Corona: Anatomie einer Krise
Worin besteht die reale Krise?
Es ist immer hilfreich, sich eine ökonomische Krise zunächst „real“ verständlich zu machen. Was ist passiert? Die Eindämmung der Pandemie erfordert ein vorübergehendes Herunterfahren wesentlicher Teile der Wirtschaft. Real bedeutet dies, dass deutlich weniger Güter und Dienstleistungen produziert werden, also weniger Einkommen entsteht. Der Kapitalstock, das Human- und physische Kapital, bleiben jedoch erhalten, so dass nach dem Shutdown im Wesentlichen, abhängig von der Dauer der Unterbrechung, die gleiche Menge und eine unveränderte Zusammensetzung an Güter und Dienstleistungen produziert werden kann.
Je länger der Shutdown andauert, desto größer sind jedoch mögliche langfristige Folgen. Auch die Instrumente zur Abfederung der kurzfristigen wirtschaftlichen Folgen haben potenziell längerfristige Konsequenzen. Sie können zu Folgekrisen führen. Darüber hinaus können Anpassungsreaktionen längerfristige Reallokationsentscheidungen notwendig machen. Im Wesentlichen sind das Anpassungsreaktionen im Konsum aufgrund von Veränderungen in der Präferenzstruktur, in der Produktion zugunsten stärker kontaktloser Verfahren und weniger komplexer Wertschöpfungsketten sowie in der aggregierten Risikoeinstellung und im Vertrauensniveau der Ökonomie. Es gilt also, nominale und reale, kurz- und langfristige Phänomene der Krise voneinander zu trennen und gleichwohl ihr Zusammenspiel zu verstehen.
Die Instrumente des Krisenmanagements werden mit Dauer des Shutdowns an Wirksamkeit verlieren
Die Sektoren der Wirtschaft sind asymmetrisch betroffen, so dass die Einkommen nicht proportional sinken. In Sektoren, in denen gar nicht mehr produziert wird, entstehen keine Einkommen, in anderen dagegen wird nahezu unverändert produziert. Jedoch wird durch den Angebotsschock in den betroffenen Sektoren ein Nachfrageschock induziert, der sich in nahezu alle Bereiche der Wirtschaft hineinzieht, denn die nicht entstehenden Einkommen führen zu nicht getätigten Ausgaben und insoweit zu einem Nachfragerückgang an anderer Stelle. Die Einkommensverflechtungen und die dahinterstehenden realen Tauschvorgänge sind quer durch die Ökonomie massiv gestört.
Die Instrumente zur Abfederung der ökonomischen Schocks sind im Kern zusätzliche Umverteilungsinstrumente, die temporär für die Dauer des Shutdowns die geringere Produktion von Gütern und Dienstleistungen gleichmäßiger verteilen soll. Die von der Politik ergriffenen Maßnahmen, die vor allem in Bürgschaften und Krediten bestehen, verfolgen das Ziel, die nominalen Zahlungsströme für die Dauer der Produktionsunterbrechung aufrechtzuerhalten, so dass alle Kosten wie Löhne und Mieten in voller Höhe gezahlt werden können, obgleich dahinter keine oder stark veränderte reale Transaktionen stattfinden.
Alternativ könnten sämtliche Einkommen, nicht nur Erwerbs-, sondern auch Kapitaleinkommen wie Zinsen und Mieten, um durchschnittlich zehn Prozent gekürzt werden, was in etwa dem realen Einkommensverlust des Shutdowns entspricht. Stattdessen müssen jetzt die zusätzlichen Kredite in Höhe von zehn Prozent der Wirtschaftsleistung in Zukunft abgeschrieben werden, denn die ausgefallene Produktion kann gesamtwirtschaftlich nicht nachgeholt werden – der Verbindlichkeit heute steht keine Forderung in der Zukunft gegenüber, also auch kein Realtransfer.
Es ist ein reines Scheinmanöver, um die Ökonomie „einzufrieren“, also eine Zeit lang so zu tun, als würde hinter den nominalen Zahlungen weiterhin reale Wertschöpfung stehen. Der einzige reale Transfer, der in Zukunft durch die heutigen Maßnahmen induziert wird, besteht in einer Umverteilung zwischen jenen, die heute kein Einkommen erzielen und trotzdem Güter und Dienstleistungen konsumieren, und jenen, die heute Einkommen erzielen und die anderen mitversorgen müssen.
Der Staat hat also durch die Kredite in Zukunft eine höhere Umverteilungslast, aber im Aggregat, also im Saldo aller Sektoren keine realen Verbindlichkeiten. Je länger der Shutdown anhält, desto größer wird die Umverteilungslast für den Staat. Er wird sich die Kredite, darüber darf es keine Illusion geben, in Zukunft nicht von den Unternehmen zurückholen können, sondern über andere Finanzierungswege nachdenken müssen. Eine Art Monetisierung über die Zentralbank ist denkbar oder aber über höhere Steuern und Vermögensabgaben. Bei der Wahl der Finanzierungsmöglichkeiten ist darauf zu achten, dass dadurch keine unbeabsichtigten Reallokationsentscheidungen erzwungen werden, denn die derzeitige Krise ist nicht durch vergangene Fehlallokationsentscheidungen wie Überinvestitionen oder Vermögensblasen entstanden.
Schon heute strukturelle Folgen der Krise in den Blick nehmen
Gleichwohl kann es als Reaktion auf die Krise zu drei realen, strukturell bedeutsamen Anpassungen kommen: im Konsum der Haushalte, in der Produktion der Unternehmen und in der Risikoeinstellung der Gesellschaft. Die Präferenzen der Menschen können und werden sich höchstwahrscheinlich durch die Krise verschieben, so dass sich der Konsum verändert, was wiederum reale Reallokationsentscheidungen erfordern würde.
Zum Beispiel ist denkbar, dass Menschen in den nächsten Jahren weniger reisen und fliegen werden. Weiterhin werden Unternehmen versuchen, sich weniger verwundbar durch eine Reorganisation von Liefer- und Produktionsketten zu machen. In diesem Zusammenhang könnte es zu einer Re-Nationalisierung und zu verstärkten Autarkiebestrebungen und infolgedessen zu einem größeren nationalstaatlichen Einfluss in der (Welt-) Wirtschaft kommen. Und schließlich wird die Anpassung an ein verändertes tatsächliches und wahrgenommenes Risiko reale Prozesse nicht nur transitorisch, sondern permanent verändern. Die Gesundheitsversorgung und die Forschung werden wahrscheinlich mehr reale Ressourcen erhalten.
Es gibt also Grund zu der Annahme, dass die Krise persistente und sogar hysteretische, also über die Krise hinaus fortbestehende Effekte haben wird. Zweifellos sind wir heute an einem Punkt angekommen, an dem es eine Rückkehr zu der alten Normalität nicht mehr gibt, sondern nur in eine veränderte, weshalb es jetzt darüber nachzudenken gilt, welche Weichenstellungen wir mit der Krise und durch die Krise für die Zukunft vornehmen wollen.
Diese längerfristigen Entscheidungen kommen jetzt immer stärker zu der Frage hinzu, wie sich die Krise kurzfristig abfedern lässt. Mehr noch: Diese Entscheidungen werden immer stärker den Umgang mit der Krise selbst prägen. Bestehendes zu konservieren, wird immer schwieriger, die Kreditlast für Unternehmen, Staat und Banken immer größer, die zukünftigen Spielräume für Innovationen und Investitionen immer geringer.
Politik und Gesellschaft sind dazu aufgefordert, sich dazu Gedanken zu machen, wie die Welt nach Corona aussehen kann und soll. Die Corona-Krise zwingt uns dazu, vom Status quo loszulassen, neu zu denken und neues Vermögen aufzubauen – das Vermögen, eine durch die Krise wohl stark veränderte Zukunft schon heute bewusst zu gestalten.