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Das Genossenschaftsprinzip: Selbsthilfe - Selbstverantwortung – Selbstverwaltung

Krisen, Kriege und Klimawandel führen uns die Grenzen eines Wirtschaftssystems vor Augen, das auf unbegrenztes Wachstum und einen immer schnelleren Kreislauf von Geld, Gütern und Geist setzt. Auch Dr. Wolfgang Fabricius sagt „Nein“ zu einer Wirtschaft mit ihrem Wachstumswahn, der die planetare Verwüstung vorantreibt. Dazu stellt er sie in seinem Buch „Profitfreie Räume!“ dem Zinsverbot des Genossenschaftsgesetzes gegenüber, dem einzigen deutschen Gesetz, das ein Zinsverbot enthält, was dem Kampf um Gewinnbeteiligung und Dividende ein Ende bereitet. Wie die Erde wieder zum Gemeingut von Menschen, Tieren und Pflanzen werden kann und wie Eigentum sowie Nutzung der Ressourcen in Verbraucher:innenhand zu überführen ist, zeigt er anhand historischer und aktueller Projekte. Eine zentrale Rolle spielen auch Fragen der Gemeinschaftsbildung, Bürgerbeteiligung, der Dezentralisierung, Regionalisierung und Demokratisierung der Wirtschaftsstrukturen.

Neben dem Studium der Medizin, Chemie und Informatik sowie seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in Universitätsinstituten, der Industrie, einer Bundesoberbehörde und einer Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft begründete er als „Urgestein“ und Mitgestalter der Berliner Alternativszene viele Basisprojekte mit. Seit den 80er-Jahren befasst er sich mit Genossenschaften und Solidarwirtschaft bzw. Solidarischer Ökonomie. Fabricius plädiert für einen Wandel „von unten“ - über Umweltgruppierungen sowie Verbraucher-Initiativen und -Genossenschaften.

Genossenschaftliche Ideen und soziale Praktiken hingen gesellschaftlich häufig mit Krisen und Notlagen zusammen. Sie wurden als Institutionen der ökonomischen Selbsthilfe gegründet, um sich von wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten zu lösen. Heute erlebt die Genossenschaftsbildung eine neue Dynamik. Dabei ist die räumliche Nähe besonders wichtig, damit der Zusammenhalt funktioniert und das Genossenschaftsprinzip richtig umgesetzt werden kann.

Die ersten Genossenschaften zur gemeinschaftlichen Selbsthilfe gab es bereits im Mittelalter – allerdings nur vereinzelt und zunächst in England und Frankreich. In Deutschland, wo diese Modelle übernommen und weiterentwickelt wurden, existieren Genossenschaftsmodelle seit 1847. Die ersten Vorläufer waren Hilfsvereine und Darlehenskassen. Sie unterstützten Landwirte beim Erwerb von Saatgut und Düngemitteln. Die Kredite konnten mit der eingefahrenen Ernte refinanziert werden. Pioniere waren neben Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch auch Heinrich Ahrens, Victor Aimé Huber, Eduard Pfeiffer, Otto Friedrich von Gierke oder Max Sering. Aus deren sozialreformerischen Vorstellungen der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung entstanden vor allem Kredit- und landwirtschaftliche Genossenschaften, Konsum- und Wohnungsgenossenschaften.

„Mehrere kleine Kräfte vereint bilden eine große Kraft, und was man nicht allein durchsetzen kann, dazu soll man sich mit anderen verbinden.” Das sagte einst Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883), der Gründervater des Genossenschaftswesens, der schon vor 150 Jahren die Bedeutung von Kooperationen und Netzwerken zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Herausforderungen erkannt hat. Die Erfolgsgeschichte der deutschen Genossenschaften ist ebenfalls untrennbar mit Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888) verbunden: Er gründete zeitlebens viele Genossenschaften, die alle die Unterstützung mittelloser Landwirte bzw. die Vergabe bäuerlicher Darlehen zum Ziel hatten.

Auf Drängen der Genossenschaftsbanken wurde das Genossenschaftsgesetz Anfang der 2000-er Jahre reformiert. Die wohl wichtigste Änderung in diesem Gesetz war die Zulassung investierender Mitglieder: Durfte bis dahin nur Mitglied einer Genossenschaft werden, wer einen unmittelbaren Nutzen aus dem Geschäftsbetrieb der Vereinigung hatte, konnten fortan auch Menschen Mitglied werden, die lediglich in die Genossenschaft investieren wollten. Erwirtschaftet eine Genossenschaft Gewinne, werden diese auf ihre Mitglieder in Form einer Dividende ausbezahlt, die über die Höhe der Dividenden entscheiden. Es wird bewusst auf Solidarität statt auf Profitgier gesetzt. Dadurch werden die Aktivitäten von Staat und Wirtschaft mit weniger bürokratischem Aufwand und geringerem ökonomischen Druck ergänzt.

Die Prinzipien der Selbstermächtigung, der Demokratie und der Identität verweisen auf den organisierten Zusammenschluss einer definierten Gemeinschaft, deren wirtschaftliche Betätigung von ihr selbst unternommen wird und ihr selbst zugutekommt. In Deutschland gibt es mehr als 7000 Genossenschaften. Jedes Mitglied beteiligt sich mit mindestens einem Geschäftsanteil an der Genossenschaft. Es ist damit nicht nur Mitglied, sondern auch Miteigentümer, was zu einer höheren Identifizierung mit der Genossenschaft führt. Einstiegsbeiträge zum Beitritt zur Genossenschaft sind bewusst so gehalten, dass es jedem Interessierten möglich ist, mitzumachen und sich nachhaltig zu engagieren.

Ein Beispiel: Der Büchner-Verlag wurde 2008 zunächst als GbR gegründet und im Jahr 2012 in eine Genossenschaft umgewandelt, um ein möglichst flexibles und kooperatives Modell für die Zusammenarbeit zu schaffen. Der Verlag, in dem Arbeiten aus den Kultur-, Sprach- und Sozialwissenschaften sowie Sachbücher von Autoren erscheinen, die sich kritisch mit relevanten gesellschaftlichen Themen der Gegenwart auseinandersetzen, wird seit 2017 in Hauptberuflichkeit geführt. Bevor die Vorstandsmitglieder den Verlag übernahmen, stand die weitere Existenz des Unternehmens auf der Kippe, weil die Gründungsmitglieder gerade in ihren Erstberufen durchstarteten. Die genossenschaftliche Struktur war bereits umgesetzt, doch sie lag brach. Als innerhalb kürzester Zeit eine professionelle Vertriebsstruktur geschaffen wurde, war die Expertise der Alt- und Mit-Genossen von unschätzbarem Wert.

Ziel ist es, Bücher zu machen „für eine freie, komplexe Gesellschaft und ein lebenswertes Leben. Für die Lust an der Auseinandersetzung mit Unhinterfragtem und die Erweiterung des eigenen Denkraumes. Für ein reflektiertes und engagiertes Dasein im alltäglichen Rahmen und im globalen Zusammenhang. Auch für die Freude am Skurrilen, Kantigen, Unordentlich-Verrückten und dem, was sonst noch aus dem Rahmen und unserer Wahrnehmung fällt“, so die „Verlagsmenschen“. 2018 wurde der Verlag bereits mit dem Hessischen Verlagspreis ausgezeichnet. Der Marburger Verlag gehörte auch 2022 zu den Gewinnern des Deutschen Verlagspreises. Erstmalig im Jahr 2019 verliehen, gehört er zu den wichtigsten Auszeichnungen der Verlagsbranche.

Gelebte Demokratie bedeutet für Genossenschaften, gesellschaftliche Mängel zu beheben, sich für einen gesellschaftlichen Wandel einzusetzen und Handlungsoptionen vor Ort zu zeigen. Es können diverse Ressourcen genutzt werden, um die Transformation effektiv umzusetzen. Dazu gehören: Motivation, Engagement, Initiative, Knowhow und regionales Wissen. Es bildet die Grundlage dafür, abschätzen zu können, was in einer Region möglich und nötig ist, um damit spezielle Chancen und Risiken neuer Projekte zu erfassen. Hinzu kommen die Aspekte der Akquirierung finanzieller Mittel, die Akzeptanzförderung von Projekten durch Beteiligung und Mitentscheidung und eine sukzessive Bearbeitung von regionalen Konflikten. Genossenschaften haben enorme Potentiale und positive Effekte für die Gegenwart. Sie zeigen Wege zu einer positiven Weltbeziehung auf, die eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, Umwelt und Gesellschaft nachhaltig zu gestalten.

  • Daniel Dorniok: Energiegenossenschaften als soziale Unternehmen in der dezentralen Energiewende. In: CSR und Energiewirtschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. Heidelberg, Berlin 2019.

  • Wolfgang Fabrizios: Profitfreie Räume! Gemeingutökonomie als Transformationsstrategie – eine engagierte Bestandsaufnahme. Büchner Verlag, Marburg 2022.

  • Alexandra Hildebrandt: Das Prinzip Genossenschaft. Maßnahmen einer umfassenden Selbstermächtigung. Kindle Ausgabe 2022.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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