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Bewandert statt erfahren: Der Jakobsweg als Gegenwelt zum Alltag

Für viele Menschen ist ihr Alltag heute „aus dem Takt“ gekommen, denn sie sind ständig abgelenkt, immer und überall erreichbar und können sich nicht mehr auf die wenigen wirklich wesentlichen Elemente ihres Lebens konzentrieren. Dann reift in ihnen der Wunsch, sich in Reservate des Privaten wie Freizeit und Achtsamkeit zurückzuziehen und sich neu auszurichten, damit es sich im Alltag wieder „rund“ anfühlt. Die Fragen nach der eigenen Erfüllung und dem Sinn des Lebens führen häufig nicht mehr in Kirchen hinein, sondern zu „kleinen und großen Ausstiegen aus dem Alltag“, sagt der Kultur- und Wirtschaftssoziologe Herbert Fitzek. Die Entschiedenheit, die hier oft fehlt, wird mit dem Aufbruch spürbar und konkret. Grenzen werden neu definiert, und es wird entschieden, was zu ändern und zu ist.

Hape Kerkelings Buchtitel „Ich bin dann mal weg: Meine Reise auf dem Jakobsweg“ (2006) wurde für viele zum Motto. Damit rückte ein Phänomen in den Vordergrund, das die Suche nach religiöser Sinnorientierung mit körperlicher Ertüchtigung kombiniert: das Begehen der Jakobswege von Mitteleuropa in Richtung Nordwestspanien. Die Pilgerschaft wird meistens an einem Krisen- oder Wendepunkt des Lebens begonnen, wenn sich Menschen die Frage stellen: Wer bin ich? Was ist das Richtige für mich? Was brauche ich wirklich? Der Jakobsweg hat Menschen immer in unterschiedliche Welten geführt: in eine eigene Welt des Geschehens und Nachdenkens, aber auch in die Welten der Vergangenheit und Gegenwart. Wer sich auf den Weg begibt, fragt sich zunächst, was dafür mitzunehmen ist. Einige Pilgernde benötigen eine lange Vorbereitungszeit, andere nehmen nur das mit, auf das nicht verzichtet werden kann. Mitgenommen werden aber auch Gedanken, Sorgen und Wünsche, die auf dem Weg „ausgetragen“ werden sollen. Sie wandern buchstäblich in den Rucksack.

Täglich wird eine Etappe mit wiederkehrenden Mahl- und Rastzeiten vorgegeben. Trotz individueller Ausgestaltung machen alle Wanderer die Erfahrung von leichten und schweren Wegstrecken, von Hitze und Kälte, leichtem und schwierigem Fortkommen. Wer erst einmal seinen eigenen Rhythmus gefunden hat, kann seine Gedanken schweifen lassen und dem Unbestimmtem Raum geben. Das Freilassen von Gefühlen, Gedanken und Ängsten ist vielleicht nur möglich, weil die Probleme und Herausforderungen unter Schmerzen „durchwandert“ und bezwungen werden. Die Pilgerfahrten zum Grab des Apostels in Santiago de Compostela wurden trotz der weiten Entfernung inzwischen zu einer Massenbewegung, die Pilger:innen Sicherheit, Verbindlichkeit und Räume für einen intensiven Kontakt mit Gott, mit sich selbst, mit der Natur und mit den Menschen gibt.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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