Bio-Leder statt echtem Leder: Warum Nachhaltigkeit auch an die Haut geht
Sein statt Haben
Nie zuvor war die Bereitschaft zum nachhaltigen Konsum so groß wie heute. Den bewussten und mündigen Konsumenten, die sich nicht blenden lassen und gut informiert sind, genügt es längst nicht mehr, gute Qualität zu einem niedrigen Preis zu kaufen. Da sie das Geschehen am Markt entscheidend mitbestimmen, möchten sie auch wissen, wo und wie die Produkte hergestellt werden. Die Verbraucher ahnden Fehltritte, indem sie die entsprechenden Produkte nicht mehr kaufen. Zudem werden börsennotierte Unternehmen heute verstärkt auch darüber bewertet, wie sozial, ethisch, ökologisch verantwortlich und gleichzeitig wirtschaftlich erfolgreich Produkte, Waren und Dienstleistungen produziert werden. So bevorzugen auch Anleger immer häufiger Fonds, die in verantwortlich handelnde Unternehmen investieren. Unternehmen, die sich diesen Herausforderungen nicht rechtzeitig stellen, werden zukünftig nicht mehr wettbewerbsfähig sein.
Shopping hat heute eine politische Dimension bekommen, denn jeder Kaufakt ist eine Entscheidung. Der Öko-Gedanke ist seit dem Yuppie-Jahrzehnt („Ich kaufe, also bin ich“) der 1990-er Jahre, das viele erfolgreiche Geschäftsleute hervorbrachte, Common Sense und gesellschaftlich etabliert. Der Begriff „Yuppie“ (Young Urban Professionell) wird vor allem auf den Journalisten Joseph Epstein zurückgeführt. „Professional“ bedeutet sinngemäß „Angehöriger der freien Berufe, Experte“, auch „Angehöriger der oberen Mittelschicht“. Im Gegensatz zur Hippie-Kultur standen bei den Yuppies vor allem Konsum und materieller Wohlstand im Vordergrund. Dieser Reichtum und der damit einhergehende Hedonismus wurden beispielsweise durch das Tragen teurer Kleidung repräsentiert. Der Yuppie wollte lediglich besitzen und behalten – deshalb gibt es ihn auch heute vielleicht nicht mehr - er wurde durch die LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability) abgelöst, die besonderen Wert auf ein bewusstes und ethisch korrektes Leben legen, aber keinesfalls auf die Freuden des Lebens verzichten wollen.
Im übertragenen Sinn ging es dem Yuppie wie der Hauptfigur Raphaël de Valentinin in Balzacs 1831 veröffentlichtem Roman „Das Chagrinleder“, in dem der „Prototyp des Fortschritts- und Glücksverhinderers“ auftritt: „Das einmal Erworbene muss ewig – wenigstens zeitlebens – seinen Wert behalten. Doch wer die Welt so sieht, gräbt sich sein eigenes Grab“ (Wolf Lotter). In einem Antiquariat begegnet der Protagonist einem alten Mann, der ihm das Chagrinleder (ein Stück „Eselshaut“) zeigt. Raphael erkennt eine eingravierte, arabische Schrift folgenden Inhalts: „Alles besitzest du, wenn du mich besitzest. Dein Leben jedoch gehöret mir. So will es Gott der Herr. Alles was du wünschest, soll durch mich erfüllt werden. Doch auf dein Leben richte deine Wünsche. Das ist da. Wie deine Tage werde ich abnehmen mit einem jeglichen deiner Wünsche!“ Mit jedem Wunsch, der seinem Besitzer erfüllt wird, schrumpft dieser Talisman zusammen. Das völlige Verschwinden bedeutet Tod, da die Größe des Talismans proportional zur Lebensdauer seines Besitzers ist.
Ein giftiges Geschäft
Das Thema Leder birgt aber noch andere Aspekte der Nachhaltigkeit: Die Bezeichnung „Bio-Leder“ ist nicht geschützt und wird deshalb nicht einheitlich verwendet. So bezeichnen einige Lederhersteller vegetabil gegerbtes Leder als Bio-Leder oder Öko-Leder. Echtes Leder stammt bekanntlich von Tieren und gilt als hochwertiger Naturstoff und als langlebiges Material. Allerdings ist die Herstellung von konventionellem Leder problematisch und häufig ein giftiges Geschäft: „Leder aus industrieller Massenfertigung wird zum größten Teil mit giftigen Chemikalien gegerbt und behandelt. Das meiste Billig-Leder stammt aus Asien – effektive Umwelt- und Arbeitsschutzstandards gibt es in beliebten Produktionsländern wie Bangladesch und China kaum“, heißt es im Onlinemagazin Utopia.
Pflanzlich gegerbtes Leder und Bio-Leder sind deshalb die bessere Wahl. Üblicherweise wird bei der Lederherstellung den Schlachttieren die Haut abgezogen, die dann enthaart und in Natriumsulfit-Lauge einige Tage gelagert wird. Danach wird das restliche Fleisch abgeschält und die Haut gespalten. Nur der obere Teil wird Leder. Um aus leicht verderblicher Tierhaut haltbares Leder herzustellen, muss sie gegerbt werden. Dadurch bleiben ihre elastischen Eigenschaften erhalten, und sie wird vor Zersetzung geschützt. Gegerbt werden können Häute durch chemische, mineralische oder pflanzliche Stoffe. Rund 90 Prozent aller Leder gerbt man heute mit dem giftigen Schwermetall Chrom. Meistens werden sogenannte Chrom III-Salze eingesetzt.
Durch die Chromgerbung gelangen häufig schädliche Salze zusammen mit hochgiftigen gelösten Schwermetallen über das Abwasser in die Umwelt und auch in die Körper der ungeschützten Arbeiter. Im fertigen Leder-Produkt können sie Allergien bei seinen Trägern auslösen. Unter bestimmten Voraussetzungen können sich im Leder außerdem die deutlich giftigeren Chrom VI-Verbindungen bilden, die ein hohes Allergiepotenzial haben und als krebserregend gelten. Dieses Verfahren ist schneller als die pflanzliche Gerbung und bringt strapazierbare, weiche Leder hervor, die sich individuell zurichten und einfärben lassen. Chromiertes Nappaleder wird fast immer mit Polyurethan-versetzten Substanzen versiegelt, Veloursleder erhalten in der Regel flourhaltige, wasser- und fettabstoßende Substanzen.
Chrom garantiert eine erhöhte Lichtechtheit und leichte Pflegeeigenschaften. Die Leder verlieren jedoch ihre wesentliche Eigenschaft als Naturmaterial und die Chemiekomponenten im Abwasser sind fast nicht abbaubar, und die Auswirkungen wie Vergiftungen und Erbgutschäden sind verheerend. Neben Chromat fallen in der Regel noch Aluminium, Eisen, Zirkon, Phenol, Kresol sowie verschiedene Öle an. Eine Kennzeichnungspflicht für Schadstoffe gibt es nicht. Die einzige Sicherheit für Verbraucher bieten bisher nur Prüfsiegel wie das „IVN Naturleder Gütesiegel“, die der Internationaler Verband der Naturtextilwirtschaft e. V. entwickelt hat. Es beinhaltet:
• Es darf keine Haut von wildlebenden und bedrohten Tierarten verwendet werden.
• Es dürfen nur als Nebenprodukt der Fleischgewinnung anfallende Tierhäute verarbeitet werden.
• Die verarbeitenden Betriebe müssen ihr Abwasser gründlich reinigen.
• Beim Gerben sind Chrom und Stoffe mit hohem Formaldehydgehalt verboten.
• Farbstoffe müssen schwermetallfrei und möglichst pflanzlich sein.
• Es müssen strenge Sozialstandards in der Produktion eingehalten werden.
• Zur Konservierung sind nur Kühlen und Salzen zugelassen.
• Farbstoffe müssen AOX- und schwermetallfrei sein.
• Halogenierte organische Lösemittel und kurzkettige Chloralkane sind zum Färben und Fetten ebenfalls unzulässig.
Es braucht kein Gift und keine Chemie, um Leder zu gerben
In der pflanzlichen Gerbung liegen enorme zukünftige Potenziale, auch wenn das Material teuer als herkömmlich bearbeitetes Leder ist. Qualität hat eben ihren Preis. Pflanzlich gegerbtes Leder (vegetabil gegerbtes Leder) wird mit verschiedenen Gerbstoffen behandelt, die beispielsweise aus Eichenrinde, Rhabarberwurzeln, Mimosarinde, Quebrachoholz oder Tara-Schoten gewonnen werden. Das ist nicht nur umweltschonender, sondern auch sicherer für den Verbraucher, da die pflanzliche Gerbung keine Giftstoffe im fertigen Lederprodukt hinterlässt.
Produkte wie Gürtel und Sneaker aus vegetabil gegerbtem Leder werden beispielsweise vom Öko-Versender memo im Onlineshop memolife angeboten. Durch das traditionelle, rein pflanzliche Herstellungsverfahren werden keine giftigen oder chemischen Zusätze verwendet, das Leder bleibt unversiegelt und atmungsaktiv. Die Bio-Sneaker sind Fairtrade- und GOTS-zertifiziert. Das Obermaterial ist aus pflanzlich gegerbtem Leder. Für die Herstellung wird Fairtrade-zertifizierte Bio-Baumwolle aus Indien sowie Naturkautschuk aus Sri Lanka verwendet. Auch Schuhhersteller wie beispielsweise Ekn Footwear und Veja verwenden für ihre Lederprodukte ausschließlich pflanzlich gegerbtes Leder.
Der Vorwurf von Kritikern, dass Bio-Leder nicht so „haltbar“ sei, ist relativ. Was bedeutet „haltbar“? Ein Leben lang? (Nichts währt ewig – man denke an das Schicksal von Balzacs Hauptfigur, die alles verlor, weil sie behalten wollte.) Der Vergleich zwischen einem chemisch bearbeiteten und einem Öko-Apfel ist in diesem Zusammenhang angebracht: Der eine sieht nach vierzehn Tagen noch frisch und unversehrt aus, während der andere schon Flecken bekommen hat. Das Haltbarkeitsargument greift hier also nicht, denn Qualität „speist“ sich im wörtlichen Sinn aus anderen Eigenschaften.
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gut in Mode: Wissenswertes über nachhaltige Bekleidung und Textilien. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Wolf Lotter: Verschwendung. Wirtschaft braucht Überfluss – die guten Seiten des Verschwendens. München, Wien 2006, S. 47.