Boehringer Ingelheim verdrängt Bayer von Platz eins in Deutschland
Das Familienunternehmen übertrifft den Dax-Konzern im Geschäft mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln. In Zukunft will Boehringer auch an einem Hype mitverdienen.
Frankfurt. Wechsel an der Spitze der deutschen Pharmaindustrie: Das Familienunternehmen Boehringer Ingelheim löst den Dax-Konzern Bayer als größten deutschen Anbieter von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ab.
Im klassischen Pharmageschäft wuchs der Umsatz von Boehringer im vergangenen Jahr um 6,6 Prozent auf fast 19,7 Milliarden Euro, gab das Unternehmen am Dienstag bekannt. Bayer hatte 2023 in seiner Pharmasparte auch wegen negativer Wechselkurseffekte mehr als sechs Prozent Umsatz eingebüßt und Erlöse von rund 18,1 Milliarden Euro erreicht. Währungsbereinigt stagnierte das Pharmageschäft bei Bayer, während die Sparte bei Boehringer ohne Währungseffekte sogar mehr als zehn Prozent zulegte.
Auch bei rezeptfreien Arzneimitteln und Nachahmermedikamenten hatte Bayer im vergangenen Jahr die Spitzenposition in Deutschland an Stada verloren, wie Stada-Chef Peter Goldschmidt dem Handelsblatt unter Berufung auf Marktforschungsdaten erklärt hatte.
Größter Treiber bei Boehringer war erneut das Diabetesmittel Jardiance, dessen Umsatz währungsbereinigt mehr als 30 Prozent auf knapp 7,4 Milliarden Euro zulegte. An zweiter Stelle folgte das Medikament Ofev gegen Lungenfibrose, eine Erkrankung, bei der das Lungengewebe zusehends vernarbt. Ofev spielte mit 3,5 Milliarden Euro fast 13 Prozent mehr ein.
Das Familienunternehmen aus Rheinland-Pfalz macht rund 80 Prozent seines Umsatzes mit Arzneimitteln für Menschen, knapp ein Fünftel entfällt auf Tiermedizin. Insgesamt legte das 1885 in Ingelheim am Rhein als Chemiefabrik gegründete Unternehmen im abgelaufenen Geschäftsjahr um sechs Prozent auf 25,6 Milliarden Euro Umsatz zu. Damit setzt Boehringer den Wachstumstrend der vergangenen Jahre fort. Angaben zum Gewinn machte das Management – anders als in den Vorjahren – nicht. Familienunternehmen sind dazu auch nicht verpflichtet.
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Boehringer Ingelheim erforscht viele neue Medikamente
In der Rangliste des US-Branchenmagazins „Fierce Pharma“ belegt Boehringer Ingelheim nach Gesamtumsätzen gerechnet Platz 14 der weltweit größten Konzerne. Aktuell führt der US-Konzern Johnson & Johnson die Liste an, Bayer und Merck aus Darmstadt erreichen Platz 17 und 18.
„2023 war ein starkes Jahr für Boehringer Ingelheim“, sagte Firmenchef Hubertus von Baumbach. Der Urenkel von Gründer Albert Boehringer ist auch für die weitere Entwicklung des Unternehmens zuversichtlich. Man habe ein umfangreiches Programm an Medikamentenkandidaten, die erforscht werden. „Wir sind entschlossen, die Entwicklung unserer neuen Behandlungsmöglichkeiten zu beschleunigen und sie best- und schnellstmöglich für Patientinnen und Patienten verfügbar zu machen“, sagte er am Dienstag.
So will Boehringer bis 2030 insgesamt 25 neue Therapien für erkrankte Menschen auf den Markt bringen sowie diverse neue Produkte im Bereich Tiermedizin.
Um dieses Ziel zu erreichen, hat von Baumbach im vergangenen Jahr seine Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) um 14 Prozent auf 5,8 Milliarden erhöht und will sie auch in diesem Jahr im zweistelligen Prozentbereich steigern. Mit einer F&E-Quote von 25 Prozent im Bereich Humanpharma liegt Boehringer Ingelheim klar über dem Branchendurchschnitt von 17 bis 18 Prozent.
Aber Boehringer Ingelheim hat noch mehr vor: In den kommenden fünf Jahren plant das Unternehmen, insgesamt 36 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung zu investieren, eine deutliche Steigerung gegenüber den 22 Milliarden Euro, die in den vergangenen Jahren investiert wurden.
Abnehmmittel soll auch gegen Fettleberentzündung helfen
So will das Unternehmen in den nächsten Jahren unter anderem neue Medikamente gegen Nierenversagen, Lungenfibrose, Krebs und Schizophrenie auf den Markt bringen. Zudem ist Boehringer auch bei Abnehmmedikamenten aktiv, bei denen das Diabetesmittel Ozempic vom dänischen Konzern Novo Nordisk einen Hype ausgelöst hat.
Die Ingelheimer haben vom dänischen Pharmaunternehmen Zealand eine Lizenz für den Wirkstoff Survodutid erworben, der aktuell in fortgeschrittenen klinischen Studien gegen krankhaftes Übergewicht, chronische Nierenerkrankung und die nicht durch Alkoholkonsum bedingte Fettleber untersucht wird.
Nach im Februar veröffentlichten Studiendaten wirkt das neuartige Diabetes- und Abnehmmittel auch gegen die Fettleberentzündung, nachdem es zuvor schon einen deutlichen Abnehmeffekt bei übergewichtigen Menschen gezeigt hatte. Die Häufung von Fettzellen in der Leber ist eine inzwischen weitverbreitete Zivilisationskrankheit, deren Entzündung die häufigste Lebererkrankung. Bislang gibt es keine Behandlungsmöglichkeit durch Medikamente.
Boehringer hofft, das Mittel ab 2027 zur Zulassung zu bringen – in welcher Indikation das zuerst erfolgen könnte, sollen die kommenden Studiendaten zeigen.
Im laufenden Jahr erwartet Firmenchef von Baumbach weiteres Wachstum. Das Topprodukt Jardiance dürfte dabei wiederum eine wichtige Rolle spielen. Denn das Produkt, das neben Typ-2-Diabetes auch für die Behandlung von Herzinsuffizienz zugelassen ist, hat im vergangenen Jahr in Europa und den USA eine weitere Zulassung für die Behandlung von chronischen Nierenerkrankungen erhalten. Allein in dieser Indikation kann das Medikament nach Einschätzung von Boehringer potenziell 850 Millionen Menschen erreichen. Alle Anwendungen zusammengerechnet sind es mehr als eine Milliarde.
Sogar die Sparte Tiermedizin profitiert von dem Bestseller Jardiance. Denn dessen Wirkstoff wurde für den Einsatz bei Katzen abgewandelt. Und so bietet Boehringer Ingelheim jetzt auch eine Therapie gegen Diabetes bei Katzen an. Das Potenzial allein in Deutschland ist beachtlich. Denn von den 16 Millionen Katzen hierzulande sind ein Prozent Diabetiker.
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