Bildung und Digitalisierung: Das Erbe der Kreidezeit
Das beste Mittel gegen die Angst vor der Digitalisierung ist Aufklärung und Bildung, die Orientierungsmöglichkeiten gibt. Ziel sollte eine Persönlichkeit sein, die sich ermutigt und fähig fühlt, das eigene Leben mitzugestalten und einen nachhaltigen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass bereits im Grundschulalter begonnen werden sollte, die entsprechenden Grundkompetenzen zu stärken, denn Programmieren ist genauso wichtig wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Ohne die Grundfertigkeit des digitalen und vernetzten Denkens („Computational Thinking"), das Instabilitäten und Komplexitäten berücksichtigt, werden wir den „Code der Neuen Welt“ (Miriam Meckel), die Bedeutung der Daten und die richtigen Anwendungen niemals verstehen. „Programmiere oder werde programmiert", sagt der Medientheoretiker Douglas Rushkoff.
Grundfertigkeiten des digitalen Denkens
Der Ruf aus Politik und Bildung wird heute immer lauter, dass bereits Kinder unbedingt Programmieren lernen sollten, damit sie Apps nicht nur benutzen können, sondern auch verstehen, wie sie aufgebaut sind und programmiert wurden. Das ist richtig, reicht aber nicht. Zuerst geht es darum, Denken zu lernen, viele Facetten und Perspektiven zu sehen, das große Ganze zu erfassen und gleichzeitig in der Lage zu sein, ins Detail zu gehen.
Indem schon Kinder und Jugendliche in Beziehung treten zu anderen und der Welt treten, beginnen sie, gesellschaftliche Zusammenhänge zu begreifen und vernetzt zu denken. Das Gehirn öffnet sich auch hier für das Erkennen komplexer Vorgänge durch Übungen, Learning by Doing, Ausprobieren, Gestalten und Erleben – alles, was für das spätere Können unerlässlich ist. Allerdings wurden nie zuvor in der Geschichte der Menschheit heranwachsende Gehirne von so vielen Reizen überflutet wie heute. Da Kinder verlernen, sich zu konzentrieren, braucht es auch ein Training, das ihnen hilft, sich zu sammeln und zur Ruhe zu kommen, zu reflektieren. Übung unterstützt sie darin, unsere Macherqualitäten zu verbessern.
Wir können nicht erwarten, dass Erwachsene kreativ und innovativ sind, wenn den Kindern die Kreativität ausgetrieben wird. Ihnen muss erklärt und gezeigt werden, dass es Freude macht, auch an die Zukunft zu denken und Prozesse besser zu verstehen, um sie gestalten zu können. Doch Selbstvertrauen ist noch keine hinreichende Voraussetzung für die Aufrechterhaltung und Wiederentdeckung von Entdeckerfreude und Gestaltungslust. Wichtig ist, ihnen den Sinn zu vermitteln, warum sie etwas (über Digitalisierung) lernen. Warum sollte ich überhaupt lesen, schreiben und programmieren können? Auch sollte Lernen als Prozess betrachtet werden statt immer in Ergebnissen zu denken.
Das deutsche Schulsystem, vielfach in der Fabrikgesellschaft steckengeblieben, ist darauf nicht ausreichend vorbereitet – das Versagen ist buchstäblich vorprogrammiert. Die Gründe dafür liegen in der Kleinstaaterei, Konzeptlosigkeit und Unterfinanzierung. Der Unternehmens- und Politikberater Roland Berger äußerte 2017 in der Süddeutschen Zeitung, dass er gern eine grundlegende Bildungsreform angehen würde, denn es sei unerträglich, „dass Akademikerkinder eine dreimal so hohe Chance haben, an die Universität zu kommen wie Nichtakademikerkinder. Das ist moralisch nicht vertretbar und bedeutet einen riesigen Talentverlust für unsere Gesellschaft.“ Zudem plädierte er dafür, dass jeder Schulabgänger codieren können und eine Programmiersprache beherrschen sollte, „um für die digitale Welt gerüstet zu sein.“
Generationen ist Auswendiglernen und Wissen anwenden endlos gepredigt worden - Stoff, für den sie keinen Nutzen im Leben sahen oder sehen, weil die Vermittlung des Sinns dahinter fehlt. Und sie fragen sich, was es ihnen dieses Schulwissen, aneinandergereihte Fakten ohne inneren Zusammenhang, eigentlich gebracht hat außer einer Abiturnote. „Wie schön das Lernen doch am Anfang des Lebens noch war, wie wunderbar dieses Schnüffeln und Forschen und einer Spur folgen. Wie großartig, lernen zu dürfen! Aber in der Schule soll dieses Lernen im Sitzen stattfinden“, schreibt der Neurologe Gerald Hüther in seinem Buch „Würde“. Auf jedes Fach folgt ein anderes, ohne dass Dinge zu Ende gedacht werden können.
Der Philosoph Richard David Precht sagt, dass die deutschen Schulen zu den schlechtesten der Welt gehören und spricht von "Lernfabriken, die Kreativität töten", etwa, wenn Schüler an einem Tag fünf oder sechs verschiedene Fächer haben, die nichts miteinander zu tun haben, oder dass sie ständig Tests und Klausuren schreiben und anschließend das meiste von dem Gelernten wieder vergessen. Das, was sie in der Schule lernen, und das, was sie im Leben brauchen, fällt seiner Meinung nach stärker als jemals zuvor auseinander. Eine gute Schule richtet sich nach den Bedürfnissen, Begabungen und dem Lerntempo der Schüler. Lehrer sollten als Coach Hilfestellungen leisten und dem Lernen keine Grenzen auferlegen. Die Schularchitektur sollte entsprechend angepasst sein – mit Begegnungsräumen und Rückzugsorten. Kein Ort der Verwaltung, sondern ein Ort der Gestaltung. Seine Hauptkritik zielt darauf ab, dass die Art, wie Kinder unterrichtet werden, dem widerspricht, wie nachhaltiges Lernen funktioniert. Es bedeutet, stärker in Projekten zu unterrichten, die den Unterrichtsstoff mehr miteinander verzahnen und Schüler individuell zu begleiten.
Nachhaltigkeit ist aber auch im erweiterten Kontext wesentlich: So verweist Gerald Hüther in seinem Buch auf die beiden Dokumentarfilme des österreichischen Filmemacher Erwin Wagenhofer „Lets make money“ und „We feed the world“. Sehr eindringlich fand er darin bestätigt, was ihm bereits bewusst war: „Die für diese Zustände Verantwortlichen, diejenigen also, die all diese hinterlistigen Finanztransaktionen entwickelt und diese weltmarktbeherrschenden Nahrungsmittelkonzerne aufgebaut hatten, waren im formalen Sinn sehr gebildete Leute.“ Sie besuchten die besten Schulen und schlossen sie mit den besten Examina ab, studierten an den renommiertesten Universitäten, erwarben ausgezeichnete akademische Abschlüsse und machten beruflich eine steile Karriere. Doch was sie in ihren Eliteschulen und Eliteuniversitäten erwarben, war keine Bildung: „Das waren exzellente Kenntnisse und Fähigkeiten, um andere Menschen – und im Fall der Lebensmittelkonzernchefs auch Tiere – als Objekte zur Verfolgung ihres Anliegens der nackten Gewinnmaximierung zu benutzen.“
Es wäre vergeblich, sich darüber zu empören – vielmehr ist es dringlich, „sich zu zeigen und es nicht länger als unter seiner Würde zu betrachten, öffentlich Stellung zu beziehen, auszusprechen, was man so nicht länger hinzunehmen bereit ist, und im Rahmen sein er Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass die Würde von Menschen nicht länger mit Füßen getreten, verletzt und untergraben wird.“ Hüthers Buch ist im Bildungskontext unverzichtbar, weil es zeigt, worauf es im Leben ankommt.
Lernen hat mit Neugier, Interesse oder der Beschäftigung mit einer Sache zu tun, die einen Menschen einnimmt. Nur wenn er den richtigen Fokus setzen kann, ergibt sich eine stimmige Linie für das eigene Leben. Obama sagte beim Kirchentag 2017 in Berlin: "Lehrer sein ist einer der wichtigsten Berufe.“ In Skandinavien werden die besten Universitätsabsolventen Lehrer - hier lehren die Großartigsten. Kinder werden in frühester Zeit am meisten „geprägt“ (nicht nur erzogen!) – von ihren ersten Bezugspersonen, den Eltern, den ersten Erziehern, den ersten Lehrern, später von Professoren und Vorgesetzten. Wer in den ersten Schuljahren von guten Lehrern für das Lernen begeistert werden kann, hat es später leichter. Wenn Professoren und Mentoren an Hochschulen und Universitäten bei ihren Studenten die Liebe für eine bestimmte Fachrichtung entflammen können, ist der richtige Weg geebnet. Wer in einem Unternehmen gefördert und respektvoll behandelt wird, bringt außergewöhnliche Leistungen und bleibt.
Es reicht nicht, Schulen einfach nur mit digitalen Medien auszustatten – komplexe Zusammenhänge lassen sich auch auf einer Kreidetafel erklärend entwickeln. Vielmehr braucht es eine Neuorientierung nachhaltiger Bildung sowie richtige Konzepte und neue Wege für digitales Lernen. Panoramablick und Überblickswissen, richtige Rahmenbedingungen für Persönlichkeitsbildung, Kompetenz- und Wissenserwerb sowie Werteerziehung im Humboldtschen Sinne sind in der Komplexitätsgesellschaft unabdingbar. Bildung hat mit Hervorbringen zu tun, sie ist etwas Schöpferisches, keine Pflicht - und schon gar kein standardisiertes Prüfverfahren. Es geht vor allem darum, innerlich zu wachsen und sich selbst und die Welt besser zu verstehen, um sie nachhaltig gestalten zu können.
Weiterführende Informationen:
CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. Berlin Heidelberg 2017.
Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. Albrecht Knaus Verlag, München 2018.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.