründe. Ob sie dabei medial immer geschickt agiert, kann man diskutieren.
Benteler hat ein Röhrenwerk in den USA, das vor allem die Fracking-Industrie beliefert. Hat sich die Nachfrage nach Rohren für die Gasförderung per Fracking-Verfahren erhöht?
Die Nachfrage ist bereits vor einem Dreivierteljahr merklich gestiegen. Der Energiebedarf der westlichen Welt ist nach den Covid-Zeiten extrem gestiegen. Es gibt keine direkte Korrelation zum Ukrainekrieg und zu den Folgen für die Gasversorgung in Europa.
Das US-Werk stand in der Kritik, weil es hohe Investitionssummen verschlungen und Verluste geschrieben hatte. Hat sich das geändert?
Ja, unser Werk in Shreveport ist mittlerweile profitabel und macht uns seit Herbst wirklich Freude. Hier hat sich das Blatt gewendet.
Die deutschen Autohersteller priorisieren derzeit Marge vor Volumen. Das ist schlecht für Zulieferer, die von Stückzahlen abhängig sind. Wie wappnen Sie sich dagegen?
Wir haben keine überproportionale Abhängigkeit von einzelnen Herstellern oder Modellen. Entsprechend sind wir hiervon nicht so stark betroffen. Aber klar, als Zulieferer wäre uns natürlich lieber, wenn die Hersteller ihre Volumen wieder erhöhen würden. Langfristig wird dies auch geschehen.
Mit der aktuellen Absatzprognose von weltweit weniger als 80 Millionen Pkw ist Benteler in der Lage, schwarze Zahlen zu schreiben?
Ja, das schaffen wir. Die ersten drei Monate des laufenden Geschäftsjahrs haben es gezeigt. Aktuell schmerzen uns die Lockdowns und Produktionsausfälle in China natürlich. Aber normalerweise holt man das im Jahresverlauf wieder auf.
„Wir können unser Geschäft organisch finanzieren“
Die starke Abhängigkeit der Autoindustrie von China beunruhigt die Branche. Läuft die Autoindustrie Gefahr, dass man sich zu stark von China abhängig macht?
Wenn wir uns tatsächlich singulär von China abhängig gemacht hätten, dann wäre das problematisch. Ich sehe China realistisch. Wir tun gut daran als Industrie, nicht blauäugig alles auf eine Karte zu setzen.
Wie hoch ist der China-Anteil am Gesamtumsatz von Benteler?
Im Geschäftsjahr 2021 waren es rund 17 Prozent.
Viele Autobauer sind deutlich stärker von China abhängig. Wie bewerten Sie das?
Es ist kein Fehler, auf den chinesischen Markt zu setzen. Die politische Komponente bekommt aber in jüngster Zeit einen immer größeren Stellenwert. Daher sollte man das eigene Engagement sicher mit einer gesunden Vorsicht bewerten.
Glauben Sie, dass sich einzelne Hersteller zu stark von China abhängig gemacht haben?
Ich glaube, es ist noch zu früh, das zu sagen. Allerdings sehe ich kein Problem darin, wenn Autobauer bei der Produktion von China abhängig sind. Deutlich kritischer wäre eine Entwicklungsabhängigkeit. Und da sind die Hersteller aus meiner Sicht derzeit in einer gesunden Balance.
2021 ist Bentelers Umsatz gestiegen. Wie hat sich der Cashflow entwickelt?
Bei den Cashflows bewegen wir uns auf einem Break-even-Niveau. Unser Geschäft können wir also organisch finanzieren. Im Moment sind wir nicht auf zusätzliche Bankenkredite angewiesen.
Wie ist der Stand bei der Restrukturierung?
Die schwierigen und anspruchsvollen Themen haben wir erfolgreich umgesetzt: Beim Personal- und Verwaltungsabbau sind wir schneller vorangekommen als angenommen. Insgesamt sind wir zufrieden mit der Geschwindigkeit sowie der Art und Weise der Restrukturierung. Heute sind wir schlanker, agiler und widerstandsfähiger als noch vor einigen Jahren, können wieder Akzente setzen.
Weitere Personalabbaumaßnahmen sind nicht vorgesehen?
Im Rahmen des Transformationsprogramms nicht mehr. Wenn sich der Markt so hält, wie er sich derzeit darstellt, dann gibt es diesbezüglich keinen weiteren Bedarf.
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Im Verbrenner-Bereich gibt es verstärkte M&A-Aktivitäten und Ideen, wie solche Geschäftsteile ausgelagert werden können. Wie nehmen Sie die Entwicklung wahr?
Das gibt es seit drei Jahren, aber bislang hat sich von diesen Ideen keine bewährt. Generell sind 85 Prozent unseres Produktportfolios unabhängig von der Antriebsart. Unser Geschäft mit Abgasnachbehandlung funktioniert gut und generiert Liquidität, das wollen wir sicherlich nicht verschenken. Im Moment gibt es auf dem M&A-Markt eigentlich nur Akteure, die solche Geschäftsteile entweder gratis oder selbst sogar dafür Geld haben wollen.
Welche Akteure sind das?
Das sind vor allem Finanzinvestoren.
Was ist mit dem gewerkschaftlich initiierten Fonds, der Best Owners Group?
Die hat sich nie als ernsthafte Alternative zu den Finanzinvestoren etabliert.
Die Best Owners Group ist also aus Ihrer Sicht Geschichte?
So stellt es sich derzeit zumindest dar.
Wie ist der Stand um die Elektroplattform Rolling Chassis, die Benteler zusammen mit Bosch entwickelt hat? Die wurde vor zwei Jahren mit viel Aufsehen beworben, seitdem hört man kaum noch etwas davon.
Wir haben die ersten Aufträge gebucht. Darüber hinaus verfolgen wir im Bereich der People-Mover gemeinsam mit Beep und Mobileye ambitionierte Ziele. Der Bereich hat riesiges Potenzial; wir verbinden damit Wachstums- und Beschäftigungschancen. 2024 möchten wir die ersten Serienfahrzeuge in den Markt bringen. Im Moment suchen wir hier noch weiteres Wachstumskapital. Das ist ein sehr großer Markt, den wir nicht singulär aus eigener Kraft stemmen können.
Beim Rolling Chassis hatte man anfangs das Gefühl, dass sich daraus recht schnell ein profitables Geschäft entwickeln könnte. Das ist jetzt doch langwieriger als gedacht, oder?
Es waren dreieinhalb Jahre Entwicklungszeit. Und klar ist, dass wir keine Autos bauen wollen. Wir werden Anfang kommenden Jahres unsere Arbeit auf der CES präsentieren – seien Sie gespannt!
Vielen Dank für das Gespräch.
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