Die Unternehmen zählen zu den Dax-Konzernen mit der höchsten Nettoverschuldung im Vergleich zum Gewinn. - (Foto: Reuters, AP, Fresenius)
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Das 273-Milliarden-Euro-Risiko: Hohe Schulden werden für Konzerne zum Problem

Die Dax-Konzerne haben fast doppelt so hohe Nettoschulden wie vor zehn Jahren. Jetzt ziehen die Zinsen an – und fordern die Unternehmen heraus.

**Düsseldorf.**Der Krieg in der Ukraine unterbricht Produktions- und Lieferketten, lässt die Energiepreise auf Rekordhöhe steigen und dürfte die Weltwirtschaft erheblich schwächen. In diese neue Krise gehen die großen deutschen Unternehmen hochverschuldet: Binnen zehn Jahren stiegen die Nettofinanzschulden der Dax-Konzerne nach Handelsblatt-Berechnungen von 140 auf 273 Milliarden Euro.

Solange die Zinsen nahe null standen, war das kein Problem. Doch die Zinswende lässt die Kosten für neue Kredite drastisch steigen. Unternehmensanleihen rentieren nach Bundesbank-Statistiken derzeit durchschnittlich mit 1,88 Prozent. Im vergangenen August waren es noch 0,7 Prozent.

„Im Niedrigzinsumfeld haben es sich viele Unternehmen gemütlich gemacht, aus dieser Einstellung müssen sie sich befreien“, sagt Bilanzexperte Kai Lehmann vom Vermögensverwalter Flossbach von Storch.

Mit Nettofinanzverbindlichkeiten – also Gesamtschulden abzüglich Cash – von 132 Milliarden Euro ist die Deutsche Telekom am höchsten verschuldet. Das sind knapp zehn Milliarden Euro mehr als vor einem Jahr.

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In der wichtigen Relation zwischen Schulden und den jährlichen Gewinnen vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen (Ebitda) steht der hochdefizitäre Essenslieferant Delivery Hero am schlechtesten da, gefolgt von Bayer, Fresenius, Siemens Healthineers und der Telekom: Die Unternehmen brauchen rechnerisch mehr als drei volle Jahre, um ihre Nettoschulden zu verdienen.

Schulden in zehn Jahren nahezu verdoppelt

Fast alle Unternehmen haben in Zeiten sinkender Zinsen ihre Schulden erhöht. Lagen die Nettofinanzschulden – also die Differenz aus Liquidität und allen Verbindlichkeiten – vor zehn Jahren der damals noch 30 Dax-Konzerne bei 140 Milliarden Euro, so sind es inzwischen 256 Milliarden Euro. Hinzu kommen 17 Milliarden Euro bei den zehn neuen Unternehmen im Dax, der im vergangenen Jahr auf 40 Konzerne erweitert wurde.

Banken und Versicherungen, die Deutsche Börse und der Immobilienkonzern Vonovia sind nicht eingerechnet, weil ihre bilanziellen Nettofinanzverbindlichkeiten nicht mit denen der übrigen Unternehmen vergleichbar sind.

Bei Siemens etwa stiegen zum 31.12.2021 die industriellen Nettofinanzschulden – also ohne die Finanzsparte – binnen eines Jahres von 8,3 auf 13,3 Milliarden Euro. Insgesamt machen Anleihen und Schuldverschreibungen bei dem Elektronik- und IT-Konzern 43,4 Milliarden Euro aus, die Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten nur 2,3 Milliarden Euro. Darin spiegeln sich die günstigeren Finanzierungsmöglichkeiten am freien Kapitalmarkt gegenüber den Banken wider.

Noch profitieren Aktionäre von niedrigen Zinsen

Trotz der gestiegenen Verschuldung konnte Siemens seine Zinslast im abgelaufenen Geschäftsjahr um über 100 Millionen auf 704 Millionen Euro senken. Wenn der Elektronik- und IT-Konzern neue Anleihen oder Schuldverschreibungen herausgibt, werden dafür meist nur Zinsen zwischen null und einem Prozent fällig. Die abgelösten alten Schuldtitel rentieren mit deutlich höheren Zinssätzen. Noch wirken sich also die in den vergangenen Jahren gesunkenen Zinsen positiv auf die Gesamt-Zinslast aus.

Davon profitieren die Aktionäre. Angesichts eines von 4,2 auf 6,7 Milliarden Euro gestiegenen Nachsteuergewinns erhöhte Siemens seine Dividendenausschüttung auf der diesjährigen Hauptversammlung am 10. Februar um 381 Millionen Euro auf 3,2 Milliarden Euro.

Zugleich ersetzte der Konzern ein auslaufendes Aktienrückkaufprogramm durch ein neues: Für bis zu drei Milliarden Euro erwirbt Siemens in den kommenden fünf Jahren eigene Anteilsscheine an der Börse und zieht diese überwiegend ein. Dadurch verknappt sich das Aktienangebot, zugleich steigen die künftigen Gewinne und Dividenden je Aktie – was den Kurs üblicherweise treibt.

Höhere Schulden und trotzdem geringere Zinslasten – das funktionierte lange Zeit sehr gut. Seit der Finanzkrise 2008 hat sich der durchschnittliche Zinssatz für Unternehmensanleihen von fünfeinhalb auf rund ein Prozent verringert. Doch dieser Vorteil und die sich daraus ergebenden Anlegergeschenke sind ein Auslaufmodell.

Seit Monaten steigen die Zinsen für Unternehmensanleihen. Der Trend beschleunigte sich zuletzt rasant: Im Februar erhöhte sich nach Statistiken der Deutschen Bundesbank die Umlaufrendite von Unternehmensanleihen von 1,33 auf 1,88 Prozent. Unternehmen müssen also immer mehr zahlen, wenn sie neue Anleihen begeben wollen.

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Steigende Zinsen bedrohen künftige Dividenden

Setzt sich der Trend fort, was aufgrund der hohen Inflationszahlen in den Industrieländern und der daraufhin eingeleiteten Zinswende der Notenbanken naheliegt, dann wird auch für deutsche Unternehmen der Zeitpunkt kommen, an dem sie für neue Anleihen höhere Zinsen zahlen müssen als für auslaufende Papiere.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine verschärft die Situation insofern, als er nicht nur den Welthandel schwächt und damit auch die Erträge der vielen exportstarken Unternehmen. Der Energiepreisschock „hat das Potenzial, das Wachstum zu verringern und die Inflation anzuheizen“, urteilt Ökonomin Stefanie Kennedy vom Schweizer Bankhaus Julius Bär.

Dafür sorgen auch viele andere Rohstoffe und Vorprodukte, die infolge von Sanktionen und Lieferengpässen immer teurer werden. Deshalb dürften die Notenbanken an ihrer eingeleiteten Zinswende selbst dann festhalten, wenn sich die Weltwirtschaft aufgrund des geopolitischen und militärischen Konflikts abschwächt.

„Das Auslaufen des Programms der EZB zum Ankauf von Unternehmensanleihen bedeutet einen unmittelbaren Anstieg der Kapitalkosten für europäische Unternehmen“, warnt der Marktstratege des französischen Vermögensverwalters Ostrum, Axel Botte.

Die globalen Entwicklungen machen eine Zinswende weiterhin wahrscheinlich. - (Foto: dpa)
Die globalen Entwicklungen machen eine Zinswende weiterhin wahrscheinlich. - (Foto: dpa)

Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte auf ihrer letzten Sitzung angekündigt, den Aufkauf von Firmenanleihen schneller als ursprünglich vorgesehen zu beenden. Damit fehlt künftig der größte Käufer an den Finanzmärkten, was es für die Unternehmen schwieriger und damit teurer macht, Abnehmer für ihre Kredite zu finden.

Vorausschauend heißt es bereits im Jahresbericht von Siemens: „Änderungen der Wechselkurse und der Zinssätze beeinflussen sowohl das operative Geschäft als auch die Investitions- und Finanzierungsaktivitäten des Unternehmens.“

Experten sind sich sicher, dass sich die Unternehmen angesichts der strafferen Geldpolitik neu sortieren müssen. „Dann könnte die Ausschüttungspolitik zugunsten einer Entschuldung verändert werden“, prognostiziert Commerzbank-Analyst Markus Wallner mit Blick auf die künftigen Dividenden der Unternehmen.

Flossbach-Bilanzexperte Lehmann schlussfolgert: „Fest steht, wenn die Zinsen steigen, die operative Ertragskraft aber nicht, bleibt unterm Strich weniger für die Aktionäre.“

Bei Bayer ist die Last am größten

Je leichter die Unternehmen an billiges Geld gekommen sind, desto geringer wurde ihre Spardisziplin und desto größer ihre Lust, Risiken einzugehen. Ein gefährlicher Kreislauf. Bei Fresenius etwa sind die Nettofinanzschulden zum Jahresende auf 24,4 Milliarden Euro gestiegen. Das waren 315 Millionen Euro mehr als im Jahr davor, und es entspricht dem 3,57-fachen Jahresgewinn vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen (Ebitda).

Die hohen Schulden resultieren bei dem Gesundheitskonzern aus vielen teuren und lange zurückliegenden Übernahmen: 2016 hatte Fresenius für 5,8 Milliarden Euro den spanischen Klinikbetreiber Quironsalud gekauft, zuvor die Rhön-Kliniken und den Generikahersteller APP Pharmaceuticals und davor den Dialysespezialisten Renal Care – und die Liste ist noch viel länger.

Die Verbindlichkeiten werden dann zu einer großen Last, wenn weitere Probleme und Risiken für das Betriebsergebnis hinzukommen, wie bei Fresenius etwa Kostensteigerungen, Lieferengpässe und sinkende Erträge aufgrund aufgeschobener OP-Termine in den Krankenhäusern infolge der Coronapandemie.

Am größten ist die Last bei Bayer. Dem Pharmakonzern war der Saatguthersteller Monsanto 50 Milliarden Euro wert. Mit früheren Zinssätzen von vier oder sechs Prozent wäre solch ein Deal ganz sicher nicht zu stemmen gewesen. Bayer drückten zum Geschäftsjahresende Nettofinanzschulden von 33 Milliarden Euro.

Das entspricht dem 4,65-fachen Jahresgewinn vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen. Kein anderer Dax-Konzerne hat solch eine hohe Verschuldungsquote. Binnen zwölf Monaten erhöhte Bayer seine Nettofinanzlast um weitere 3,4 Milliarden Euro.

Acht Unternehmen haben mehr Bares als Schulden

Solche Sorgen brauchen sich Mitarbeiter und Anteilseigner bei den Dax-Neulingen Hellofresh, Siemens Energy und Zalando, dem Flugzeugbauer Airbus, dem Triebwerkshersteller MTU sowie Mercedes Benz und Volkswagen nicht zu machen.

Sie alle haben mehr liquide Mittel als Schulden und deshalb eine negative Nettofinanzverschuldung. Diese ist mit jeweils gut 20 Milliarden Euro bei den Autobauern am höchsten, zumindest wenn man ihre jeweiligen Finanzsparten ausklammert.

Die beste Relation aus Firmengewinn und Barmitteln erreicht Beiersdorf: Der familiengeführte Kosmetikkonzern mit Marken wie Nivea, Eucerin und Labello hatte zum Jahresende Nettofinanzschulden von minus 4,9 Milliarden Euro.

Das bedeutet: Auch Beiersdorf hat mehr Barreserven als Schulden. Gemessen an dem 2021 eingefahrenen Gewinn vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen in Höhe von 1,2 Milliarden Euro ist das Guthaben sogar rund viermal so hoch. So viel Vorsorge und Risikobewusstsein sind einmalig im Dax.

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