Wer Frauen aufgrund einer möglichen Schwangerschaft benachteiligt bei der Rekrutierung, vergibt viele Chancen. - Quelle: Getty Images
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Das «Maybe Baby»-Risiko

Frauen werden aufgrund ihres Gebärpotenzials in der Arbeitswelt häufig benachteiligt. Es ist Zeit für ein Umdenken, sagt Professorin Jamie Gloor.

Das Schweizer Volk ist unbestreitbar risikoscheu. Reisende kommen bis zu 15 Minuten zu früh am Gleis an, obwohl die SBB für ihre Zuverlässigkeit bekannt ist. Es gibt eine Versicherung für Verluste jeglicher Art – sogar für Verluste wegen Vulkanausbrüchen, obwohl es schweizweit keine aktiven Vulkane gibt.

Das ist alles schön und gut für das tägliche Leben. Aber was ist mit einem anderen wichtigen Teil unseres Lebens: Wie steht es mit risikoreichen Mitarbeitenden am Arbeitsplatz?

Das «Maybe Baby»-Vorurteil

Wir denken oft an demografische Merkmale als einzelne, unabhängige Kategorien. Ich bin zum Beispiel eine Frau, 36 Jahre alt und Mutter. Das Zusammentreffen dieser drei Kategorien – Geschlecht, Alter und Elternschaft – kann zu beruflichen Problemen führen, da es für unsere weiblichen Talente ein wahrgenommenes Risiko darstellt.

Das «Maybe Baby»-Vorurteil ist die Erwartung, dass eine Frau im gebärfähigen Alter ein Kind bekommen könnte. Und es handelt sich um eine Voreingenommenheit, weil die Risiken und arbeitsbezogenen Konsequenzen, die damit verbunden sind, für Frauen grösser sind als für Männer mit der gleichen Qualifikation, dem gleichen Beruf, Alter, Zeitpunkt der Familienplanung und so weiter.

Was sind denn die verbundenen Risiken des Gebärpotenzials von Frauen? Der Schwangerschaftsurlaub für junge Frauen ist eine längere Auszeit – 8 bis 14 Wochen – im Vergleich zu meist 2 Wochen für Männer. Da diese Zeit zu kurz oder die Stelle zu spezialisiert ist, um eine Ersatzkraft zu finden, springen oft andere ein. Mitarbeitende und Führungskräfte befürchten daher, dass das Risiko eines Talentverlusts bei Frauen grösser ist als bei Männern. Die fruchtbarsten Jahre überschneiden sich zudem mit den «Rushhours» des Arbeitslebens – genau dann, wenn die meisten Frauen aus der«Leaky Talent Pipeline» aussteigen. Aus genannten Gründen trägt die «Maybe Baby»-Voreingenommenheit möglicherweise zur Fluktuation von Frauen im Beruf und in der Arbeitswelt bei – wie auch zum allgemeinen Talentmangel in der Schweiz –, indem sie Frauen aus der Arbeitswelt oder in prekäre Positionen drängt.

Es gibt bereits viele andere Faktoren, welche die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Schweiz erschweren (enorm hohe Kinderbetreuungskosten, uneinheitliche Kindergarten- und Schulzeiten etc.) – wir brauchen nicht noch einen weiteren. Angesichts der Tatsache, dass in der Schweiz immer weniger Kinder von immer älteren Eltern geboren werden und die Unfruchtbarkeit allzu häufig ist, sollten Frauen oder Paare ihre Familienplanung nicht aus Angst vor beruflichen Konsequenzen noch weiter hinausschieben.

Es ist auch typisch, dass Männer und Frauen in der Anfangsphase ihrer Karriere ihren Arbeitsplatz verlassen, um eine andere Stelle anzutreten oder auf Reisen zu gehen. Viele berufstätige Männer lassen sich auch wochenlang für ihren Militärdienst beurlauben. Warum also diese zusätzliche, unnötige Benachteiligung von Frauen aufgrund einer theoretisch möglichen Schwangerschaft?

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Abbau von Vorurteilen – auf wissenschaftlicher Grundlage!

Was können wir nun, da wir über das «Maybe Baby»-Vorurteil und seine Folgen Bescheid wissen, tun, um die Wünsche von Frauen, Familien und Talenten sowie unsere gesellschaftlichen Werte und wirtschaftlichen Bedürfnisse zu schützen?

Frauen (etwa 25 bis 40 Jahre alt): Fragen zur Familienplanung müssen nicht beantwortet werden. Stehen diese dennoch im Raum, können Frauen ihr Engagement für den Job bekräftigen oder Witze über ihre geliebten Haustiere machen, um die Frage zu beantworten, ohne sie wirklich zu beantworten.

Manager und Führungskräfte: Sie wissen wahrscheinlich, dass sie die Frage nach den Familienplänen oder ähnliche, aber ebenfalls diagnostische Fragen wie «wie sehen Sie sich in fünf Jahren?» nicht stellen sollten. Den Gedanken an diese Fragen zu vermeiden, funktioniert aber auch nicht. Die Verwendung strukturierter Interviewprotokolle – ein evidenzbasierter Ansatz zur Verringerung von Voreingenommenheit im Allgemeinen – kann auch die «Maybe Baby»-Voreingenommenheit verringern.

Organisationen und Politik: Mit diesem Wissen können wir besser informierte, evidenzbasierte Diskussionen über relevante Politika führen (zum Beispiel die jüngsten Abstimmungen über den Vaterschaftsurlaub in Genf und Bern). Unternehmen könnten auch konkrete Pläne für eine gerechtere Aufteilung der Arbeit in Erwägung ziehen oder proaktiv Ersatzkräfte einstellen, um das Gefühl der «Unannehmlichkeiten» durch Auszeiten zu verringern.

Faire Chance für Frauen

Gibt es also jemals ein «richtiges Alter» oder den richtigen Zeitpunkt für Frauen, um zu arbeiten, um Kinder zu bekommen, um in den Beruf zurückzukehren? Wenn wir auf dem Weg zu einer nachhaltigen Arbeitswelt und Umweltverträglichkeit vorankommen wollen, ist es an der Zeit, diese Fragen vom Tisch zu nehmen und dieses problematische «Maybe Baby»-Vorurteil für junge Frauen in der Schweiz anzugehen.

Es steht Ihnen also frei, alle Versicherungen abzuschliessen, die Sie wünschen. Und kommen Sie so früh zum Gleis, wie Sie wollen. Aber geben Sie gleich qualifizierten Frauen eine faire Chance auf einen festen Arbeitsplatz, eine Beförderung oder eine Führungsrolle – ungeachtet ihres Fruchtbarkeitspotenzials –, und vielleicht überraschen sie Sie mit einer erstklassigen Arbeitsleistung!

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