Das Ende der LOHAS
Als im Herbst 2008 die Finanz- und Wirtschaftskrise die Welt erschütterte, hatte das von Paul Ray und Ruth Anderson geprägte Akronym LOHAS, „Lifestyle of Health and Sustainability“ (übersetzt etwa „gesunder und nachhaltiger Lebensstil“), Hochkonjunktur. Die beiden US-Soziologen befragten über 13 Jahre mehr als 100.000 US-Amerikaner nach ihren Werten und ihrer Lebenseinstellung. Kaum eine Zeitschrift, eine Studie, ein Buch, das nicht über die so genannten Neo-Ökos, Mainstream-Ökos, Lifestyle-Ökos oder „Gutmensch-Kapitalisten“ berichtete.
Das Zukunftsinstitut veröffentlichte 2007 die Studie „Zielgruppe LOHAS", im gleichen Jahr fand die erste deutsche LOHAS-Konferenz „KarmaKonsum“ statt, AC Nielsen nahm die LOHAS als eigenständige Gruppe in das Consumer-Tracking in Deutschland auf und diverse LOHAS-Internetportale gingen online. Ganze Werbeindustrien und Vermarktungsstrategen widmeten sich dieser Käufergruppe, die sich für einen nachhaltigen Lebensstil einsetzt und sich durch ihre vorhandene Kaufkraft und ihr Streben nach schadensminimiertem Konsum auszeichnet.
Das Konsumverhalten der LOHAS drückte eine Haltung aus und wurde zu einem sozialen Statement.
Diese konsumfreudigen, stilbewussten und häufig wohlhabenden Menschen wollten mit ihrer Kaufentscheidung Botschaften vermitteln, die sich auf faire Produktionsbedingungen und den Erhalt der Umwelt gleichermaßen beziehen, hieß es damals. Das Kelkheimer Zukunftsinstitut formulierte es so: LOHAS wollen immer das „Und“. Dazu gehören z.B. Genuss und Gesundheit, Spaß im Leben und gutes Gewissen, Umweltverträglichkeit und Design, Ethik und Luxus, Modernität und Wertebewusstsein, Einfachheit und Technik.
Nicht Verzicht war das Credo, sondern das Anlegen des Einkommens in Dinge, die das Leben angenehmer, genüsslicher, gesünder machen und gleichzeitig gut für die soziale und natürliche Umwelt sind. Mit der weltweiten Finanzkrise 2008/2009 veränderte sich auch die Berichterstattung in Deutschland - der LOHAS-Begriff löste sich in den Folgejahren auf. Begriffe mit nachhaltiger(er) Substanz und einer eigenen Historie wie „Der Ehrbare Kaufmann“ hielten plötzlich wieder Einzug in die Medien. Im Mittelpunkt standen wieder „handfeste“ Begriffe wie Werte und Verantwortung.
Krisenzeiten machen bodenständig und „erden“, führen zurück zur wahren Bedeutung des Begriffs Nachhaltigkeit.
Er bezeichnet, was uns trägt und uns hilft, gegen Zusammenbrüche aller Art gefeit zu sein, auch wenn wir mutlos und abstiegstrunken unterwegs sind. Dazu gehört eine Definition, die sich im 1807 von Joachim Heinrich Campe herausgegebenen Wörterbuch der deutschen Sprache findet: „Nachhalt“ ist das, „woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält.“ Der tröstliche Satz hat etwas zu allen Zeiten Gültiges und verweist darauf, dass Nachhaltigkeit vor allem ein Krisenbegriff ist, der immer auch Aufbruch und die Entstehung eines neuen Bewusstseins markiert.
Der Ökoboom spiegelt zugleich auch die Geschichte der LOHAS, die gewissermaßen von innen heraus erfolgte und mit dem Food-Bereich begann, der als das größte Segment im LOHAS-Markt galt. Die Bio-Branche verzeichnet jährlich enorme Zuwachsraten. Immer mehr Bio-Produkte wurden und werden auch in deutschen Supermärkten abgesetzt.
Nach den Biolebensmitteln, der inneren Einnahme, ging die Bewegung über die äußere Hülle, die Haut. Die Naturkosmetik und ihr breites Produktangebot rückten immer mehr in den Fokus der Verbraucher. Die guten Umsatzzuwächse machten aus den Nischenprodukten plötzlich einen unaufhaltsamen Trend.
Auch die Modebranche reagierte. Ökolabels sind mittlerweile auf den Laufstegen von Paris und Mailand vertreten, ökologisch und fair produzierte Mode hat sich zu einem ernst zu nehmenden Markt entwickelt. Während sich in Großbritannien, den USA oder Japan der Trend „Green and Ethical Fashion“ längst durchgesetzt hat und ökologisch wie ethisch korrekte Kleidung gut erhältlich ist, startete der Öko-Mode-Boom auf dem deutschen Markt etwas zeitverzögert. Sogar Massenanbieter brachten mittlerweile ihre eigenen „ethical fashion“-Labels auf den Markt. C&A setzte mit einem umfassenden Sortiment aus 100%-Bio-Baumwolle seit September 2007 Standards. Auch Adidas lancierte Anfang April 2008 unter dem Namen „Grün“ seine ersten Öko-Produkte. Öko-Pioniere wie die memo AG setzen bereits schon Jahre zuvor auf ein komplett nachhaltiges Sortiment, zu dem auch nachhaltige Textilien gehören.
Nahrung und Kleidung sind die Güter, die dem Menschen am nächsten kommen – Nahrung nimmt er auf, Kleidung trägt er auf der Haut. So überrascht es nicht, dass Öko auch im Textilsektor zu einem Trend wurde – und wegen der Verbindung von Lifestyle und Moral zu einem Modethema. „Es ist sexy, die Welt verändern zu wollen“, sagte U2-Sänger Bono einmal. Und setzte die Idee „gut aussehen und damit Gutes tun“ selbst um: Erst hat er mit seinem Namen dem Label Edun zu Kultstatus verholfen und „eine umwelt- und sozialbewusste, aber dennoch ästhetisch schöne Kollektion“ kreiert, um dann mit dem Biolabel Red gleich in einem anderen Markt weiterzumachen. Bono ist kein Einzelfall – auch wenn nicht jeder Star seine eigenen Marken schafft, so findet eine nachhaltige Wirtschaftsweise doch breite Zustimmung bei vielen Stars. Hollywoods VIPs sind der Beweis, dass diese Idee in der Gesellschaft angekommen ist. Julia Roberts heizt mit Solarenergie, Steven Spielberg und Sting fahren Elektroautos, Al Gore erhält einen Oskar für seinen Film „Eine unbequeme Wahrheit“ und Arnold Schwarzenegger gewinnt seine Wahlen mit grünen Themen.
„Es geht nicht nur um Energiesparlampen für daheim. Es geht um die DNA unseres Wirtschaftssystems“, sagt Leonardo DiCaprio.
Die Sängerin und Songwriterin Sheryl Crow meint: „Keiner kann alles machen. Aber jeder kann ein bisschen was tun.“ Ein bisschen was tun – dieses Statement beschreibt gut die neue Verantwortungsethik, die das eigene Handeln (und das eigene Konsumverhalten) in den Mittelpunkt stellt. Menschen suchen nach Sinnerfüllung auch beim Konsum. Dabei steht nicht mehr der Preis im Zentrum ihrer Wahrnehmung, sondern gute Qualität, die um ökosoziale Dimensionen erweitert wurde.
Nach der Mode folgte der nachhaltige Tourismus, der vom neuen Gesundheitsbewusstsein der Verbraucher profitierte (Health Holidays), die auch in ihrer Freizeitgestaltung einen immer größeren Wert auf soziale und ethisch korrekte Komponenten legten. Auch Bio-Hotels (solarenergiebetrieben, Bio-Menüs etc.) folgten diesem Trend. Klimaagenturen wie Myclimate oder Atmosfair bieten ihren Kunden an, den CO2-Ausstoß einer Flugreise mit entsprechenden Investitionen in Öko-Projekte zu neutralisieren. Wer fliegt, zahlt einfach einen bestimmten Betrag in einen der vielen Fonds, die sich für den Klimaschutz engagieren. Die Fluggesellschaft Easyjet bietet gegen einen Aufpreis die Möglichkeit, für jeden Flug einen Baum zu pflanzen.
Parallel dazu wuchs das Bewusstsein für nachhaltige Mobilität. Der Wunsch, mobil sein zu wollen und gleichzeitig zum Schutz der Umwelt beizutragen, zeigt sich ebenso in der Entwicklung des Car-Sharings oder dem Erfolg von Leihfahrrädern wie den CallBikes der Deutsche-Bahn-Tochter DB Rent. Klimaschutz wurde plötzlich auch in Unternehmen zum Thema. Nicht mehr Prestige und PS-Zahl entschieden über die Wahl der Dienstfahrzeuge, sondern auch Verbrauch und Kohlendioxid-Ausstoß gehörten zu den Kriterien für nachhaltiges Flottenmanagement.
Die memo AG in Greußenheim möchte ihre Mitarbeiter durch verschiedene Maßnahmen zu nachhaltiger Mobilität motivieren. So können an vier Elektroladesäulen Elektroautos vergünstigt „betankt“ werden. Der Unternehmenspartner Naturstrom hat dafür nicht nur die notwendige Hardware geliefert, sondern versorgt den öko-Versender auch mit Strom aus 100 % regenerativen Energien. Da sich in nächster Umgebung des Standorts bisher keine öffentliche Ladesäule befindet, wird dies auch als Anreiz für die Mitarbeiter gesehen, über die Anschaffung eines Elektrofahrzeugs nachzudenken. Zudem werden sie bei der Bildung von Fahrgemeinschaften unterstützt, zudem wird ein steuervergünstigtes Leasing-Modell für (E-)Bikes angeboten. Regelmäßige Sprit-Spartrainings runden das Angebot ab (Quelle: memo Nachhaltigkeitsbericht 2019/2020).
Doch erst mit der „Immobilität“ wurde die LOHAS-Entwicklung nachhaltig „gebunden“ - in einer Krisenzeit, in der die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen sind und sich auf das Wesentliche reduzieren.
In Zeiten des Sich-Sammelns (wie der Corona-Krise) entsteht bei vielen Menschen das Bedürfnis nach Geborgenheit und Entschleunigung.
Wenn das Vertrauen in materielle Werte („Geiz ist geil“) enttäuscht wird, wächst die Sehnsucht nach dauerhaften und belastbaren Werten. Die Entwicklung, die von innen nach außen begann, führt nun von außen nach innen zurück. Das zeigt auch die Relevanz des nachhaltigen Bauens. Nachhaltige Wohnqualität und die Bewertung durch den Immobilienmarkt hängen eng zusammen. Immer mehr Immobilieninvestoren treffen ihre Anlageentscheidungen unter Nachhaltigkeitskriterien. Das gilt ebenso für Bürogebäude. Unternehmen mit einem ganzheitlichen Nachhaltigkeitsansatz gelingt es besser als anderen, ihren Werten ein bleibendes „Zuhause“ zu geben. Diese Entwicklung zeigt zugleich, was an Sein bleibt, wenn der Schein in Krisenzeiten verschwindet. Das gilt auch für die Sprache: Vom LOHAS-Begriff hat lediglich der letzte Buchstabe überlebt, der für Nachhaltigkeit steht.
Weiterführende informationen:
Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.