Best Practices im Management: Inspiration oder Illusion?
Wie Sie gerade in verrückten Zeiten von Vorbildern profitieren – und wann Best Practices und Case Studys in die Irre führen.
Als Jeremiah Lee 2017 von Kalifornien nach Schweden umzog, war er aufgekratzt. Mehrere Jahre hatte er bei Unternehmen im Silicon Valley gearbeitet, bei Apple, Disney und Fitbit. Nun ging es mit seinem Ehemann nach Stockholm, der dort eine Stelle bei Spotify antrat. Wenige Monate später stellte der Musikstreamingdienst auch Lee als Manager ein. Für ihn war dies nicht nur eine weitere Karrierestation: „Ich war begeistert, das Spotify-Modell in Aktion zu erleben.“
Das Spotify-Modell. Die Managementwelt feierte es damals als die Zukunft der Organisationsführung. Das Prinzip: Kleine autonome Teams (Squads) agieren wie Start-ups; mehrere Squads bilden einen Tribe; Experten tauschen sich in Chapters teamübergreifend aus. Das Ziel: maximale Agilität, minimale Bürokratie.
Doch Jeremiah Lee war bald ernüchtert. Die Struktur löste nicht Probleme. Sie schuf neue. Keine Führung, ungelöste Konflikte. Unklare Entscheidungsprozesse. Das Spotify-Modell, fand Lee, förderte nicht Agilität. Sondern Chaos und Frust.
Drei Jahre später veröffentlichte er einen Erfahrungsbericht unter dem Titel „Failed #SquadGoals“. Der Tenor des Textes: Das Spotify-Modell war weniger eine Blaupause für moderne Organisationen, vielmehr ein Mythos, von der Realität entkoppelt. Selbst der Co-Autor eines Spotify-Whitepapers, Anders Ivarsson, warnte darin: „Wenn andere unsere Methode tatsächlich kopieren, macht mir das große Sorgen. Auch bei uns funktioniert längst nicht alles perfekt.“
Das Spotify-Modell ist ein klassisches Beispiel für eine Methode, die in der Theorie überzeugt – und an der Wirklichkeit scheitert. Eine typische Best Practice: viel zitiert, hochgelobt, immer passend. Solche Universalstrategien beschränken sich nicht nur auf die Organisationsebene. Sie beeinflussen, wie Unternehmen Innovationen vorantreiben, neue Märkte erobern oder Produkte entwickeln. Ganze Generationen von Managern werden mit Case Studys in den Business Schools geschult und gestählt. Immer wieder fallen dann Namen von Unternehmen, die etwas gemacht und gemeistert haben – und anderen als Vorbild dienen sollen. Transformation, Disruption, Zeitenwende, das Ende der Globalisierung: Manager fühlen sich verunsichert – und suchen Halt. Die Versuchung scheint noch größer, sich an den Erfolgen anderer zu orientieren.
ORIGINAL UND FÄLSCHUNG
Aber ist das auch klug und zielführend, wenn immer mehr Regeln und Gewissheiten sich auflösen? Best Practices suggerieren Sicherheit: einfache Erklärungen und klare Rezepte, praktisch erprobt und theoretisch für gut befunden. Bücher wie „The Lean Startup“, „Blue Ocean Strategy“ oder „7 Habits of Highly Effective People“ versprechen Erfolgsformeln, die sich angeblich auf jedes Unternehmen übertragen lassen.
Ikea revolutionierte die Möbelbranche mit seiner Selbstmontage. Zara perfektionierte Fast Fashion. Airbnb ist die größte Hotelkette, ohne Immobilien zu besitzen. Solche Best Practices liefern großartige Geschichten. Sie inspirieren. Sie lassen sich in Keynotes, Seminaren und Managementbüchern glänzend nacherzählen und werden dadurch zu Erfolgsrezepten stilisiert: Innoviere wie SpaceX! Skaliere wie Amazon! Optimiere wie Toyota!
Raus aus der Best-Practice-Falle
Um Case Studys richtig zu interpretieren, sind drei Schritte unerlässlich
Verlierer analysieren
Erfolgsgeschichten sind faszinierend. Und die Verlockung ist groß, sie als Blaupause fürs eigene Handeln heranzuziehen. Aber mindestens genauso lehrreich sind Fehler von Unternehmen, die scheiterten. Die Forschung von Freek Vermeulen, Professor für Strategie und Unternehmertum an der London Business School, zeigt: Wer auch die Irrtümer der Verlierer analysiert, trifft fundiertere sowie ausgewogenere Entscheidungen.
Die Basis befragen
Führungskräfte sind mit den Folgen ihrer Entscheidungen oft nur indirekt konfrontiert. Anders als Vertriebler, die jeden Tag hören, was Kunden schätzen und was nicht. Hier lauert ein Risiko für Fehleinschätzungen. Ein bewährtes Gegenmittel: Diejenigen befragen, deren Arbeit von den Managemententscheidungen unmittelbar beeinflusst wird – sie erkennen potenzielle Probleme meist als Erstes.
Perspektive wechseln
Niemand plant den Misserfolg. Gerade deshalb lohnt es sich, ihn gedanklich durchzuspielen. Etwa in einer Besprechung mit der Frage: „Das Projekt ist gescheitert. Wie konnte das passieren?“ Die Pre-Mortem- oder auch Prospective-Hindsight-Methode hilft, mögliche Gründe für ein Scheitern früh zu identifizieren – und Risiken zu entschärfen, bevor sie eintreten.
Und genau hier beginnt das Problem. Wenn eine Strategie in einem Unternehmen funktioniert, bedeutet das nicht, dass sie sich eins zu eins übertragen lässt. Oft sind es nicht die Methoden, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden – sondern es ist der Kontext, in dem sie angewendet werden. Wie relevant ist also die Best-Practice-Denke noch? Wann hilft das Musterbeispiel – wann führt es in
die Irre?
Erfolg und Misserfolg faszinieren – gerade wenn sie eng beieinanderliegen. Warum bringt es das eine Unternehmen zum Weltmarktführer, während ein anderes mit derselben Idee scheitert? Wieso revolutioniert ein Start-up eine Branche, während der etablierte Konzern ins Straucheln gerät? Warum ging Kodak unter, während sich Fujifilm neu erfand?
Manchmal gibt es darauf klare Antworten: ein bahnbrechendes Patent, eine überlegene Strategie, ein Visionär, ein geniales Geschäftsmodell. Netflix schaffte es, an der Schwelle eines technologischen Wandels (von DVDs zum Streaming), den Filmmarkt neu zu definieren. Ryanair perfektionierte das Low-Cost-Prinzip, das nicht nur Ticketpreise, sondern auch Zusatzgebühren als Einnahmequelle nutzt. Apple setzte mit seinem Ökosystem aus iPhone und App Store früh auf vertikale Integration – und brachte es so zum wertvollsten Unternehmen der Welt.
Doch gerade das Beispiel Apple zeigt: Erfolg ist nicht kopierbar. Es kommt vor allem auf Originalität an. Das Eigene. Das Typische. Das Unverwechselbare. Und natürlich auch: auf die Verkaufe, das Design, den Marktzyklus, das Timing, das Glück.
ES WAR EINMAL IN HARVARD
Um das Jahr 1890 führte Christopher Langdell, Dekan der Harvard Law School, das fallbasierte Lernen ein. Statt sich nur theoretisches Wissen anzueignen, sollten seine Jurastudenten auch Gerichtsfälle analysieren, verschiedene Perspektiven diskutieren und daraus Schlüsse für die Praxis ziehen. Die Methode veränderte die juristische Ausbildung grundlegend – und inspirierte auch Langdells Kollegen ein paar Häuser weiter. Wallace Donham, Dekan der Harvard Business School, übertrug das beispielhafte Lernen auf die Managementausbildung. 1921 erschien eine einseitige Analyse eines Führungsdilemmas bei der General Shoe Company – die Geburtsstunde der Case Study.
Sie trat von Harvard aus ihren Siegeszug an – erst in den USA, dann in Europa, schließlich weltweit. Heute bilden Fallstudien das Rückgrat der Lehre an führenden Wirtschaftshochschulen, sind ein eigenes Geschäftsfeld: Universitäten verkaufen ihre Case Studys an Unternehmen. In Deutschland vertreibt die ESMT Berlin als einzige deutsche Business School ihre mittlerweile 170 Case Studys über den Verlagsarm der US-Hochschule. Die ESMT legt in den Fallstudien einen Schwerpunkt auf Europa und nutzt sie vor allem als Instrument zur kritischen Reflexion: „Wir wollen die Studierenden zum Nachdenken anregen“, sagt Präsident Jörg Rocholl, „deshalb analysieren wir nicht nur unternehmerische Erfolge, sondern beleuchten auch die Misserfolge.“
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Ein wichtiger Punkt: Eine Case Study beschreibt eine reale Situation und fordert Fragen heraus: Warum hat eine Strategie (nicht) funktioniert? Welche Faktoren waren entscheidend? Gab es Alternativen? Anders gesagt: Sie ist eine Einladung zur Diskussion und offen für Interpretation.
Das Problem liegt in der Evolution der Case Study zum Best-Practice-Konzept: Was mal viele offene Fragen waren, ist eine definitive Antwort geworden. Das Oxford English Dictionary versteht unter Best Practice „kommerzielle oder berufliche Verfahren, die als korrekt oder am wirksamsten akzeptiert oder vorgeschrieben sind“. Da bleibt kein Spielraum mehr für Einwände. Streng genommen soll eine Best Practice nur der Inspiration dienen. In Wahrheit lädt sie zur Imitation ein – weil sie eine bestimmte Strategie zum gültigen Erfolgsmodell erhebt.
Was empfohlen wird, ist natürlich nicht in Stein gemeißelt, sondern von Zeit zu Zeit etwas anderes und folgt oft einem zyklischen Muster – ein Phänomen, das Eric Abrahamson intensiv erforscht hat. Der Professor an der Columbia Business School belegt in seinen Studien: Regelmäßig tauchen neue Praktiken auf, die sich rasant verbreiten – und schnell wieder verschwinden. Abrahamson spricht von „management fashion cycles“, also Modewellen, die Unternehmen erfassen. Er beschreibt sie als „Praktiken, die weniger wegen ihrer tatsächlichen Effektivität übernommen werden – sondern vor allem wegen ihrer Popularität“.
Dass Manager von derartigen Moden beeinflusst werden, ist menschlich. Führungskräfte greifen gern zu Konzepten, die als State of the Art gelten. Doch Abrahamsons Studien belegen: Viele dieser Methoden sind nicht per se überlegen. Sie sind vor allem ein Kind ihrer Zeit.
Das erklärt die Anziehungskraft des Spotify-Modells. Kaum etwas ist in der modernen Arbeitswelt so schlecht beleumundet wie die Hierarchie. Sie wird heute für fast jedes organisatorische oder unternehmerische Übel verantwortlich gemacht. Bei Volkswagen sahen hierarchiehörige Entwicklungsingenieure keine Möglichkeit, sich gegen die Abgasmanipulationen zu wehren. Bei Boeing verhinderte die Angstkultur Warnungen vor Sicherheitsmängeln am Modell 737. Oft heißt es hinterher: Die da oben waren zu weit weg von den Problemen da unten. Starre Hierarchien, so der Vorwurf, blockieren Kreativität, bremsen Eigenverantwortung, stärken die Silodenke. Auch toxische Unternehmenskulturen, mangelnde Vielfalt, eine ungleiche Verteilung von Macht gelten als Folgen traditioneller Hierarchien.
DAS MIESE IMAGE VON HIERARCHIE
Wie verlockend klingen da Forderungen nach flexiblen Strukturen und agilem Arbeiten in wechselnden Teams; nach einem Ende der Alphachefs, die über allem thronen und Befehle auf die Belegschaft herabregnen lassen; nach selbstbestimmtem Arbeiten ohne starre Vorgaben; nach Entscheidungen, die nicht top-down, sondern auf Augenhöhe getroffen werden; nach Unternehmen, in denen es keine festen Abteilungen mehr gibt, sondern fluide, projektbasierte Zusammenarbeit. Keine Hierarchie? Keine Probleme!
Diese Annahmen haben nur einen Haken: Sie stimmen nicht.
Wir analysieren nicht nur unternehmerische Erfolge, sondern beleuchten auch die MisserfolgeJÖRG ROCHOLL, Präsident der ESMT Berlin
„Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es keinen Beleg dafür, dass Hierarchien per se schlecht sind“, sagt etwa Jens Grundei, Professor für Corporate Governance und Organization an der Quadriga Hochschule Berlin. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, wie verschiedene Organisationsformen Entscheidungsfindung und Führung beeinflussen. Sein Fazit: „Hierarchien haben viele Vorteile.“
Im Tierreich hilft eine Hackordnung, den Frieden zu wahren. Sie reduziert die Zahl von Machtkämpfen, indem sie klare Rollen und Verantwortlichkeiten festlegt: Wer führt, wer folgt, wer übernimmt was? Eine Hierarchie sichert den Zusammenhalt der Gruppe und erhöht ihre Überlebenschancen. Gewalt bricht nur aus, wenn eine Rangfolge angezweifelt wird.
Sicher, ganz so instinktgesteuert geht es am Arbeitsplatz nicht zu. Aber auch dort klärt die Hierarchie Zuständigkeiten, setzt Grenzen, stellt Ordnung her. Sie gibt Struktur, erleichtert Entscheidungen, koordiniert Abläufe. In Krisen kann eine klare Befehlskette helfen, entschlossen zu handeln.
Zudem wirkt sie als Orientierungshilfe: Jeder und jede in der Belegschaft weiß, an wen man sich wenden kann, welche Erwartungen an jemanden gestellt werden – und welche Aufstiegsmöglichkeiten es gibt. Anders formuliert: Eine durchdachte Hierarchie ist nicht nur ein Machtinstrument. Sie ist ein Prinzip, das Effizienz und Stabilität fördert. Und davon profitiert bestenfalls die ganze Organisation. Aber natürlich weiß auch Managementforscher Jens Grundei, dass die plakative Formel „weniger Hierarchie, mehr Augenhöhe“ verlockend klingt. Und ja: Es gibt gute Gründe, starre Strukturen aufzubrechen, Führung neu zu denken, Entscheidungsprozesse flexibler zu gestalten.
In einem dynamischen Marktumfeld müssen Unternehmen schnell auf Veränderungen reagieren; rigide Hierarchien und lange Entscheidungswege können Innovationen blockieren. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wünschen sich mehr Gestaltungsspielraum, was die Motivation steigert und die Produktivität erhöht. Auch Kunden profitieren von flexibleren Strukturen, da Unternehmen schneller auf neue Bedürfnisse eingehen können.
Also was jetzt? Hierarchien beibehalten oder abbauen? Wer sich die Frage ernsthaft stellt und nicht „die Antwort“ finden will, ist auf dem richtigen Weg. Es geht darum, der heiklen Sehnsucht nach einfachen Erfolgsrezepten zu widerstehen – egal, ob es um flache Organisationen, agile Methoden in der Produktentwicklung oder effizienzgetriebene Produktionskonzepte geht. Denn diese Sehnsucht ist ein wichtiger Grund, dass die Best-Practice-Denke überhaupt entstehen konnte.
Schon als Junge war Frederick Winslow Taylor schwer kurzsichtig, stundenlange Lektüre in der Bibliothek hätte seine Augen überfordert. Also schmiss er das Harvard-Studium und begann 1874 eine Lehre als Mechaniker, vier Jahre später wechselte er zur Midvale Steel Company in Philadelphia. Deren Chef wollte die Produktion steigern, seine Arbeiter waren skeptisch. Taylor hielt sie für ineffizient, sogar für faul: Ihm zufolge widmeten sie sich „systematischer Bummelei“.
1883 stellte er einen Assistenten ein, der mit einer Stoppuhr und einem Notizblock jede Bewegung der Fabrikarbeiter sekundengenau aufzeichnete. Der Zweck? Zeitverschwendung sichtbar machen – und beseitigen. Mit dieser Methode machte sich Taylor unter den Arbeitern keine Freunde, sein Chef aber war begeistert: Innerhalb von acht Jahren stieg die Produktion bei Midvale um mehr als 300 Prozent. 1889 verließ Taylor die Firma, startete eine Karriere als Unternehmensberater und hielt Vorträge über seine Methode. So begann der Siegeszug des Taylorismus.
In vielen Firmen weltweit wurde die industrielle Produktion fortan bis ins kleinste Detail standardisiert – und das passte perfekt in die Zeit: Industriebetriebe wie Ford oder General Motors waren besessen, Arbeitsabläufe zu optimieren, am Fließband zu produzieren. Taylor lieferte ihnen den Beleg, dass das gelingen kann: mit radikaler Arbeitsteilung, Handgriff für Handgriff.
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So entstand die Idee einer optimalen Methode, die für jedes Problem eine optimale Lösung bietet. Best Practice.
EIN BUCH MIT BINSEN
Etwa 100 Jahre nach Taylor folgte die nächste Welle der Managementgurus. Diesmal ohne Stoppuhr und Notizblock, dafür mit dem Anstrich wissenschaftlicher Seriosität: 1982 veröffentlichten die ehemaligen McKinsey-Berater Tom Peters und Robert Waterman „In Search of Excellence“ – das meistverkaufte Managementbuch aller Zeiten.
Darin widmete sich das Duo einer Frage, die gleichermaßen simpel und kompliziert war: Was unterscheidet Exzellenz vom Durchschnitt? Peters und Waterman analysierten 43 Unternehmen – und leiteten daraus acht Prinzipien ab. Die erfolgreichsten waren demnach im ständigen Austausch mit ihren Kunden und hatten eine wertebasierte Kultur, die Führungskräfte behandelten ihre Angestellten als wertvolle Ressource und waren nah am Tagesgeschäft.
Im Management wird es niemals Standardrezepte gebenRICHARD STRAUB, Verwalter des intellektuellen Erbes von Managementvordenker Peter Drucker
Zugegeben, heute lesen sich diese Erkenntnisse wie Binsenweisheiten, damals bedeuteten sie einen Paradigmenwechsel. Insbesondere US-Konzerne waren bis dahin vor allem zahlengetrieben. Was Kunden dachten oder Mitarbeiter empfanden, spielte eine untergeordnete Rolle.
Doch seit den 1980er-Jahren waren japanische Unternehmen wie Toyota zur Weltspitze aufgestiegen – mit einem starken Fokus auf Qualität, kontinuierliche Verbesserung und Mitarbeiterbeteiligung. Entscheidenden Anteil daran hatte das Toyota-Produktionssystem (TPS). Statt auf Massenproduktion setzte Toyota auf eine schlanke Fertigung. Die Losung: Verschwendung minimieren, Prozesse optimieren, Verantwortung auf die Belegschaft übertragen.
Ein zentraler Bestandteil war das Kaizen-Prinzip, das alle Beschäftigten ermutigt, stetig nach Verbesserungen zu suchen. Zudem führte Toyota das Just-in-time-Prinzip ein, das Lagerkosten reduzierte und die Produktion flexibilisierte. Das System wurde weltweit adaptiert – von Automobilherstellern bis hin zu Techkonzernen wie Apple, die ihre Lieferketten nach ähnlichen Prinzipien optimierten.
Toyotas Erfolg zeigte: Best Practices können nicht nur scheitern, sondern auch maßgeblich zur Weiterentwicklung von Branchen beitragen – wenn sie durchdacht adaptiert und auf die jeweilige Firmenkultur zugeschnitten werden. Peters und Waterman übersetzten Toyotas Ansatz für den amerikanischen Markt – und propagierten zum ersten Mal, dass vermeintlich weiche Faktoren genauso wichtig sind wie harte Zahlen.
DIE STUNDE DES BENCHMARKING
Ihr Buch fiel also in eine Zeit, in der sich nicht nur das Managementdenken veränderte – sondern auch die Methoden zur Leistungsmessung. Zuvor hatten Unternehmen oft intern nach Verbesserungen gesucht.
Doch in den 1980er-Jahren setzte sich mit dem Benchmarking ein neuer Ansatz durch: Der systematische Vergleich mit den Besten der Branche sollte helfen, Lücken gezielt zu schließen. Damit wurde das Konzept von „In Search of Excellence“ besonders anschlussfähig. Es lieferte nicht nur Prinzipien. Sondern auch ein Narrativ für jene, die nach Vorbildern suchten.
Das Problem war bloß: Wenige Jahre später geriet das Buch in Verruf. Und das nicht nur deshalb, weil viele der 43 exzellenten Unternehmen kriselten oder inzwischen sogar pleite waren. Später räumte Peters ein, dass seine Auswahl alles andere als wissenschaftlich war. Statt einer objektiven Analyse hatte das Duo einfach McKinsey-Kollegen gefragt, welche Firmen einen „coolen Job“ machten – und diese landeten dann in der Bestenliste.
Die Sehnsucht nach Erfolgsrezepten blieb. Und 20 Jahre danach gab es einen weiteren Management-Bestseller. In „Good to Great“ stellte Jim Collins eine ähnliche Frage wie Peters und Waterman. Er wollte allerdings streng wissenschaftlich vorgehen. Deshalb analysierte sein Team fünf Jahre lang die Aktienkursentwicklung von 1435 Unternehmen über einen Zeitraum von 40 Jahren: um die wenigen zu finden, die – gemessen am Börsenkurs – tatsächlich den Sprung von „gut“ zu „großartig“ geschafft hatten. Nur elf Firmen erfüllten die strengen Kriterien.
Daraus leitete Collins Prinzipien ab, die für den Erfolg notwendig seien. Die besten Unternehmen werden demnach nicht von charismatischen CEOs geführt, sondern von demütigen, entschlossenen Führungspersönlichkeiten; sie stellen zuerst die passenden Angestellten zusammen und entscheiden danach, in welche Richtung sie sich entwickeln. Oder in Collins’ Worten: „Setze zuerst die richtigen Leute in den Bus, dann entscheide, wohin er fährt.“
Und: Sie folgen dem Igel-Prinzip, benannt nach dem Tier, das einer Parabel zufolge im Gegensatz zum Fuchs, der vieles weiß, eine große Sache weiß. Diese große Sache, oder der Kern des Igel-Prinzips, ergibt sich aus der Schnittmenge von drei Fragen: Was können wir besser als alle anderen? Was treibt unseren wirtschaftlichen Motor an? Und wofür brennen wir? Auch die Botschaft von „Good to Great“ war also einfach (und) verlockend: Wer diesen Prinzipien folgt, kann aus einem durchschnittlichen Unternehmen ein herausragendes formen.
EIN ZU ENGER BLICK
Zwar klang Collins’ Methodik wissenschaftlich, aber auch seine „great companies“ hatten eine schlechte Erfolgsquote: Die Hypothekenbank Fannie Mae und das Finanzdienstleistungsunternehmen Wells Fargo waren zentrale Firmen in der Finanzkrise 2008; Gillette wurde von Procter & Gamble übernommen; Einzelhändler Circuit City meldete Insolvenz an.
Ohne es zu wollen, wies Collins auf ein generelles Problem mit Best Practices hin: Er unterlag dem Survivorship Bias und betrachtete nur Unternehmen, die erfolgreich waren. Wie viele gescheiterte hatten womöglich ebenfalls einen demütigen CEO, die richtigen Leute in den Bus gesetzt oder das Igel-Prinzip befolgt?
Dies ist der Trugschluss vieler Best Practices: Man sieht nur die Erfolgsgeschichten – und übersieht, wer die Prinzipien verfolgt und dennoch scheitert. Was bleibt also von den Managementbestsellern übrig? Lassen sich mit den Prinzipien von gestern noch Unternehmen von morgen aufbauen?
Es braucht ein Bewusstsein dafür, dass nicht jeder vermeintlich beste Weg auch der richtige istFREEK VERMEULEN, Professor an der London Business School
Man würde Tom Peters und Jim Collins gerne dazu befragen, aber leider antworten sie nicht. Peters gibt inzwischen keine Interviews mehr, teilt sein Team mit: „Er hat sich zur Ruhe gesetzt.“ Auch von Jim Collins gibt es keine persönliche Stellungnahme. Eine Melissa meldet sich, stellt sich als Relationship Manager beim „Good to Great Project“ heraus und lässt ausrichten: Collins arbeite daran, sein neues Buch fertigzustellen. „Er ist tief in seiner kreativen Höhle verschwunden.“
Erfolgsformeln, so viel lässt sich festhalten, haben immer einen wahren Kern, aber sie werden oft zu absolut verstanden und angewendet – und das führt in die Best-Practice-Falle: Unternehmen übernehmen vermeintlich bewährte Methoden in der Hoffnung, den Erfolg zu wiederholen – ohne zu hinterfragen, ob das Modell zum Vorbild taugt, auf ihre eigene Situation übertragbar ist.
Dabei gibt es genügend Unternehmen, die zunächst als Erfolgsgeschichte gefeiert wurden und später ins Straucheln gerieten. General Electric galt einst als Vorbild für strategische Exzellenz. Ein Prinzip des legendären CEO Jack Welch: Jedes Geschäftsfeld muss entweder die Nummer eins oder zwei in seinem Markt sein – andernfalls wird es verkauft. Die Strategie wurde in Harvard-Fallstudien zitiert und von Konzernen weltweit kopiert. Doch sein Nachfolger Jeffrey Immelt führte GE genau mit dieser Strategie in eine Krise. Das Unternehmen war durch Zukäufe so fragmentiert, dass es kaum noch steuerbar war.
NICHTS GILT FÜR DIE EWIGKEIT
Nokia wiederum galt als Blaupause für technologische Exzellenz und konsequente Marktführerschaft. Mit seiner strikten Fokussierung auf verbesserte Hardware dominierte der Konzern die Mobilfunkbranche. Doch als Apple das iPhone erfand und Software immer wichtiger wurde, war Nokias Erfolgsformel ein Hemmnis. Zu lange hielt der Konzern an der bewährten Strategie fest – und verlor den Anschluss. Heute wiederum meinen manche Analysten zu beobachten, Apple verliere womöglich den Anschluss an den Boom künstlicher Intelligenz.
Kein Erfolgsrezept ist ewig gültig. Was gestern als Best Practice galt, kann sich morgen als überholt oder kontraproduktiv erweisen.
Richard Straub verwaltet das intellektuelle Erbe von Peter Drucker. Der gilt als Vater des modernen Managements, weil er als einer der Ersten auf die zentrale Bedeutung von Innovation und Marketing hinwies, die eminente Rolle des Kunden predigte und die Notwendigkeit lebenslangen Lernens beschrieb. Seit 2009 organisiert Straub das Global Peter Drucker Forum in Wien. Die Konferenz in Druckers Geburtsstadt bringt einmal im Jahr renommierte und einflussreiche Managementdenker zusammen, um über neue Formen von Führung, Arbeit und Organisation zu diskutieren.
DENKANSTOSS STATT SCHABLONE
Eines will Straub dabei vermeiden: dass das Forum als Plädoyer für bloße Drucker-Kopien verstanden wird. „Drucker selbst hätte nicht geglaubt, dass es universelle Erfolgsrezepte gibt“, betont Straub. Ein „Mach es genauso“ höre er auf dem Drucker-Forum immer seltener. „Eher geht es darum, grundlegende Prinzipien anzuwenden.“
Das Design Thinking zum Beispiel. Die Idee – schnell Prototypen entwickeln, effizient testen, unnötige Entwicklungszyklen vermeiden – sei nie grundsätzlich falsch. „Aber sie ist eben auch kein universelles Erfolgsrezept“, sagt Straub. Es gehe nicht um starre Modelle, sondern um eine Denkweise. „Genau in diesem Sinne können Best Practices hilfreich sein“, sagt er: „als Denkanstöße, nicht als Schablonen.“
Jede Organisation sei singulär. Sie bestehe aus Menschen, mit all ihren Widersprüchen, Emotionen und irrationalem Verhalten, sie habe eigene Entscheidungsprozesse und eigene Herausforderungen, sagt Straub: „Im Management wird es daher niemals Standardrezepte geben.“
Ist am Ende also jede Organisation so einzigartig, dass Vergleiche sinnlos sind? Können wir Best Practices abhaken und aussortieren?
Michael Brigl, bei der Boston Consulting Group verantwortlich für das Geschäft in Mitteleuropa, ist überzeugt, dass es sinnvoll sei, sich an anderen zu orientieren – in gewissen Bereichen. Wo Standardisierung, Regulierung oder Effizienz im Mittelpunkt stehen, helfen bewährte Methoden: In der Buchhaltung, im Qualitätsmanagement oder im Einkauf kommt es auf Verlässlichkeit, Einheitlichkeit und Rechtskonformität an. Hier sind erprobte Verfahren oft die beste Wahl, weil sie Fehler vermeiden, Risiken minimieren, Vergleichbarkeit schaffen. Produktionsprozesse oder Sicherheitsstandards sind gute Beispiele für Bereiche, in denen das sprichwörtliche Rad nicht jedes Mal neu erfunden werden muss. „Hierbei handelt es sich um sekundäre Wertschöpfungsprozesse“, sagt Brigl, „sie entscheiden nicht über die Zukunft eines Unternehmens.“
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LERNEN, ABER RICHTIG
Etwas anderes sei es, wenn es um die Kultur gehe, um Entscheidungsprozesse, darum, wie Talente rekrutiert und gefördert werden – und vor allem: wenn es um die Strategie geht. Brigl betont: „Genau hier funktioniert das Konzept der Best Practice nicht.“
Führungskräfte müssten derzeit vor allem überlegen, wie sie in drei, fünf oder zehn Jahren noch erfolgreich sein wollen. Wo investieren wir? Wie entwickeln wir unser Geschäftsmodell weiter? Wo liegt unser Wettbewerbsvorteil? Neue Technologien wie künstliche Intelligenz stellen alte Best Practices infrage – denn sie verändern nicht nur Prozesse, sondern ganze Geschäftsmodelle, Branchen und Entscheidungsstrukturen. Sie zwingen Unternehmen, traditionelle Denkweisen hinter sich zu lassen. „Dabei hilft es nicht, einfach eine Strategie von Marktführern zu übernehmen“, sagt Brigl: „Unternehmen müssen ihren eigenen Weg finden.“
Wie können sich Führungskräfte also davor schützen, in die Best-Practice-Falle zu tappen? Diese Frage treibt Freek Vermeulen schon lange um. Der gebürtige Niederländer, Professor für Strategie und Unternehmertum an der London Business School und Autor des Buches „Breaking Bad Habits“, vergleicht die Ausbreitung von Best Practices mit einem Virus: „Wer sich nicht aktiv dagegen wehrt, wird irgendwann selbst Teil der Kettenreaktion.“ Unternehmen müssten hinterfragen, welche Praktiken funktionieren – und welche nur populär sind, weil sie oft wiederholt werden.
Schon einfache Methoden können helfen, unüberlegte Nachahmung zu vermeiden. Aber der wichtigste Schritt, sagt Vermeulen, beginnt im Kopf: „Es braucht ein Bewusstsein dafür, dass nicht jeder vermeintlich beste Weg auch der richtige ist.“
Erfolg lässt sich nicht kopieren.
Erfolg muss gesucht und gefunden werden. Immer wieder.
