Das emotionale Versteckspiel – Wann wir unseren Gefühlen nicht trauen sollten
Unsere Emotionen und Gefühle haben einen gewaltigen Einfluss auf unser Leben, und sie begleiten uns auf Schritt und Tritt. Je mehr wir über sie wissen, desto weniger können sie uns das Leben schwer machen.
Gefühle sind komplexe psychologische Zustände, die aus der Interpretation von Reizen entstehen, welche wir aus unserer Umwelt aufnehmen. Sie sind eng mit unseren Bedürfnissen und Wünschen verbunden, steuern unser Verhalten, beeinflussen unsere Persönlichkeit wie auch die Beziehungen zu anderen Menschen. Gefühle sind also sehr mächtig und beherrschen dem Hirnforscher Gerhard Roth zufolge unseren Verstand mehr als umgekehrt.
Dass dieses Kräfteverhältnis gewisse Risiken birgt, liegt auf der Hand. Dennoch kommt die US-Autorin Anne Kreamer in ihrem Buch über Emotionen am Arbeitsplatz (It's Always Personal: Navigating Emotion in the New Workplace) zu dem Schluss: Je authentischer und offener wir uns bei der Arbeit zeigen, umso produktiver und zufriedener sind wir. Egal ob wir lachen oder weinen, Gefühle zu zeigen sorge für eine bessere Verbindung zu anderen Menschen, und die sei auch im Arbeitsleben wichtig.
Ich sehe dabei nur ein Problem: Längst nicht alle Gefühle sind gute Berater.
Denn besonders dann, wenn unsere Gefühle sehr intensiv sind, übernehmen sie gern das Steuer in Bezug auf unser Denken und unsere Handlungen. Oftmals blockieren sie dabei unseren Verstand und verführen uns zu Verhaltensweisen, mit denen wir unsere Beziehungen eher belasten und durch die unsere Probleme, insbesondere im Job, größer werden als zuvor. Wir sollten unseren Gefühlen vor allem dann nicht trauen, wenn sie aus unserem Schattenkind resultieren. Jenem dunklen Teil unseres Selbstbildes, der eigentlich nur eine Verinnerlichung unserer negativen kindlichen Erfahrungen repräsentiert, die wir im Umgang mit unseren Bezugspersonen gemacht haben.
Meine Klientin Elke etwa, die in ihrer Kindheit nicht die Aufmerksamkeit erhalten hatte, die sie benötigt hätte, lebt seit jeher mit dem negativen Glaubenssatz „Ich genüge nicht, bin wertlos, nicht wichtig.“ Im Job ist sie deshalb oft niedergeschlagen und traurig, wobei der Reiz meist ähnlich ist: Führungskräfte und Kollegen ihres Unternehmens treffen sich zu einem Meeting oder unterhalten sich auf dem Flur miteinander, und Elke wird nicht involviert. Die Interpretation: „Meine Meinung zählt nicht. Ich bin es nicht wert, dass man mich fragt.“ Hier sieht man, wie eng die Glaubenssätze des Schattenkindes mit der Interpretation der Wirklichkeit zusammenhängen. Je bewusster wir uns unserer alten Prägungen und der damit einhergehenden Gefühle sind, desto leichter erkennen wir, um welche Art von Gefühl es sich handelt.
Die eigenen Gefühle erforschen
Psychologen unterscheiden zwischen adaptiven (angemessenen) und maladaptiven (unangemessenen) Emotionen. Ein angemessenes Gefühl ist beispielsweise, auf einen Verlust mit Trauer zu reagieren oder auf eine Beleidigung mit Ärger. Unangemessen wäre es hingegen, auf eine Beleidigung ausschließlich mit Trauer zu reagieren. Eine Beleidigung der eigenen Person stellt eine Grenzverletzung dar: Sie kann uns bekümmern, wenn uns das Gegenüber wichtig ist. Zum Zweck des Selbstschutzes müsste sie aber auch Wut auf den Plan rufen. Reine Trauer aber, wie sie Elke häufig empfindet, wäre maladaptiv, weil sie den Betroffenen nicht zur Verteidigung motiviert, sondern dazu, den Schmerz gegen sich selbst zu richten.
Ich habe schon viele Frauen psychotherapeutisch begleitet, die sich die größten Unverschämtheiten von ihren Chefs haben bieten lassen, ohne wütend zu werden. Die maladaptive Emotion der Trauer erstickt die Wut. Diese Frauen haben als Kinder von ihren Eltern gelernt, dass Wut nicht erwünscht war. Sie haben ihre Wut – in Form von Trauer – dann gegen sich selbst gerichtet. Hierdurch wird die notwendige Emotion der Wut blockiert, die zu einer gesunden Grenzsetzung (adaptiv) führen würde.
Unseren Emotionen sollten wir auch dann nicht trauen, wenn sie mal wieder Verstecken mit uns spielen. Wenn ein Gefühl nämlich sehr intensiv und nur schwer erträglich ist, tauschen wir es unbewusst durch eine besser aushaltbare Emotion aus, was in der Psychologie auch als sekundäre Emotion bezeichnet wird. So versuchen wir unser eigentliches Gefühl, die primäre Emotion, vor uns und anderen zu verbergen. Es gibt nicht wenige Menschen, die traurig sind, wenn sie eigentlich wütend (primäre Emotion) sein müssten. Man bezeichnet sie als aggressionsgehemmt. Die Trauer ist in diesem Fall die sekundäre Emotion.
Klienten, die dazu neigen, ihre wahrhaftigen Gefühle hinter sekundären Emotionen zu verstecken – und damit gleichermaßen zu verdrängen –, bitte ich regelmäßig, ihre primäre Emotion zu erforschen und sich folgende Fragen zu beantworten:
Warum ist sie für mich so schlecht auszuhalten?
Ist sie ein altes Gefühl aus meiner Kindheit?
Welchen Handlungsvorschlag macht mir meine primäre Emotion?
Ist dieser Vorschlag sinnvoll, und wenn ja, wie kann ich ihn konstruktiv umsetzen?
Wenn wir vergangene Erfahrungen aus unserem Bewusstsein verbannen beziehungsweise reflexartig verdrängen, sobald sie auftauchen, können wir sie nicht heilen. Heilung kann nur im Annehmen dieser schmerzlichen Gefühle geschehen. Unterdrücken oder verstecken wir sie, so brechen sie häufig an anderer Stelle hervor. Ein alter, unverarbeiteter Schmerz mündet dann plötzlich in einem Wutausbruch, der in keinerlei Verhältnis zum Anlass steht.
Öfter mal den Blickwinkel verändern
Eine gesunde Beziehung zu unseren Gefühlen ist von entscheidender Bedeutung für unsere mentale Gesundheit und unser allgemeines Wohlbefinden. Wenn wir lernen, unsere Gefühle zu verstehen und angemessen zu regulieren, können wir souveräner mit Stress umgehen, uns selbst und andere eher verstehen und bessere Beziehungen aufbauen. Wir sollten deshalb im Alltag mehr auf unsere Gefühle achten, ihnen Raum geben und dabei immer bedenken: Es ist nicht die Situation als solche, die die Gefühle in uns erzeugt, sondern es sind unsere Gedanken in Form von Interpretationen, mit denen wir die Situation bewerten.
Hier gilt es, die eigenen Gedanken zu überprüfen, indem wir uns ertappen und umschalten. Fühlen wir uns vielleicht unterlegen und reagieren deswegen wütend, ängstlich oder blockieren unsere Gefühle? In dem Fall ist es ratsam, die eigene Wahrnehmung zu korrigieren und sich wieder auf Augenhöhe zu begeben. Insbesondere im Job ist das für unser Wohlbefinden entscheidend.
Und unbedingt sollten wir öfter mal bewusst unseren Blickwinkel verändern und uns vorstellen, wir befänden uns in einer Situation, die intensive, aber durchaus angemessene Gefühle hervorruft. Zum Beispiel sind wir sehr nervös, weil wir ein wichtiges Gespräch mit unserem Vorgesetzten führen müssen. Dann atmen wir tief durch und sagen uns: „Ja, das ist jetzt so. Ich kann auch mit Angst ein Gespräch mit meiner Chefin führen.“ Dabei ist es hilfreich, das Vorstellungsbild zu verändern. Einfach die Situation und die Beteiligten im schönen Sonnenlicht visualisieren, die Farben auswechseln, den Geruch usw. Das innere Bild, das wir uns von einer vermeintlich bedrohlichen Situation machen, besteht schließlich auch nur aus unseren Gedanken, die wir positiv verändern können.
Elke war in unserer letzten Sitzung sehr bedrückt und hat mir schließlich erzählt, dass sie am gestrigen Arbeitstag, in einer Situation mit Kollegen, gemerkt hätte, dass ihre Gefühle mal wieder übertrieben oder nicht passend gewesen waren, und dass es ihr seitdem nur noch schlechter ginge. Sie würde sich nun schämen, schuldig fühlen und wütend auf sich selbst sein. Ich habe sie daran erinnert, dass unsere Gefühle – auch wenn sie nicht immer zum Hier und Jetzt passen – einen triftigen Grund haben. Sie entspringen unseren vergangenen Erfahrungen. Darum sind sie auch psycho-logisch. Diese Logik sollte sie sich vor Augen führen und mitfühlend mit sich umgehen.