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Triage: Hat der kettenrauchende Manager bessere Karten als ein Spastiker aus der Werkstatt?, fragt Krauthausen. - Anna Spindelndreier | Gesellschaftsbilder.de

Corona: Menschen mit Behinderung droht durch Triage die Aussortierung

Wenn im Notfall die Beatmungsgeräte nicht ausreichen, entscheiden Ärzt*innen über Sein oder Nichtsein. Fachgesellschaften legen dafür nun einen Kriterienkatalog vor. Nur: Wird eine Behinderung zum Todesurteil?

In Italien und im französischen Elsass ist es schon geschehen: In Krankenhäuser liegen mit dem Corona-Virus Erkrankte, ringen mit dem Tod und brauchen Beatmung, weil die Lungenfunktion aussetzt – aber es gibt nicht genug Geräte für alle. In solchen Fällen mussten die Ärzt*innen entscheiden und mitunter war für sie ein Alter über 80 Jahren ein Ausschlusskriterium. Leben wurde gegen Leben gestellt.

Das soll in Deutschland nicht geschehen. Doch für den Fall, dass wir in Deutschland ebenfalls in eine solche Situation kommen, hat die „Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ (Divi), ein Zusammenschluss aus sieben medizinische Fachgesellschaften, nun eine Art Leitfaden (Link zu PDF) erstellt. Denn natürlich muss man auch das vorausdenken, was am liebsten unmöglich bleiben soll: Dass im Notfall das Menschenmögliche nicht getan werden kann, weil schlicht die Ressourcen dafür fehlen. Doch vorneweg:

Für Menschen mit Behinderung sind diese Triage-Empfehlungen (aus dem französischen „trier“ = aussuchen, aussortieren), wie sie die Fachgesellschaften nun vorschlagen, ein Alptraum. Denn hinreichend unscharf formuliert, dafür zugleich voll von Diskriminierung, dient der Leitfaden als Einfallstor, um sich im Zweifelsfall gegen das Leben eines Menschen zu entscheiden, nur weil er eine Behinderung hat.

Natürlich wird das so nicht geschrieben und das Gegenteil als Ziel genannt. Wer die höchsten Überlebenschancen hat, soll bei der Behandlung Vorrang bekommen, genau heißt es:

Die Priorisierung von Patienten sollte sich deshalb am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren, was nicht eine Entscheidung im Sinne der „best choice“ bedeutet, sondern vielmehr den Verzicht auf Behandlung derer, bei denen keine oder nur eine sehr geringe Erfolgsaussicht besteht.
Auszug aus Leitfaden „Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ (Divi)

Immerhin, Ärzt*innen sollen nicht allein entscheiden, wem sie den Stecker ziehen beziehungsweise gar nicht erst anlegen. Aber muss Grundlage für eine solche Entscheidung nicht ein Gesetz sein? Ähnlich wie beim Transplantationsgesetz, welches einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten muss? Denn wir haben Art. 1 des Grundgesetzes, welcher die Menschenwürde schützt; daraus folgt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch der Grundsatz, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf. Und so wäre es doch Pflicht des Gesetzgebers, uns davor zu schützen, dass andere willkürlich eine solche Abwägung vornehmen! Denn was passiert, wenn man eine solch schwerwiegende Entscheidung Dritten überlassen möchte, sieht man an dem vorgelegten Papier der Fachgesellschaften:

Ein näherer Blick auf den Katalog lässt aufhorchen. Unter jenen Kriterien, die einen vermeintlich schlechteren Behandlungserfolg vermuten lassen, finden sich die so genannten „Komorbiditäten“. Und unter denen der Unterpunkt: „Weit fortgeschrittene generalisierte neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen.“

Das ist eines der Einfallstore. Ich kenne eine Menge Leute mit neurologischen oder neuromuskulären Erkrankungen, mehr oder weniger „weit“ fortgeschritten, und „generalisiert“ ist vieles. Soweit sind sie aber eigentlich gesund. Erst wenn sie am Corona-Virus erkranken, könnte es massive Probleme für einige von ihnen geben, weswegen sie dringend Beatmungsgeräte bräuchten – was NICHTS über die individuelle Erfolgsaussicht sagt. Die neurologischen oder neuromuskulären Erkrankungen können schlicht kein pauschales Kriterium bilden. Natürlich ist es auch möglich, dass atmungsentlastend bereits beatmete Patient*innen, etwa mit COPD oder Muskelerkrankungen, eine bessere Überlebensprognose haben als Gesunde. Doch dazu schweigt das Papier. Ebenso nennt der Katalog nicht Umstände wie Diabetes oder Zigarettenkonsum, welche möglicherweise die „Erfolgsaussichten“ drücken können.

Und was ist das eigentlich mit der Gebrechlichkeit?

Eigentlich ohne Aussagekraft für die Frage, ob die Behandlung erfolgreich ist oder nicht, ist die Punktezahl der Clinical Frailty Scale (CFS) (einzusehen als PDF hier), die den Ärzten hier jedoch ans Herz gelegt wird. Validiert ist diese Tabelle ohnehin nur für Leute ab 65, was in den Empfehlungen offensichtlich keine Rolle spielt. Wenn jemand am Rollator geht oder gar im Rollstuhl sitzt, darf er sich nach der CFS direkt hinten einordnen.

Wer garantiert also, dass Ärzt*innen in der Situation einer Krise und Katastrophe, einer akuten Not, nicht einfach ein Häkchen bei „Komorbidität“ machen oder die entsprechende Zahl der CFS eintragen, wenn sie den Rollstuhl oder einen nicht „normgerechten“ Körper sehen? Die Handlungsempfehlungen der Divi jedenfalls tun es nicht – denn sie schlagen ja genau das vor. Der Eindruck lässt sich nicht unterdrücken, dass hier still und leise ein Kriterium wirkt, das nicht genannt wird: Wie wird der Wert eines Menschen mit Behinderung für die Gesellschaft bemessen, wenn er eine erfolgreiche Behandlung erhält und weiterlebt? Hat dann der kettenrauchende Manager bessere Karten als ein so genannter Spastiker aus der Werkstatt?

Die Divi muss sich rasch zu diesen Fragen äußern. Denn es gilt, was der Ethikrat für eine Triage auf den Weg gegeben hat: Auf “unfaire Einflüsse” wie “sozialen Status, Herkunft, Alter, Behinderung” zu verzichten. Hier offenbart sich ein schwerer Anfangsfehler dieser Handlungsempfehlungen. Mal wieder wurde zur Erstellung dieser Triage-Empfehlungen nicht mit Betroffenen gesprochen. Mal wieder wurden der Deutsche Behindertenrat oder andere Organisationen nicht angehört.

Wir sind es gewohnt, dass man mehr über uns redet als mit uns. In diesem Fall aber ist es schlimmer, denn hier geht es um die Entscheidung über Leben oder Tod. Da dieses Papier diskriminierende und nicht nachgewiesen relevante Kriterien für diese Entscheidung zugrunde legt , könnte es über eine Minderheit richten. Deshalb muss das Papier sofort zurückgenommen werden. Stattdessen muss der Gesetzgeber Farbe bekennen und in verfassungsrechtlich nachvollziehbarer Weise erklären, wie die Ärzte im Falle des Falles entscheiden sollen.

Raul Krauthausen schreibt über Inklusion, Barrierefreiheit

Ich engagiere mich bei www.sozialhelden.de und betreue dort Projekte wie die www.wheelmap.org und www.leidmedien.de. Seit 2015 moderiere ich mit „KRAUTHAUSEN – face to face“ (http://krauthausen.tv/) eine eigene Talksendung zu den Themen Kultur und Inklusion auf Sport1.

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