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Das europäische Dilemma: Weshalb Europa auf absehbare Zeit nicht stabil sein kann und dennoch weitermachen muss

Die derzeit symmetrische Konjunktur in der Eurozone überdeckt, dass die strukturellen Probleme für die Verträglichkeit einer gemeinsamen Währung mitnichten gelöst sind. Erste Anzeichen einer einsetzenden Abschwächung der Konjunktur und drohende Zinsänderungsrisiken können im Zusammenhang mit den politischen und ökonomischen Problemen in Italien die Eurokrise sehr schnell akut werden lassen.

Was die Eurozone, die unverändert kein optimaler Währungsraum ist, weil die strukturellen Unterschiede nicht ab-, sondern im Gegenteil eher noch aufgebaut worden sind, unzweifelhaft braucht, ist ein fiskalpolitischer Rahmen, der die einheitliche Geldpolitik flankiert. Macron hat hierzu vor einiger Zeit weitgehende Vorschläge unterbreitet, die von Merkel bislang nur halbherzig beantwortet worden sind. Die Politik schlittert in den gleichen Fehler hinein, den sie schon mit den Maastricht-Verträgen gemacht hat: In den Irrtum eines vagen politischen Stabilitätsversprechens, das sie selbst nicht erfüllen kann. Der nächste institutionelle Schritt, den Europa unternimmt, aber muss über Maastricht weit hinausgehen. Die technischen Anforderungen an eine stabile Währungsunion sind weit weniger verhandelbar als politische Positionen. Die Eurozone braucht glaubwürdige Regeln. Aber genau hier liegt das Problem: Die gibt es nicht, ohne einen Schritt weiter zu gehen.

Ein regelbasierter Stabilitätsmechanismus, der die Europäische Zentralbank von ihrer quasi-fiskalischen Stabilisierungsfunktion (Ankauf von Schulden der Krisenländer) befreit, greift notwendig in wesentliche Politikfelder ein, die sich aber derzeit (noch) in hoheitlicher Souveränität der Mitgliedsstaaten befinden. Spieltheoretisch hängt die Glaubwürdigkeit eines funktionsfähigen fiskalischen Mechanismus zwingend an der politischen Durchsetzung der Regeln. Ein solcher Mechanismus besteht dabei aus einer Kombination von Instrumenten automatischer Stabilisierung und Instrumenten zur Sanktionierung von sich fehlverhaltenden Mitgliedsstaaten. Beides erfordert letztlich die Möglichkeit, in hoheitliche Souveränität einzugreifen. Existiert diese Möglichkeit nicht, gibt es faktisch keine Durchsetzung der Regeln. Wenn es diese aber nicht gibt, besteht gegenüber den Märkten keine politische Glaubwürdigkeit, so dass diese beginnen werden, gegen den Euro oder den Verbleib einzelner Länder zu spekulieren, mit dem bekannten systemischen Risiko für die Eurozone insgesamt und die Finanzmarktstabilität.

Interne Stabilität innerhalb der Eurozone und externe Stabilität gegenüber den Märkten gehören also untrennbar zusammen. Gegenüber den Märkten ist das politische Stabilitätsversprechen nur glaubhaft, wenn es einen legitimierten Eingriff in die Souveränität der Mitgliedsstaaten in wesentlichen Politikfeldern gibt. Dabei geht es nicht um die viel beschworenen gemeinsamen Werte und Interessen in der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern um zum Teil sehr unterschiedliche Vorstellungen und Regulierungen in der Arbeitsmarkt- oder der Rentenpolitik. In ihrem Buch zum Euro zeigen Markus Brunnermeier, Harold James und Jean-Pierre Landau, dass die wirtschaftspolitischen Unterschiede auch und gerade zwischen Frankreich und Deutschland auf ideengeschichtlich sehr manifesten Unterschieden im Verständnis von Markt und Staat beruhen und deshalb eine politische Einigung auf gemeinsame Regeln weit schwieriger ist, als es vordergründig den Anschein hat. Eine europäische Demokratie aber ist heute angesichts der politischen Entwicklungen in einzelnen Ländern wie Italien weiter weg denn je.

Der Ökonom Dani Rodrik hat indes gezeigt, dass es bei der Lösung der derzeitigen Globalisierungskrise um nicht weniger geht als eine neue Balance zwischen offenen Märkten, nationalstaatlicher Souveränität und Demokratie. Insoweit ist die Krise der Globalisierung wie auch die Eurokrise auch eine Legitimationskrise. Mit Bezug zu Europa ist Skepsis abgebracht, ob es auf absehbare Zeit gelingen kann, eine supranationale Demokratie als Grundlage für einen fiskalischen Stabilisierungsrahmen zu organisieren. Und genau darin liegt nun das europäische Dilemma: Es gibt keine schnelle und einfache Lösung, denn es existiert heute kein unmittelbar funktionierender Mechanismus, der hinreichend stabilisiert und gleichzeitig legitimiert wäre. Der einzige Weg, den Europa gehen kann (und gehen muss), ist ein langer Prozess, dieses Dilemma institutionell allmählich zu überwinden. Die von Olaf Scholz vorgeschlagene europäische Komponente in den nationalen Arbeitslosenversicherungen als Ausgleichsmechanismus für auseinanderlaufende Konjunkturverläufe kann ein erster Schritt auf diesem Weg sein. Irgendwo muss Europa sich bewegen. Sonst droht Europa eine historische Tragödie: Just in dem Moment, in dem Trump ein Spiel zwischen den USA und China um die Weltordnung des nächsten Jahrhunderts anzettelt, gerät Europa zunehmend selbst in einen Zustand politischer Spaltung.

Prof. Dr. Henning Vöpel schreibt über Weltwirtschaft, Digitalökonomie

Professor für Volkswirtschaftslehre an der BSP Business and Law School sowie Direktor des Centrum für Europäische Politik in Berlin, Rom und Paris, Podcaster zur Digitalisierung und internationaler Keynote-Speaker, Forschung zu Globalisierung und Transformation.

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