Branche in der Krise: Der massive Absturz der Autoindustrie in Russland
Mit dem Überfall auf die Ukraine ist der russische Automarkt stark eingebrochen. Während VW, Renault und Mercedes abziehen, bauen die Chinesen ihre Positionen auf.
Berlin. Die Autoindustrie in Russland ist im freien Fall. Im abgelaufenen Jahr sind die Verkäufe um 58,8 Prozent auf 687.370 Autos und leichte Nutzfahrzeuge eingebrochen, melden die Branchenexperten der in Moskau ansässigen Association of European Businesses (AEB). Auch für das laufende Jahr ist nach Auskunft von Autohändlern keine Besserung in Sicht. Dabei war Russland 2021 mit einem Verkauf von 1,7 Millionen Neuwagen noch der achtgrößte Automarkt der Welt.
Ein Großteil der in Russland verkauften Autos wird im Land selbst produziert. Der russische Angriff auf die Ukraine und die darauf verhängten westlichen Sanktionen haben zu dem Einbruch geführt.
In den Sommermonaten kam die Autoproduktion in Russland fast vollständig zum Erliegen, im Mai etwa sank sie um 96,7 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Viele Komponenten müssen von westlichen Zulieferern importiert werden, können aber aufgrund der Selbstsanktionierung der europäischen Erstausrüster (OEM) nicht mehr geliefert werden.
Autoindustrie in Russland stürzt massiv ab
Auch die meisten der großen internationalen Hersteller stellten ihre Tätigkeit ein. Viele von ihnen, wie Renault, Ford und andere haben das Land inzwischen verlassen. Die russischen Hersteller waren ebenfalls gezwungen, ihre Produktion stark einzuschränken.
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Der Vorsitzende des AEB-Ausschusses der Autohersteller, Alexej Kalizew, nannte die Sanktionspolitik und den daraus resultierenden Zusammenbruch der Lieferketten als wichtigsten Grund für den Absturz. Zwar können die Sanktionen zum Teil über Parallelimporte aus anderen Ländern umgangen werden, das führe aber zu steigenden Preisen.
Das gilt im Besonderen auch für den größten russischen Autobauer: Avtovaz (Marke: Lada) in Togliatti an der Wolga: Mitte Mai 2022 hatte Renault mitgeteilt, dass seine 67,69 Prozent große Beteiligung an Avtovaz an den NAMI-Konzern (Zentralinstitut zur Förderung von Automobil- und Motorenbau) abgegeben wurde – laut russischen Medienberichten mit einem Rückkaufrecht für die Franzosen binnen sechs Jahren und zum Preis von einem Rubel. Renault bestätigte offiziell, dass eine Abschreibung von fast 2,2 Milliarden Euro auf die russischen Geschäfte fällig werde.
Seit Juni produziert Avtovaz wieder. Allerdings nur einige Fahrzeuge der früheren Produktpalette, für die noch Teile vorrätig waren. Und die allermeisten Modelle ohne Airbags, ABS und andere Sicherheitsfeatures.
Lada habe die Chance, in diesem Jahr 48 bis 50 Prozent Marktanteil zu erreichen, meinen die Experten des Moskauer Branchendienstes Avtostat. 2022 war der Marktanteil von Avtovaz auf 22 Prozent gestiegen – obwohl der Absatz um 48 Prozent auf knapp 175.000 Fahrzeuge gefallen war. Aber ausländische Wettbewerber wie Kia (minus 67 Prozent auf 65.691), Hyundai (minus 66 Prozent auf 54.017) und Renault (minus 69 Prozent auf 40.844 Wagen) waren noch drastischer eingebrochen.
Deutsche Autohersteller sind in Russland so gut wie raus
Auch die deutschen Hersteller haben massiv an Absatz eingebüßt: Der bisher mit eigenem Werk in Kaluga produzierende Volkswagen-Konzern und Tochter Skoda um je 77 Prozent auf jeweils noch rund 20.000 Autos. Mercedes mit bislang einem Werk bei Moskau um 74 Prozent auf 10.588 und BMW mit Fertigungslinie in Kaliningrad um 78 Prozent auf nur noch 10.435 Exemplare.
Die zum VW-Konzern gehörenden Marken Audi (minus 75 Prozent) und Porsche (minus 69 Prozent) verkauften nur noch 4155 beziehungsweise 1878 Stück.
Auch für das begonnene Jahr sieht es düster aus: Avtostat erwartet einen stagnierenden Absatzmarkt. „Der Zustand des Automarkts hängt vom Zustand der russischen Wirtschaft ab, die sich im Jahr 2023 in einem ernsthaften Strukturwandel befindet und mit beispiellosen Sanktionen konfrontiert ist“, sagt Branchenexperte Viktor Puschkarjow. Er sehe eine „negative Dynamik beim Bruttoinlandsprodukt, sinkende Exporte, sinkende Realeinkommen“, und deshalb sei kein Wachstum bei Autoverkäufen in Sicht.
Auch russische Händler sind in ihren Prognosen pessimistisch. Nach den Prognosen von Denis Migal, Vorstandschef von Fresh Auto, ist der Markt mit einem Mangel an Neuwagen und einem Anstieg ihrer Kosten um 20 bis 30 Prozent konfrontiert, was zu einem Nachfragerückgang führe.
Die Preise sind unter anderem deshalb gestiegen, da beliebte Modelle jetzt als „Grauimporte“ über Lieferanten in der Türkei, Kasachstan, den Vereinigten Arabischen Emiraten und anderen Umgehungsländern nach Russland gebracht werden.
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„Pseudochinesen“ erobern den russischen Automobilmarkt
Puschkarjow geht davon aus, dass ausländische Automobilhersteller vorerst nicht wiederkommen. Damit bleiben vor allem Avtovaz und chinesische Autohersteller wie Haval, Chery, Geely und ihre verwandten Marken, so der Experte. Sie könnten insgesamt gut 25 Prozent Marktanteil erreichen. Unter den bisher 25 beim Absatz in Russland führenden Marken verzeichneten nur zwei ein Wachstum – Geely und Exeed.
„Es besteht kein Zweifel, dass die Chinesen oder ,Pseudochinesen‘, die in russischen Fabriken montiert werden, unseren Markt in diesem Jahr dominieren werden“, sagt Andrej Olchowskij vom Autohändler Avtodom. „Meine Prognose für dieses Jahr: 60 Prozent chinesische und 40 Prozent russische Hersteller.“
Zu den „Pseudochinesen“ zählt inzwischen auch das Moskauer Traditionswerk „Moskwitsch“: Im November 1930 als Automobilwerk der Kommunistischen Jugendinternationale gegründet, begann dort einst die Fertigung von Modellen des Ford Modell A in Lizenz. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Opel Kadett produziert. 2001 lief das bisher letzte Auto dort vom Band, fünf Jahre später wurde Insolvenz angemeldet. 2014 übernahm Renault das Werk.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine übergab Renault 100 Prozent der Anteile am in Renault Russia umgetauften Werk an die Stadt Moskau. Ende November hat zwar das „Moskwitsch“-Werk die Fertigung wieder aufgenommen. Doch das neue Modell, das SUV „Moskwitsch 3“, ist eine Kopie des chinesischen JAC S4 und wird an der Moskwa nur aus wenigen aus China gelieferten Modulen zusammengesetzt.
500 Stück wurden im Dezember gefertigt, 50.000 sollen es 2023 werden, ein Bruchteil, der eigentlich dort von Renault geplanten Produktion. Und das auch nur, wenn genug Teile aus dem Fernen Osten kommen.
Russische Autoindustrie in der Krise: Hoffnung auf Kooperation mit dem Iran
Ansonsten setzen russische Hersteller auf eine engere Kooperation mit dem Iran. Dort waren 2015 westliche Hersteller wie Peugeot und Renault aus der Autoproduktion ausgestiegen. Seither kopieren iranische Hersteller wie Iran Khodro oder Saipa die Teile ihrer früheren französischen Partner. Davon könnten russische Produzenten wie Lada-Hersteller profitieren und Teile aus Persien beziehen, hieß es am Rande der Moskauer Autoshow 2022. Dort hatten 21 iranische Firmen 99 verschiedene Autoteile angeboten.
Und Iran Khodro hat „das Ziel, auf den russischen Markt zurückzukehren“, sagt der Teheraner Autoexperte Amir-Abbas Farnoudi. Der iranische Hersteller hatte bis 2008 seine inzwischen nicht mehr produzierten Samand-Modelle auch in Russland verkauft. Nun will der Teheraner Kfz-Konzern in diesem Jahr das Modell Rira auf den Markt bringen – ein Auto, das verblüffend dem Peugeot 2008 ähnelt.
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