Bescheidenheit – Warum sie im Job zum Stolperstein werden kann
„Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter komm ich ohne ihr.“ Diese Aussage kennt jeder. Im Coaching mit Fach- und Führungskräften wird mir dann immer wieder bewusst, welches Risiko der Abhängigkeit dahintersteckt.
Eine konkrete Situation aus meiner Beraterpraxis hat mich dazu inspiriert, heute über dieses Thema zu schreiben:
Lia arbeitet seit fünf Jahren als Projektleiterin in einem mittelständischen Unternehmen. Fachlich ist sie exzellent – sie löst komplexe Probleme, koordiniert ihr Team souverän und liefert Ergebnisse, die auch ihre Kunden begeistern.
Doch bei Meetings meldet sie sich selten zu Wort. Wenn Lob ausgesprochen wird, relativiert sie ihre Leistung. Kolleg:innen, die sich selbstbewusster präsentieren, erhalten Anerkennung – und oft auch spannendere Projekte.
Lia merkt: Ihre Fachkompetenz ist nicht der Regler für Karrierechancen. Sie ist abhängig von der Wahrnehmung anderer.
Das Dilemma der Bescheidenen
Bescheidene Menschen leisten häufig hervorragende Arbeit – aber ihre Leistung und die erzielten Erfolge werden nicht an entscheidender Stelle im richtigen Umfang eingeordnet. Hier ein paar Folgen:
Mini-Case 1 – Der übersehene Beitrag
Michael entwickelt eine effiziente Lösung für einen IT-Prozess. Kolleg:innen übernehmen die Idee, präsentieren sie und erhalten dafür Anerkennung. Michael bleibt im Hintergrund.
Mini-Case 2 – Bewerbungssituation
Sabine bewirbt sich bei einem Personalberater auf eine Führungsposition. Sie ist fachlich überlegen, spricht jedoch zurückhaltend über ihre Erfolge. Der Berater traut ihr die Aufgabe nicht zu. Eine Kandidatin, die ihre Leistungen klar darstellt, wird bevorzugt vom Berater vorgestellt und letztlich auch eingestellt.
Mini-Case 3 – Das Teamprojekt
Lukas bringt eine entscheidende Idee für eine neue Recruitingkampagne ein, äußert sie jedoch vorsichtig. Im Brainstorming wird die Idee von anderen aufgegriffen, die sie selbstbewusster präsentieren. Lukas’ Beitrag wird als „Idee der Gruppe“ wahrgenommen.
Warum Bescheidenheit verstärkt werden kann
Bescheidenheit tritt selten allein auf. Sie wird häufig unterstützt durch:
Introvertiertheit: Weniger Präsenz im Team.
Schüchternheit oder Unsicherheit: Hemmung, sich selbst zu präsentieren.
Unkenntnis der eigenen Leistung: Fehlende Klarheit über den eigenen Beitrag.
Diese Faktoren erhöhen das Risiko, dass die Leistung unbemerkt bleibt.
Die Abhängigkeit vom Umfeld
Wer seine Leistung nicht sichtbar macht, ist stark abhängig von anderen:
Vorgesetzte, die über Gehalt, Beförderungen oder Projektvergabe entscheiden.
Kolleg:innen, die Ideen übernehmen und sich damit schmücken.
Teams, die den Beitrag einzelner nicht korrekt einordnen.
Bescheidene Menschen geben teilweise ihre Karriere in die Hände anderer – oft ohne es bewusst zu merken.
Sichtbarkeit ohne Prahlerei
Es geht nicht darum, bescheidene Personen in Selbstvermarkter:innen zu verwandeln. Vielmehr geht es darum, die eigene Leistung fair und sichtbar zu kommunizieren.
Schritt 1 – Bewusstsein schaffen
Welche Erfolge bleiben unbemerkt?
In welchen Situationen sollte ich meine Leistung klar formulieren?
Schritt 2 – Reflexion
Was habe ich erreicht?
Welche meiner Leistungen sind besonders wertvoll für Team und Unternehmen?
Schritt 3 – Gezielte Kommunikation
Kurze, klare Formulierungen für Meetings, Mitarbeitergespräche oder Bewerbungen.
Lob annehmen lernen und eigene Erfolge anerkennen.
Sichtbarkeit bedeutet nicht Prahlen – sondern authentisch und selbstbewusst auftreten.
Reflexionsfragen für die Praxis
Welche meiner Erfolge bleiben aktuell unbemerkt?
Wer weiß wirklich, was ich leiste – außer mir selbst?
Wie könnte ich beim nächsten Gespräch einen Erfolg klar und authentisch darstellen?
Fazit
Bescheidenheit ist eine Tugend – aber im Berufsleben kann sie riskant sein, wenn die eigene Leistung nicht sichtbar wird.
Wer reflektiert, welche Erfolge sichtbar sind, und Strategien entwickelt, um diese fair zu kommunizieren, kann Bescheidenheit mit Erfolg verbinden – und die Anerkennung erhalten, die er oder sie verdient.