Besser entscheiden lernen: Warum Durchschnittswerte in die Irre führen
Die meisten von uns orientieren sich bei Entscheidungen an Durchschnittswerten – egal, um was es geht. Doch in einer komplexen Welt ist das die falsche Denkweise.
Von Adrian Gore
Neulich führte ich mit einem unserer Seniormanager ein Gespräch über den neuen Bankingbereich unseres Unternehmens Discovery Limited. (Das südafrikanische Unternehmen hat sich vom lokalen Krankenversicherer zum globalen Finanzdienstleister entwickelt). Er erzählte mir, dass 80 Prozent der Kreditkartenumsätze auf nur 21 Prozent unserer Kunden zurückgingen. Dieses Ungleichgewicht bereitete ihm große Sorgen. Er überlegte daher, wie sich die Verteilung der Umsätze im Kreditkartengeschäft gleichmäßiger gestalten ließe.
Ein ähnliches Gespräch führte ich mit der Fundraising-Managerin einer gemeinnützigen Organisation, der ich vorstehe: Der Großteil der gesammelten Gelder komme von rund 20 Spenderinnen und Spendern. Das könne doch kaum nachhaltig sein und werde die Organisation wohlmöglich in den Abgrund führen, sagte sie. Sowohl die Reaktion des Bankingexperten als auch die der Fundraising-Managerin beruhen auf einem weitverbreiteten kognitiven Fehler, der tief greifende Auswirkungen auf die Führung von Unternehmen hat.
Beide Führungskräfte betrachten die Welt aus einem weitgehend Gauß’schen Blickwinkel, der auf den Mathematiker Carl Friedrich Gauß mit seiner glockenförmigen Kurve zurückgeht. Die große Mehrheit der Menschen glaubt, dass die meisten Dinge entsprechend einer Glockenkurve verteilt sind – oder zumindest so verteilt sein sollten. In dieser Welt würde das Gros der Kreditkartenbesitzer oder Spender beim Geldausgeben nahe am Durchschnittsumsatz bleiben. Die verbleibenden Personen würden sich dann symmetrisch zu beiden Seiten des Durchschnittsbetrags ausbreiten. Der Mittelwert, der Median und der Modalwert (siehe Glossar; hier finden Sie auch Erläuterungen weiterer Begriffe) fielen in diesem Fall zusammen. Die Hälfte der Menschen befände sich unter dem Durchschnitt, die andere Hälfte darüber. In dieser Welt wären die Variablen oder Ereignisse unabhängig voneinander und beeinflussten sich gegenseitig nicht.
Warum denken wir so? Weil unser Gehirn darauf gepolt ist, Fairness als lohnend und positiv zu bewerten. Ungerechtigkeit beurteilen wir dagegen negativ. Eine Welt, die nach der Gauß’schen Normalverteilung geordnet ist und in der sich die meisten Menschen um einen stabilen Durchschnitt scharen, fühlt sich für uns fair und vorhersehbar an. Hinzu kommt, dass unser Gehirn Symmetrie als wohltuend empfindet – egal ob in Gesichtern, in der Kunst oder in Statistiken. Auch unsere Schulbildung basiert zum größten Teil auf der sogenannten Normalverteilung nach Gauß sowie der Newton’schen Denkweise.
Isaac Newton lehrte uns, dass sich die Wirklichkeit in unabhängige Variablen sowie in Ursache und Wirkung herunterbrechen lässt. Diese Herangehensweise prägt viele Disziplinen bis heute, von der Medizin über die Statistik bis hin zur Unternehmensführung. Und tatsächlich gibt es etliche Phänomene, die nach der Gauß’schen Verteilung funktionieren. Nehmen wir etwa Testergebnisse: Die gemessenen Variablen, also die Testergebnisse, sind das Resultat eines Additionsprozesses. Es ergibt sich aus der Summe der Punkte für jede Antwort.
Ich habe mich intensiv mit Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie beschäftigt und so eine Menge über statistische Verteilungen gelernt. Dennoch war ich lange Zeit intuitiv der Meinung, dass die meisten Dinge auf der Welt entsprechend einer Gauß’schen Glockenkurve verteilt sind. Sind sie aber nicht. Und es ist wichtig, dies zu verstehen.
Vor zehn Jahren las ich mehrere Aufsätze zum Thema kognitive Verzerrung. Ich begriff, dass das meiste, was wir Menschen in unserem Leben tun, dem Pareto-Prinzip folgt und sich eben nicht in Form einer „normalen“ Glockenkurve abbilden lässt. Das gilt nicht nur für unseren Alltag, sondern auch für die Wissenschaft. Fächer wie Physik, Biologie, Linguistik, Finanz- oder Computerwissenschaften folgen ebenfalls der Pareto-Kurve.
Das Pareto-Prinzip geht auf den italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto zurück. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts stellte er fest, dass 20 Prozent der Bevölkerung im Besitz von 80 Prozent des gesamten Grund und Bodens in Italien waren. Das von ihm entwickelte Prinzip besagt, dass bereits eine kleine Veränderung einer Variable mit einer großen Veränderung einer anderen verbunden ist. Das liegt daran, dass die Variablen in diesem Modell miteinander multipliziert werden; bei der Normalverteilung werden sie hingegen addiert. Dieses Prinzip wird auch als Potenzgesetz bezeichnet.
Statt einer symmetrischen Glockenkurve nimmt die Verteilung der Beobachtungen und Ergebnisse hier die Form einer steil abfallenden Kurve an, ähnlich einem Hockeyschläger. Der rechte Teil der Kurve senkt sich und nähert sich der Null. Sein Aussehen brachte diesem Teil der Pareto-Verteilung im Englischen den Namen Long Tail ein. Anders gesagt: Der Verlauf zeigt, dass es neben vielen Beobachtungen mit niedrigem Wert auch eine kleine Anzahl mit hohem Wert gibt, die als Abweichungen wahrgenommen werden.
Sobald Sie darauf achten, werden Sie dieses Muster fast immer und beinahe überall finden. Die Häufigkeit, mit der wir bestimmte Wörter nutzen, die Stärke von Erdbeben und Orkanen, die Größe von Unternehmen und Städten, die Anzahl von Buchverkäufen und die Verteilung von Olympia-Medaillen auf verschiedene Länder: Das alles funktioniert nach dem Potenzgesetz. Es gilt sogar für die sozialen Medien. So zeigte eine US-Studie, dass die 25 Prozent aktivsten Twitter-Nutzer 97 Prozent der Tweets absetzen. In unserem Unternehmen Discovery Insure, das auf kurzfristige Versicherungsverträge spezialisiert ist, verursachen 30 Prozent der Fahrer 60 Prozent aller schweren Unfälle. Die Ausbreitung der Corona-Pandemie verlief ebenfalls nach dem Pareto-Prinzip: Nachweislich wurden in zwei indischen Bundesstaaten 60 Prozent der Neuinfektionen von 10 Prozent der Infizierten verursacht. 71 Prozent der Erkrankten steckten hingegen überhaupt niemanden an. Indien ist kein Einzelfall. Das beschriebene Infektionsmuster zeigte sich auch in anderen Ländern.
Warum ist das Pareto-Prinzip die eigentliche Norm, nicht die Gauß’sche Normalverteilung? Und vielleicht noch wichtiger: Warum lässt sich das Pareto-Prinzip in immer mehr Bereichen beobachten? Der Grund liegt darin, dass sich die meisten Sachverhalte immer komplexer gestalten. Da sich komplexe Systeme aus komplexen, miteinander zusammenhängenden Elementen ergeben, folgen sie fast immer dem Potenzgesetz. Je enger die Zusammenhänge eines komplexen Systems sind, desto ausgeprägter ist das Pareto-Prinzip.
Volkswirtschaften, Lieferketten, Märkte und Handel sind mittlerweile stark miteinander verflochten und global ausgerichtet. Die Entwicklungen in IT und Logistik haben die Vernetzung multipler Systeme exponentiell verstärkt. In diesen Netzwerken verhalten sich die Variablen nicht additiv, sondern beeinflussen sich gegenseitig. So entstehen dynamische, sich verstärkende und kaskadenartige Prozesse, die nicht linear sind, multiplikativ und deshalb weit schlechter vorhersehbar. Tatsächlich können diese Prozesse zu sogenannten Black-Swan-Ereignissen führen, da die Varianz bei einer Pareto-Verteilung im Gegensatz zur Gauß’schen Verteilung nicht besonders klar definiert ist.
Die Potenzgesetze sind nicht nur allgegenwärtig, sie lassen sich auch kaum umgehen. Egal, was wir tun: Eine kleine Zahl an Datenpunkten – Menschen, Entscheidungen oder Beobachtungen – ist regelmäßig für einen großen Anteil der Ergebnisse verantwortlich. Auch politische Programme, die für mehr Einkommensgerechtigkeit sorgen sollen, schaffen es oft nicht, das Pareto-Prinzip auszuhebeln.
Nehmen wir China, das erheblich mehr Wert auf Einkommensgerechtigkeit legt als andere Länder. Dennoch hat es einen höheren Gini-Koeffizienten als Deutschland oder Großbritannien. Solche Verteilungen sehen wir bei Discovery Limited auch in unserer Krankenversicherungssparte. 20 Prozent der Patientinnen und Patienten verursachen hier 79 Prozent der Gesundheitskosten. Eine ähnliche Verteilung ist innerhalb dieser 20-Prozent-Gruppe zu finden. Auf die 20 Prozent, die in dieser Gruppe am schwersten erkrankt sind, entfallen fast 60 Prozent der Kosten. Wer sich die Mühe macht, das Zahlenwerk herunterzubrechen, erkennt dabei regelmäßig, dass eine relativ kleine Zahl an Menschen für den mit Abstand größten Kostenblock sorgt. Diese Diskrepanz zwischen unserer Wahrnehmung der Gauß’schen Verteilung als Normalfall und der Realität, in der das Pareto-Prinzip vorherrscht, ist weit mehr als eine theoretische Spitzfindigkeit. Dieser Irrtum hat weitreichende praktische Konsequenzen. Die Fehleinschätzung sorgt dafür, dass unsere Lösungen für die allermeisten Probleme bestenfalls suboptimal sind.
Der kanadische Autor Malcolm Gladwell hat beschrieben, dass die typischen Maßnahmen zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit – Obdachlosenunterkünfte und Suppenküchen – nicht effizient sind, da sie auf falschen Annahmen beruhen. Sie basieren auf der Vorstellung, dass die Mehrheit der Obdachlosen einem Durchschnittsmuster folgt. Demnach leben sie seit einer durchschnittlichen Anzahl von Tagen auf der Straße, kosten den Staat eine durchschnittliche Summe Geld und sind aus weitgehend identischen Gründen obdachlos. Das ist grundlegend falsch, denn für jeden einzelnen dieser Aspekte trifft das Potenzgesetz zu und nicht etwa die Gauß’sche Glockenverteilung.
Der US-Wissenschaftler Philip Anderson, Nobelpreisträger für Physik, war davon überzeugt, dass wir uns vom „Durchschnittsdenken“ und der Fokussierung auf den Mittelwert befreien müssen, weil beides fast immer in die Irre führe. Ein weithin bekannter Witz illustriert seine Forderung: Bill Gates kommt in eine Bar, und im gleichen Augenblick werden alle Gäste zu Millionären – jedenfalls im rechnerischen Durchschnitt.
Abweichungen und Pareto-Phänomene werden oft als Ausnahmen abgetan, obwohl sie in der Praxis die größten Auswirkungen haben, im Guten wie im Schlechten. Aus diesem Grund konnte aus einem kleinen Ausbruch des Coronavirus eine weltweite Pandemie werden, die sich auch für die Wirtschaft zur Katastrophe entwickelte.
Es wird sich anfangs vielleicht unangenehm anfühlen, wenn Sie sich klarmachen, dass wir in einer Welt leben, die zum größten Teil nach dem Pareto-Prinzip funktioniert und daher grundsätzlich unfair, asymmetrisch und wenig vorhersehbar ist. Von Vorteil ist allerdings, dass systemischer Wandel in einer solchen Welt leichter und schneller vorangeht. In einer Gauß’schen Welt müssen sich alle Elemente innerhalb eines Systems wandeln, damit sich das gesamte Konstrukt verändern kann. Das ist mühsam, zeitaufwendig und in vielen Fällen gar unmöglich. In einer Pareto-Welt hingegen führt eine einzige Veränderung im Long Tail zur Veränderung des gesamten Systems.
Was bedeutet all dies für Führungskräfte in der Wirtschaft? Nachstehend beschreibe ich drei praktische Auswirkungen auf Innovation, Risikomanagement und Mitarbeiterführung.
Konzentrieren Sie sich auf große Entscheidungen im flachen Kurvenabschnitt des Long Tail, nicht auf inkrementelle Veränderungen.
In einer Pareto-Welt lassen sich scheinbar unlösbare Probleme durch eine positive Veränderung im flachen Kurvenabschnitt lösen. Wie das geht, hat die Stadt Denver im Kampf gegen Obdachlosigkeit gezeigt. Die Stadtoberen entwickelten spezielle Maßnahmen für Menschen, die dauerhaft in der Obdachlosigkeit leben. Diese im Vergleich winzige Gruppe verursachte den größten Anteil der Sozial- und Gesundheitskosten, war aber besonders schwer zu erreichen und stellte die größte Herausforderung dar.
In einem Pareto-System kann bereits eine einzige Person oder Entscheidung einen großen Umbruch in Gang setzen. Die Vision eines Entrepreneurs wie Steve Jobs zum Beispiel kann eine komplette Branche verändern. Stellen Sie sich vor, welche Auswirkungen es gehabt hätte, wenn Jobs sein Unternehmen nicht im Silicon Valley, sondern in Johannesburg gegründet hätte: Die Bruttoeinnahmen von Apple entsprechen heute ungefähr der Hälfte des südafrikanischen Bruttoinlandsprodukts.
Radikale Innovationen, die ganze Unternehmen und Branchen verändern, finden fast immer im Long Tail der Pareto-Kurve statt. Der von mir 1992 gegründete Discovery-Konzern hat sich mit der Einführung unseres Vitality-Programms enorm verändert: Die Auswirkungen einer einzigen großen Entscheidung sind bis heute in der Organisation zu spüren. Ein paar Jahre nachdem wir unser Versicherungsunternehmen gegründet hatten, kamen wir durch ein Gespräch mit den Betreibern eines Fitnessstudios auf eine komplett neue Idee: Könnten wir nicht ein Programm entwickeln, das die Menschen belohnt, wenn sie gesunde Dinge tun? Was wäre, wenn die Teilnehmer keine Mitgliedsbeiträge im Sportstudio mehr zahlen müssten? Ich erinnere mich noch genau daran, dass wir nur zehn Minuten brauchten, um dieser Idee Gestalt zu geben.
Die Entscheidung, diese Idee umzusetzen, hat unser gesamtes Unternehmen verändert. Sie war der Ausgangspunkt für ein neues Versicherungsmodell. Dieses Modell beruht auf den Prinzipien der Verhaltensökonomie und des Shared Value. Unser Vitality-Programm sorgt dafür, dass es für Discovery, für seine Kunden und Lieferanten sowie die Menschen vor Ort Vorteile bringt, wenn sie Wissen, Instrumente und Anreize für ein gesünderes Leben vermitteln.
Ich behaupte nicht, dass schrittweise Verbesserungen nicht wichtig sind. Ich bin jedoch fest davon überzeugt, dass radikale Innovationen, die zu systemischen und tief greifenden Veränderungen führen können, mit großen Entscheidungen im Long Tail beginnen. Führungskräfte sollten ihre Aufmerksamkeit deshalb gezielt auf diesen Bereich ausrichten.
Nutzen Sie das Potenzgesetz für Ihre Zwecke, anstatt es zu bekämpfen. Identifizieren Sie Probleme im Long Tail so früh wie möglich und gehen Sie diese an.
Der Perspektivwechsel hin zu einer Pareto-Welt hat Auswirkungen darauf, wie wir mit Risiken und Unsicherheit umgehen. Wir verwenden sehr viel Zeit und Energie dafür, nicht lineare Phänomene zu „korrigieren“, die wir als unnormal und riskant empfinden – etwa asymmetrisches Fundraising oder Umsätze bei Kreditkartenzahlungen. Sicherlich gibt es Überlegungen zu Moral und Fairness, die eine Rolle spielen sollten. Verteilungen nach dem Potenzgesetz sind jedoch eher die Regel als die Ausnahme. Und da sie sich kaum aushebeln lassen, erfordern sie andere Lösungen für den Umgang mit Risiken. Zudem verlangen sie eine Konzentration auf die Dynamik im Long Tail.
Wie oben beschrieben, können Innovationen im Long Tail ein gesamtes System vorteilhaft verändern. Eine falsche Entscheidung hier kann allerdings auch das komplette System gefährden. Das ist ein Szenario, das mich sehr beschäftigt. Wie gehen wir also mit Unsicherheit und Chaos in einer Pareto-Welt um? Wie treffen wir Entscheidungen? Wie vermeiden wir schlechte Entscheidungen im Long Tail? Und wie können wir sie korrigieren, bevor sie zur Katastrophe werden?
Eine vielversprechende Methode besteht darin, extreme Ergebnisse mit der Plausibilität verschiedener Zukunftsszenarien in Verbindung zu setzen, so wie es die Potential-Surprise-Theorie des englischen Ökonomen George Shackle beschreibt. Diese Methode soll Entscheidungen in extremer Unsicherheit erleichtern. Die herkömmlichen Wahrscheinlichkeitsprinzipien stoßen hier an ihre Grenzen, weil sie sich auf vordefinierte und sich gegenseitig ausschließende Ereignisse stützen, die alle möglichen Szenarien abdecken sollen. Es liegt auf der Hand, dass dies in Zeiten besonderer Unsicherheit nicht funktioniert.
Ein Entscheider, der die Potential-Surprise-Theorie anwendet, wählt hingegen zwischen verschiedenen möglichen Szenarien aus. Wie seine Entscheidung ausfällt, hängt davon ab, für wie plausibel er den Eintritt eines Ereignisses hält und wie er die möglichen Vorteile und Nachteile bewertet, die jeweils damit verbunden sind. Anders als traditionelle Wahrscheinlichkeitskonzepte lässt dieser Ansatz Raum für Überraschungen und neue Möglichkeiten. Denken Sie also lieber über Plausibilität und Konsequenzen nach anstatt über Wahrscheinlichkeiten. Und gewöhnen Sie sich an, in größeren Zusammenhängen zu denken, wenn Sie sich mit potenziell negativen Entwicklungen befassen.
Es stimmt: Wir können schlechte Entscheidungen, die zu einem Black-Swan-Ereignis führen, nicht verhindern. Aber wir können lernen, wie wir sie erkennen, ihre Auswirkungen begrenzen und so Katastrophen weitgehend verhindern. Wie das geht, hat Südkorea zu Anfang der Corona-Pandemie gezeigt. Als sich die ersten Erkrankungen zeigten, gelang es den Behörden, die Verbreitung des Virus durch schnelles und entschlossenes Handeln einzudämmen. Südkoreas Konzept bestand darin, engmaschig zu testen, konsequent nachzuverfolgen und die Betroffenen zu isolieren. Auch deshalb kamen die Menschen im Land deutlich besser durch die Krise als in den Vereinigten Staaten oder Brasilien.
Unternehmen können lernen, auf ganz ähnliche Weise mit gefährlichen Entscheidungen im Long Tail umzugehen. Stellen Sie sich vor, was sich hätte vermeiden lassen, wenn die Bank Lehman Brothers rechtzeitig die Gefahr erkannt hätte, die von den eigenen Geschäftspraktiken ausging. Die Bank hätte früher begreifen müssen, dass schon ein kleiner Rückgang der Immobilienwerte ihr gesamtes Kapital auslöschen konnte, weil sie ihr Geschäft mit Subprime-Darlehen und via Hypotheken abgesicherten Derivaten zu weit ausgedehnt hatte.
Stellen Sie ein Team herausragender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf, um deren Wirkung auf das Unternehmen weiter zu verstärken.
Die Leistung von Menschen wird nach wie vor häufig anhand der Gauß’schen Glockenkurve gemessen. Doch die Realität sieht anders aus: In der Praxis sorgt eine kleine Anzahl von Leistungsträgern zuverlässig für den größten Beitrag zum Ergebnis. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Erstens: Rekrutieren Sie die bestmöglichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Setzen Sie alles daran, diese Leute zu halten – und zwar über das gesamte Unternehmen hinweg.
Die Leistung der Stars unter jenen, die zum Long Tail zählen, hat auch hier die größten Auswirkungen auf die Ergebnisse. Warum? Weil die Potenzgesetze unumstößlich sind und auch im Bereich Personal gelten. Das bedeutet aber nicht, dass sich alle Bemühungen bei Recruiting und Mitarbeiterbindung allein auf diese Gruppe fokussieren sollten. Wenn Sie durchgängig außergewöhnlich gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen und dafür sorgen, dass sie im Unternehmen bleiben, verschiebt sich die Pareto-Kurve der Mitarbeitenden als Ganzes nach oben. Das hat enorme Auswirkungen auf die Unternehmensergebnisse. Denn auch wenn nach wie vor nur ein kleiner Prozentsatz der Mitarbeitenden für den größten Teil der Resultate verantwortlich ist: Absolut betrachtet, verbessern sich die Ergebnisse, wenn das Unternehmen durchgängig Spitzenkräfte einstellt.
Zweitens: Konzentrieren Sie sich darauf, das Umfeld für Ihre Teams so gut wie möglich zu gestalten und die Dynamik im Team als Ganzes zu verbessern. Wenn sich Ihr Unternehmen zudem intern wie extern stärker und besser vernetzt, wirken sich die starken Leistungen der Mitarbeitenden im Long Tail positiv auf das gesamte Gefüge aus.
Es klingt erst mal seltsam, dass wir unsere Sichtweise neu ausrichten müssen – weg von der Wahrnehmung à la Gauß hin zur Pareto-Perspektive. Doch es lohnt sich: Die praktischen Auswirkungen eines solchen Perspektivwechsels sind enorm. Wenn wir die Welt aus einem anderen Blickwinkel betrachten, beeinflusst dies, wie wir systemische Veränderungen angehen, Entscheidungen treffen, mit Risiko umgehen und Mitarbeitende führen. Da unser Leben aus miteinander verwobenen und komplexen Netzen menschlicher Beziehungen besteht – die von Familien über berufliche Netzwerke bis hin zu unserem Wohnort reichen –, funktioniert unser gesamtes Leben auf Grundlage der Potenzgesetze. So kommt es, dass eine einzige Entscheidung unser gesamtes späteres Leben prägen kann, etwa jene, wen wir heiraten oder welchen Beruf wir wählen.
Ich bin überzeugt, dass unser Denken demselben Potenzgesetz folgt. Indem wir einige kognitive Fehler korrigieren, können wir unsere Performance, die Auswirkungen unseres Handelns und unser Leben radikal verändern. Der Wechsel zur Pareto-Perspektive sollte dabei den Anfang machen. © HBP 2022
Autor
Adrian Goreist Gründer und CEO der südafrikanischen Finanzdienstleistergruppe Discovery Limited, die für das Modell der Vitality Shared-Value Insurance bekannt ist, das Anreize für Verhaltensänderungen schafft und diese in die Preisgestaltung von Versicherungen und Finanzdienstleistungen integriert.
Kompakt
Das Problem Die meisten Führungskräfte glauben, dass sich die Welt anhand von Durchschnitts betrachtungen beurteilen lässt. Deshalb tun sie sich schwer damit, die richtigen Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Die Situation In einer komplexen Welt bestehen Verflechtungen und Abhängigkeiten. Deshalb führen Annahmen, die auf der Gauß’schen Normalverteilung und damit auf dem Durchschnittsdenken beruhen, häufig ins Leere.
Die Lösung Komplexe Probleme lassen sich besser lösen, wenn Unternehmen sich nach dem Pareto-Prinip richten. Es besagt, dass bereits eine kleine Veränderung einer Variable mit einer großen Veränderung einer anderen Variable verbunden ist. Wer das im Hinterkopf behält, findet Lösungen, die sich besser für unsere moderne, vernetzte Welt eignen.
Glossar
Black-Swan-Ereignis Unerwartetes und unwahrscheinliches Ereignis mit erheblichen Auswirkungen.
Gauß’sche Normalverteilung (Glockenkurve) Wohl bekannteste Verteilung der Statistik. Sie wird verwendet, wenn die tatsächliche Verteilungsfunktion unbekannt ist. Ihre Form ähnelt einer Glocke. Sie ist nach dem deutschen Mathematiker Carl Friedrich Gauß benannt.
Gini-Koeffizient Misst die Ungleichverteilung der realen Haushwwaltseinkommen.
Median Wert, der genau in der Mitte einer Datenverteilung liegt.
Mittelwert Begriff aus der Statistik, der den Durchschnittswert beschreibt.
Modalwert Wert, der in einer Datenmenge am häufigsten auftritt.
Long Tail Teil der Pareto-Kurve, die die statistische Verteilung nach dem Pareto-Prinzip darstellt. Die Kurve fällt steil ab und läuft allmählich gegen null. Dieses Aussehen brachte dem rechten Teil der Kurve im Englischen den Namen „Long Tail“ (langer Schwanz) ein.
Pareto-Prinzip Nach dieser Faustregel erwirtschaften 20 Prozent der Produkte 80 Prozent der Umsätze. Sie geht auf den italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto zurück.
Potential-Surprise-Theorie Dieser Ansatz setzt extreme Ergebnisse mit der Plausibilität von verschiedenen Zukunftsszenarien in Verbindung.
Shared Value Konzept, das die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen erhöhen und parallel dazu die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in ihrem Umfeld verbessern soll.
Variable Veränderliche Größe.
Varianz Beschreibt das Maß für die Streuung der verschiedenen Datenpunkte um den Mittelwert einer Verteilung herum.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der Juli-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.
