Darum drohen 330.000 junge Akademiker, das Land zu verlassen
Die politischen Spannungen vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen spiegeln sich auch in der Gunst angehender Fachkräfte wider. Die Ost-Bundesländer sind besonders unbeliebt unter Studierenden. Viele wollen Deutschland gleich ganz verlassen.
Die politische Stimmung und Angst vor Diskriminierung schrecken angehende Akademiker vor einem Job im Osten ab. Neue, repräsentative Daten der Jobplattform Jobvalley und der Universität Maastricht zeigen: Die Bundesländer Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen liegen in der Gunst von Studenten ganz hinten.
Jeweils rund 30 Prozent geben an, dort auf keinen Fall leben und arbeiten zu wollen. Bei denen, die innerhalb der kommenden zwölf Monate ihren höchsten Abschluss machen, ist es sogar mehr als ein Drittel. Gegenüber Hamburg hegen diese Abneigung insgesamt nur elf Prozent.
Die Beliebtheit der Ost-Bundesländer unter Studierenden ist vor den Landtagswahlen Anfang September in Sachsen und Thüringen hingegen im Keller. 22 bis 31 Prozent befürchten in den Ost-Bundesländern Diskriminierung am Arbeitsplatz. Mit 27 Prozent kommt Niedersachsen in dieser Frage allerdings ebenfalls schlecht weg:
44 Prozent sehen die politische Stimmung in Sachsen als abschreckend an – absoluter Höchstwert. Ein Grund dafür: Die rechtsextreme Partei AfD unterstützen in Umfragen mehr als 30 Prozent der Bevölkerung, auch in Thüringen.
RECHTSPOPULISMUS UND VORBEHALTE
Studierende entscheiden sich angesichts dieser Lage aber nicht nur gegen ein Engagement im Osten, viele wollen Deutschland gleich ganz verlassen. 20 Prozent derer, die in den nächsten zwölf Monaten ihren höchsten Hochschulabschluss anstreben, äußern diesen Willen. Unter allen Studierenden sind es noch 11,5 Prozent, aber so oder so: Es droht ein enormer Verlust an Fachkräften.
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Angesichts von aktuell rund 2,9 Millionen Studierenden im Land würden rechnerisch 333.500 Akademikerinnen und Akademiker keinen Job in Deutschland antreten. Clemens Weitz bereitet das Sorgen: „Wenn wir die klügsten Köpfe halten wollen, muss Deutschland als Arbeitsstandort an Attraktivität gewinnen – und zwar jetzt“, sagt der Chef von Jobvalley. „Deutschland steht unter Druck und muss sich im internationalen Vergleich zu Arbeits- und Lebensbedingungen behaupten.“
Im Rahmen der umfangreichen Studienreihe Fachkraft 2030, die seit zwölf Jahren läuft, haben Jobvalley und die Maastrichter Wissenschaftler im April und Mai mehr als 10.000 Studenten befragt. Die Ergebnisse offenbaren den zunehmenden Rechtspopulismus und Vorbehalte gegen Ausländer.
Die Diskrepanz zwischen Studierenden mit und ohne Migrationshintergrund ist im Vergleich zur letzten Erhebung im Herbst 2023 größer geworden. Während die gesamte Gruppe der Befragten etwas mehr Zutrauen in den Standort hat, ist dieses unter Studierenden mit Migrationsgeschichte um 1,6 Prozentpunkte gesunken:
Die Gründe, aus denen die Studierenden nicht in Deutschland leben und arbeiten wollen, sind vielfältig. Mehr als die Hälfte der Befragten empfindet den Standort „generell als unattraktiv“. Fast genauso viele gehen davon aus, dass andere Länder bessere Jobs und besseres Gehalt bieten. Rund die Hälfte bemängelt eine komplizierte und belastende Bürokratie. In diesen drei Antwortmöglichkeiten unterscheiden sich Menschen mit und ohne Migrationshintergrund nur leicht. Bei drei anderen Fragen fallen die Antworten jedoch höchst unterschiedlich aus.
Die politische Stimmung im Land empfinden zwar auch mehr als ein Drittel derjenigen ohne Migrationsgeschichte als „abschreckend“, unter denen mit entsprechendem Hintergrund sind es aber 54 Prozent. Mehr als ein Viertel befürchtet Diskriminierung am Arbeitsplatz – gegenüber sechs Prozent bei denen ohne Migrationsgeschichte. „Ich finde es schwierig, in Deutschland (sozialen) Anschluss zu finden“, sagen 24 Prozent mit und zehn Prozent ohne Migrationshintergrund.
Für potenzielle Fachkräfte aus dem Ausland ist das kein gutes Zeichen. Der Rechtsruck zeigt Wirkung, und offenbar gelingt es Unternehmen, Politikern und der gesamten Gesellschaft nach wie vor nicht, jeder nötigen Arbeitskraft das Gefühl zu geben, willkommen zu sein – und gebraucht zu werden.
STUDENTEN AUS DEM AUSLAND LIEFERN EIN ANDERES BILD
Allerdings ist dieser Befund nicht eindeutig. Ausländische Studenten, die ihre Hochschulzulassung nicht in Deutschland erworben haben, bekennen sich überdurchschnittlich stark zu Deutschland. 92 Prozent aus dieser Gruppe gaben an, hier bleiben zu wollen.
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Volkswirtschaftlich gesehen ist das wiederum ein gutes Zeichen gegen den Fachkräftemangel. Denn in dieser Gruppe liegt der Anteil der MINT-Studierenden, die sich also in der Mathematik, der Informatik, den Naturwissenschaften oder der Technik bewegen, bei fast 80 Prozent. Darunter sind wiederum 42 Prozent angehende Ingenieure und 22 Prozent Informatiker, Berufsrichtungen also, die Unternehmen grundsätzlich stark nachfragen.
„Spannend ist diese Gruppe auch deshalb, weil es sich um zugezogene Studierende handelt, die vor der Einschreibung mehrheitlich keine tiefergehende Sozialisation in Deutschland erlebt haben dürften“, sagt Weitz. Ob dies im Vergleich zur Gruppe der deutschen Studierenden mit Migrationshintergrund etwa die Sorge vor Diskriminierung am Arbeitsplatz mindert, müssen weitere Befragungen zeigen.
