Das Beste im Leben
Mit der Zerschneidung der biographischen Einheit in immer kürzere Lebensabschnitte verliert auch das Alter heute jenen nachhaltigen Sinn, der aus dieser stabilen Einheit und Identität abgeleitet war. Fehlender Sinn wird heute häufig durch die scheinbar symbolische Rückgewinnung von Jugend und blindem Aktionismus ersetzt. Auch der Respekt vor dem Alter und die Bedeutung von Erfahrungswissen geht dadurch verloren. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer bemerkte dazu: „Erfahrung ist etwas, was aus der Welt verschwindet. Die geregelte Welt bietet keine Erfahrung. Sie ist vorgeformt, wenn man so sagen darf. Eine Dressur. Und die Überschwemmung mit Informationen ist nicht die beste Form, einen Erfahrungsschatz aufzubauen.“ Kaum noch jemand zitiert heute mehr aus dem Gedächtnis, sondern drückt auf einen Knopf. Gedächtnis im Sinne der echten Pflege und Auswahl dessen, „was überleben soll, wird wohl nicht mehr gepflegt.“ In der Vergangenheit waren die Ältesten in der Gesellschaft diejenigen, die Wissen weitergetragen haben. Heute lassen sich Fakten schnell übers Internet abrufen.
Im Gegensatz zu den jungen sind ältere Menschen häufig in der Lage, noch „in der Strecke“ denken - eine Fähigkeit, die viele junge Menschen zugunsten kurzer Etappen und digitalen Denkens weitgehend verlernt haben. Ältere machen intensivere, bewusstere Erfahrungen und haben eine andere Zeitökonomie als in jungen Jahren, denn sie spüren, dass ihre Lebenszeit begrenzt ist. Keinen Tag nehmen sie mehr für selbstverständlich. Das Leben ist endlicher geworden. Das Schöne am Älterwerden ist auch für die 82-jährige Schauspielerin Heidelinde Weis, gelernt zu haben, wie die gewonnenen Jahre zu erfüllten Jahren werden. Allerdings kann im Alter nur gelebt werden, was zuvor an Leben gewonnen wurde. „Wer mit siebzig eine reizvolle alte Dame sein möchte, muss als siebzehnjähriges Mädchen damit anfangen.“ Agatha Christie sagt zu Recht, dass die Vorbereitung aufs Alter bereits in jungen Jahren beginnt. Sie ist kein Dauerlauf, sondern eher ein ausdauerndes Voranschreiten, wie auch das Leben von Heidelinde Weis zeigt.
Sie setzt gemeinsame Entwicklung voraus und ermöglicht als wahre Freundschaft, sich einander ganzheitlich zuzuwenden. Mit der Schriftstellerin Erika Pluhar verbindet die Villacherin seit Jugendtagen eine tiefe Freundschaft. Beide haben zwar unterschiedliche Temperamente, aber die gleiche „Wellenlänge“. Pluhar war es auch, die das scharfe „S“ aus dem Namen ihrer Freundin genommen hat: „‚Weiss mit zwei S hat jeder, mit einem ist es das Gelbe vom Ei‘." Beide haben im Milchgeschäft der Mutter von Heidelinde Weis am Faaker See in den Ferien gejobbt und Milch verkauft. In jungen Jahren trampten sie nach Lignano, wo Erika Pluhar zum ersten Mal das Meer sah. Am Reinhardt-Seminar empfanden sich die beiden neben ihren Schauspielkolleginnen Senta Berger und Marisa Mell immer als unattraktiv und unscheinbar. Dennoch gelang auch Heidelinde Weis der Durchbruch in Film und Fernsehen.
Mittlerweile hat sie sich von materiellem Ballast befreit und fühlt sich leicht und glücklich, weil sie falsche Gewichte abgeworfen hat, die die eigene Beweglichkeit einschränken. Eine solche Einstellung gibt auch dann noch eine Haltung und Reserven für die Zukunft, wo aller Halt verloren ist. Oft denkt sie, dass das das Leben gerade erst beginnt: „Das Beste kommt noch“. So auch der Titel ihrer Autobiografie, in der sie persönliche Einblicke in ihr Leben gibt, über ihren Umgang mit Veränderungen, Verlust und Schmerz erzählt und 65 Jahre Theater-, Film und Kinogeschichte reflektiert. Und das in der ihr eigenen Sprache: ehrlich, ungekünstelt und bodenständig. Das Buch geht nicht auf Stelzen, „sondern auf den bloßen Füßen“, wie Ludwig Wittgenstein sagen würde. Und genau deshalb können auch so viele Menschen folgen, weil es immer auch ein Stück mit ihnen zu tun hat.
Es wird auch vermittelt, was ein glückliches Leben ausmacht. Dazu gehört es auch, geistesgegenwärtig zu sein und auf das hinzuhören, was der Augenblick bietet - fernab des „Ich-müsste-noch“, durch das eine Struktur des Aufschubs und des indirekten Lebens entsteht. Die gebürtige Kärntnerin blickt, trotz vieler Schicksalsschläge, positiv zurück: „Auch das Falsche war richtig.“ Niemals würde sie all die Krankheiten (sie hatte drei Krebserkrankungen und pflegte ihre große Liebe, Theaterproduzent Hellmuth Duna, nach einem Schlaganfall zehn Jahre lang bis zu seinem Tod), als negativ bezeichnen – aus allem ist sie immer reicher herausgegangen, weil sie die jeweilige Situation akzeptiert und weitergemacht hat.
Sie hat Herausforderungen immer als Chance begriffen und sich die Rahmenbedingungen selbst geschaffen, die sie brauchte, um voranzukommen. Es war Trotzdem, das sie immer weitergebracht hat – dazu gehört auch die Verwandlung eines Leidens in eine (künstlerische) Leistung. „Wie viel ist aufzuleiden!“ (nicht aufzuarbeiten), heißt es bei Rainer Maria Rilke. Die Freiheit des Willens, dass wir die eigene Haltung zu äußeren Bedingungen des Lebens immer frei wählen können, wurde zum zentralen Postulat der Logotherapie und Existenzanalyse des Österreichers Viktor Frankl. Das ermöglicht uns, den mentalen Reflex in uns zu aktivieren, den er „Trotzmacht des Geistes“ nannte. Dieser hat nichts mit dem Trotz zu tun, der oft umgangssprachlich gemeint ist, sondern ist eine höhere, zentrierte Kraft in uns, der wir uns überantworten können, und die uns die erforderlichen mentalen Ressourcen bereitstellt. Beharrlichkeit, Stärke und Willen geben Unterstützung darin, uns nicht von Ängsten lähmen zu lassen.
Auch Heidelinde Weis war sich immer bewusst: Wer selbstständig handelt, ist auch für etwas zuständig und dafür verantwortlich – auch wenn man klein ist und sich alles hart erarbeiten muss. Sie ist zugleich ein Symbol dafür, dass Erfolg nicht für Größe stehen muss, sondern vor allem mit Nachhaltigkeit zu tun hat, die auch dann noch Halt gibt, wenn alles andere nicht mehr hält.
Heidelinde Weis: Das Beste kommt noch. Autobiografie. Wieser Verlag, Klagenfurt 2022.