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Bewerbermarkt: Arbeitermangel oder Arbeitsplatzmangel?

Aktuell sprechen viele von einem Bewerbermarkt statt von einem Arbeitsmarkt. Es gibt mehr freie Stellen als Fachkräfte. Die Unternehmen suchen händeringend nach Nachwuchskräften. Effekt: Die Bewerber können sich die Jobs aussuchen – bewerben müssen sich die Unternehmen … aber stimmt das?

Ich halte die These vom Bewerbermarkt, von einem Arbeitermangel statt Arbeitsplatzmangel, für gefährlichen Quatsch**.** Schon aus mehreren Gründen:

Sicher, wer hochqualifiziert, spezialisiert und als Expertin oder Experte in seinem Fach anerkannt und sichtbar ist, kann sich die Jobs aussuchen. Das war aber schon immer so. Daran ist nichts neu.

Es stimmt auch, dass es in bestimmten Branchen einen MASSIVEN Fachkräftemangel gibt, der sich aufgrund des demografischen Wandels in den kommenden Jahren noch verstärken wird.

Das macht aber genauso wenig einen umfänglichen Bewerbermarkt wie die Schwalbe einen Sommer. Im Gegenteil: Die Hysterie darum verführt eine ganze Generation zu falscher Arroganz.

Arbeitermangel oder Arbeitsplatzmangel?

Beispiel Berufseinsteiger. Wer noch jung ist und wenig Erfahrungen vorzuweisen hat, ist (leider noch ziemlich) austauschbar. Den Unterschied macht allein die Motivation und Attitüde. Bewerber, die dann meinen, sie müssten sich keine Mühe mehr bei Bewerbung oder in den ersten Jobjahren geben und könnten die Lehrjahre gleich überspringen und zum Herrenmensch aufsteigen (und diese Attitüde ist mir schon ein paarmal begegnet), ruinieren sich nicht nur die Jobchancen, sondern gleich dazu noch die Chance, sich selbst und ihre wahre Profession zu finden oder sich zu erproben.

Beispiel Quereinsteiger. Auch die müssen weiterhin gute Überzeugungsarbeit leisten. Ihr Lebenslauf passt ja schon per Definition nicht zum „queren“ Job. Der Markt wartet also sicher nicht auf sie. Gleichzeitig nehmen die Kandidatinnen und Kandidaten mit Brüchen und Lücken im CV zu (was gut ist), weil die Biografien abwechslungsreicher und flexibler werden. Personaler sind umgekehrt auch offener dafür - aber einen Bewerbermarkt sehe ich hier überhaupt nicht.

Beispiel Active Sourcing. Zahlreiche Personaler und Recruiter suchen aktiv in Social Media - allen voran auf Xing oder Linkedin - nach Talenten. Nicht wenige nutzen auch das als Hinweis für einen wachsenden Bewerbermarkt. Der Denkfehler darin: Um gefunden zu werden, müssen die Kandidaten erst einmal dort sichtbar werden und sich als „geeignet“ empfehlen. Das sogenannte Personal Branding ist aber nichts anderes als eine moderne Spielart der „passiven“ Bewerbung. Wer dabei nicht überzeugt oder nicht gefunden wird, hat im verdeckten Stellenmarkt keinesfalls bessere Chancen - und bekommt auch keine Jobs oder Angebote. Bewerben müssen sich die Fachkräfte also auch hier - nur indirekt, durch Profilierung (im positiven Sinn) und Profilschärfe.

Keine Stelle wird einfach nur so besetzt

Die freie Wahl haben Bewerber nur, wenn tatsächlich ein geringes Angebot auf hohe Nachfrage seitens der Unternehmen trifft. Und selbst dann muss es zwischen beiden Seiten passen. Keine Führungskraft, die bei klarem Verstand ist, stellt einfach irgendwen ein, um eine Stelle „irgendwie“ zu besetzen. Was würde das auch über den Mitarbeiter in spe aussagen? „Du bist hier nur Platzhalter und füllst eine Lücke aus, die dich im Zweifelsfall voll ersetzt“???

Mag sein, dass der Arbeitsmarkt noch nie so viele Chancen geboten hat wie heute. Mag sein, dass Fachkräfte mehr Optionen denn je besitzen und auch Jobwechsel heute einfacher sind, genauso wie Brüche im Lebenslauf kaum noch ein Problem darstellen. Das alles ist richtig und positiv.

Bewerber tun aber nach wie vor gut daran, nicht überheblich zu werden oder einen Bewerbermarkt herbeizureden, wo keiner ist. Am Ende entscheidet auch weiterhin der Anbieter von Arbeitsplätzen darüber, wer eingestellt wird und wer nicht. Und das sind noch immer engagierte und unprätentiöse Menschen, die ins Team passen und Lust auf den Job haben – keine Windmaschinen.

Jochen Mai schreibt über Job & Karriere, Personalwesen, Internet & Technologie, Marketing & Werbung

Erfolg ist kein Zufall – er wird gemacht: von dir! Seit mehr als 30 Jahren ist Jochen Mai leidenschaftlicher Autor und Speaker. In seinen Vorträgen begeistert der mehrfach ausgezeichnete Gründer und Journalist mit handfesten Praxistipps und modernen Erfolgsstrategien. Dein Erfolg ist seine Mission.

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