Rückseite des Buches Karl Becke/Gunter Fette: Karl Valentin Bilder Sprache (Volk Verlag) und Fotoausschnitt Karl Becke. - Karl Becke / Volk Verlag

„Das Leben posiert nicht, es findet statt“: Wenn Bilder sprechen ...

Am 31. Dezember 1945 schrieb Karl Valentin: „Prosit Neujahr! - da läuft mir gleich die Leber über, wenn ich das schon hör. - Eigentlich soll einem ja die Galle überlaufen, aber Galle haben wir keine mehr. Die Galle ist schon seit 1939 so oft übergelaufen, dass wir gar keine mehr haben. Alles Gute zum Neuen Jahr! Das haben die Leut sich jedes Jahr gewunschen, und was aus dieser Wünscherei geworden ist, das haben wir ja gesehen! Die Reichen werfen in der Sylvesternacht um zwölf Uhr ihre leeren Sektgläser an die Wand, denn ‚Scherbenbedeuten ja Glück‘ ... danach müssten wir jetzt in Glück strahlen, denn wir haben ja nun genug Scherben gehabt, - in München und in ganz Deutschland und auf der Welt! Das Neujahr anschießen ist ein Unfug und gehört ganz ausgerottet, denn ich glaube, es hat genug gekracht bei uns!“ Mitgeteilt hat diese Gedankenzum Jahreswechsel der Autor und Valentin-Experte Alfons Schweiggert. Er verweist auch darauf, dass sich Karl Valentin beim Jahreswechsel deshalb gern an ein stilles Örtchen zurückzog und sein Lied summte: „Wenn ich einmal der Herrgott wär, mein erstes wäre das: / ich schüfe alle Kriege ab - vorbei wär Streit und Haß. / Doch weil ich nicht der Herrgott bin, hab ich auch keine Macht; / Zum ew'gen Frieden kommt es nie, weils immer wieder kracht ...“ Kaum ein anderer wird in Social Media zum Jahreswechsel so häufig zitiert wie der Komiker Karl Valentin, für den die Zukunft früher auch besser war.

Am beliebtesten sind Bild-Text-Kombinationen, die Vergangenes und Gegenwärtiges zeitlos auf den Punkt bringen. Das war auch der Anspruch des Buchprojekts mit dem Titel "Karl Valentin Bilder Sprache“, das viele bekannte und unbekannte Sprüche sowie bisher kaum veröffentlichte skurrile/philosophische Texte Valentins enthält, die mit den Fotografien von Herbert Becke auf jeder Seite eine besondere Wirksamkeit „entfalten“ - subtil, witzig, schräg und hintergründig. In seinen Seminaren, Ausstellungen und als Juror bei Fotowettbewerben hörte Becke von den Betrachtern der Fotos immer wieder Sätze wie „Das Bild sagt mir nichts“ oder „Das Foto spricht mich nicht an“. Mit diesem Fotobuch werden Bilder zum Sprechen gebracht. Hörbar ist Karl Valentin mit seinen „Bildunterschriften“. Texte und Bilder gehen eine nachhaltige Verbindung ein, ohne ihre jeweilige Eigenständigkeit aufzugeben. Ergänzt werden die 127 Bilder/Text-Seiten von 1.059 „valentinesken“ Vor-Wörtern von Altoberbürgermeister und Ehrenbürger Münchens, Christian Ude, und einem Beitrag der Direktorin des „Valentin-Karlstadt-Musäums, Sabine Rinberger, zu Karl Valentin und die Fotografie. Herbert Becke („DerBecke“, wie ihn viele nennen) hat die Texte gemeinsam mit dem Nachlassverwalter und „irdischen Statthalter“ Karl Valentins, Rechtsanwalt Gunter Fette, nach dem Motto ausgewählt: „Valentin spricht aus dem Bild zum Betrachter; was würde uns der großartige Humorist und Wortakrobat durch das Foto sagen wollen?“ Oder auch völlig andersherum (wie bei Valentin üblich).

Menschen, Objekte und Gebäude, Kleines und Großes, Bedeutendes und Nebensächliches werden in Bezug zueinander gesetzt. Neben den Münchner Motiven sind auch diverse porträtorientierte live-Bilder von Künstlerinnen und Künstlern der "Kulturdonnerstage“ der Kabarett- und Kleinkunstreihe im Garchinger Bürgerhaus aufgenommen worden. Diese monatlichen Veranstaltungen hatten Kultstatus und waren über 25 Jahre ununterbrochen mit 750 Besuchernausverkauft. Hier fanden auch erste Auftritte von Kabarettisten statt, die heute „Stars“ sind (996 Helmut Schleich, 2003 Claus von Wagner und Georg Schramm, Andreas Giebel u.a.). Ebenfalls die ersteKulturveranstaltung dieser Art in Garching überhaupt war der Abend mit Fredl Feslam 20. Januar 1976, als er noch Garching wohnte.

Bodenständigkeit und Alltägliches bilden die Basis für diese außerordentliche Substanz aus Texten und Bildern, deren wahre Zauber allerdings nicht auf dem Papier stattfindet, sondern in den Köpfen der Betrachter. Bodenständige Fotografie meint auch, dass die Kamera auf dem Boden der Tatsachen steht: auf öffentlichen Plätzen, in U-Bahnhöfen oder auf dem Asphalt von Einkaufsstraßen. Beckes hat die Perspektive von Kleinkindern, Hunden und Mäusen und Schuhen eingenommen. Damit verbunden sind völlig neue Sichtweisen und ein „räumlicher, sozialer und zeitgeschichtlicher Perspektivenwechsel“, der einen offenen und kreativen Blick voraussetzt. "Die Bilder sind überwiegend mit einem extremen Weitwinkel aufgenommen - für Herbert Becke das kreativste Objektiv. "Was nah am Weitwinkel ist, wird überdimensional groß und mächtig (wie im richtigen Leben). Es verbindet bei niedrigem Standpunkt Motivbereiche, die nichts miteinander zu tun haben", so Becke. Der 1948 verstorbene Sprachakrobat und Fotokünstler Herbert Becke sind sich zwar nie begegnet, doch verbindet sie eine enge Wahlverwandtschaft - und der Schalk im Nacken: Beide zeigen auf eigene Art und Weise, dass sich die Welt auch aus einem anderen Blickwinkel als dem gewohnten betrachten lässt - der eine mit der Sprache, der andere mit dem Bild. Beides zusammengenommen ist "trefflich".

Herbert Becke, 1950 geboren in München, war 33 Jahre Leiter der Volkshochschule im Norden desLandkreises München. Seit 45 Jahren arbeitet er insbesondere in derMenschen-, Reportage- und Theaterfotografie. Sein Schwerpunkt ist dabei der„Perspektivenwechsel“. Er ist Fotodozent, Initiator und langjähriger Leiter desProjekts „Foto-ART München“ sowie Juror bei nationalen und internationalenFotowettbewerben. Auch wird seine Arbeit von diversen Ausstellungen von Berchtesgaden bis Sylt begleitet, u.a. im Valentin-Karlstadt-Musäum im Münchner Isartor mit seinen „bodenständigen Bildern“, München aus der Sicht einer „Maus“. 2009 erhielt er Verdienstmedaille der Universitätsstadt Garching bei München, 2010 „Tassilo-Preis“ (für Kunst und Kultur) der Süddeutschen Zeitungfür das „Lebenswerk“, 2012 Bundesverdienstkreuz am Bande für sein kulturellesund künstlerisches Wirken.

  • Herbert Becke/Gunter Fette: Karl Valentin Bilder Sprache. Volk Verlag München 2020.

  • Karl Valentins Panoptikum. Wie es ächt gewesen ist. Abb. A. Schweiggert. München 1985

  • Ja, lachen Sie nur! Die schönsten Karl Valentin Anekdoten und Witze. Dachau 1996

  • Karl Valentin und die Frauen. München 1997

  • Karl Valentins Stummzeit. Grünwalder und Planegger Jahre 1941 bis 1948. München 1998

  • Karl Valentin. Der Münchnerischste aller Münchner. München 2007

  • Karl Valentin – Was gibt’s da zum Lachen? Neue Anekdoten. Dachau 2008

  • Ich bin ja auch kein Mensch. Ich bin ein Bayer. Husum 2011

  • Karl Valentin und die Politik. Vorwort von Gerhard Polt. München 2011

  • Ein gspinnerter Teifi. Karl Valentins letzte Jahre. München 2013

  • Karl Valentin. Von der Kunst, so nicht kochen zu können, dass man es nicht essen muss. Biografisches aus dem Leben eines Hungerkünstlers, München 2020

  • Karl Valentins fesche Mizzi. Die Schauspielerin Annemarie Fischer, München 2022

  • Weihnachten mit Karl Valentin. München 2011/ Regenstauf 2023

  • Karl Valentin und die Musik, München 2024

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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