Das müde Glück: Nachdenken über Roger W.
Das Vermächtnis
Das Vermächtnis des Publizisten Roger Willemsen umfasst knapp 60 Buchseiten. Das von seiner Nachlassverwalterin Insa Wilke herausgegebene Buch „Wer wir waren“ basiert auf einem zweimal gehaltenen Vortrag, aus dem ein Buch entstehen sollte, als Willemsen noch nichts von seiner Krankheit wusste. Allerdings empfand er seinen Geburtstag als prägende Zäsur, der auch jene Ernsthaftigkeit geschuldet war, die seine letzten Interviews und dieses Buch prägt. Ernsthaftigkeit hat immer damit zu tun, dass wir uns zu etwas bekennen, dass wir etwas wichtiger finden als etwas anderes.
Sein Vermächtnis möchte ich mit der biblischen Geschichte von Hiob verbinden, die zu den ergreifendsten Erzählungen der Menschheit gehört. In ihr findet sich gebündelt die Essenz eines Augenblicks, eines Jahres oder eines Lebens. Hiobsbotschaften sind oft mit Schicksalsschlägen verbunden, die die Betroffenen als ungerecht empfinden. Wie Hiob, der immer gottgefällig lebte, aber plötzlich sein gesamtes Vermögen verloren hatte. Auch seine Kinder starben, und er wurde sehr krank. Seine festen Überzeugungen gerieten ins Wanken, denn es traf nicht ein, was er erwartet hatte: dass gute Taten mit guten Folgen und schlechte Taten mit negativen Folgen verbunden sind.
Doch er fügte sich in sein Schicksal (es ist, wie es ist). Schon am Beginn seiner Lebenskatastrophe bekannte er: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat‘s genommen, der Name des Herrn sei gelobt.“ (Buch Hiob, Kap. 1, Vers 20) Thomas Middelhoff, einst gefeierter Superstar unter Deutschlands Top-Managern, hat sein Buch „A 115. Der Sturz“ ebenfalls mit diesem Bibelzitat begonnen. Im Uniklinikum Essen wurde er wegen einer seltenen Autoimmunerkrankung (Chilblain Lupus) behandelt, von der seine Anwälte sagten, dass sie sei dem permanenten Schlafentzug im Gefängnis geschuldet sei. Die “BamS” zeigte Middelhoff auf einem Foto mit geschwollenen, bläulich gefärbten Fingergelenken. Auch der Katholik Leo Kirch verwies im Gericht auf den leidgeprüften Hiob und den viel zitierten Satz: Auch er verlor zuerst sein Vermögen und dann seine Gesundheit. In seinen letzten Lebensjahren nahmen die Leiden zu. „Er musste sich am Herzen operieren lassen, verlor einen Unterschenkel durch Amputation und konnte nicht mehr gut artikulieren. Die Stimmbänder waren angegriffen. Trotzdem fuhr er täglich in sein Stadtbüro, um den Kampf seines Lebens zu organisieren, den Prozess gegen die Deutsche Bank. Ihr gab er die Schuld am Zusammenbruch“, schreibt Helmut Markwort im Juli 2011 über Aufstieg und Fall des Medienunternehmers.
Middelhoff und Kirch wurden zuerst geliebt und verehrt und dann wegen ihrer Gier und Unersättlichkeit öffentlich gegeißelt. „Die Pläne werden zunichte, wo man nicht miteinander berät“, meint Salomo und warnt vor Selbstüberhöhung (Sprüche 15, 22; Prediger 7, 16). Auch in ihren Niederlagen scheinen einst Mächtige noch groß zu denken – und eine Identifikation mit Hiob bestärkt sie vielleicht darin, sich noch in der Niederlage als Auserwählte zu sehen. Allerdings findet sich auf dem Weg des Managements oft kein Wort von einer ethischen Ausrichtung, wie sie der „echte“ Hiob gelebt hat.
Hiobs Geschichte ist mit einem guten Ende verbunden
„Der Herr gab Hiob doppelt so viel, wie er gehabt hatte.“ Hiob wurde von „fortan mehr als einst“ gesegnet und starb „alt und lebenssatt“ (Sprüche 15, 22, Prediger 7, 16). Diese Stelle nimmt auch Roger Willemsen am Schluss seines Buches „Das müde Glück“ auf: Der Alte verbeugte sich, „satt vom Leben, reich an Erfahrung“ – „ein Mensch, so schön wie ein Baum, der in allen Wettern gestanden hat“. Es ist ein Mensch wie jeder von uns, der nicht Middelhoff heißt, sondern einfach nur Hopp. Irgendwann fühlte er eine düstere Wolke heranrollen „mit schlechten Nachrichten in ihrem Bauch“.
Der Überbringer der Nachricht, dass er eigentlich Hiob und nicht Hopp heißt, war Herr Gottlieb. Jemand, der die Härte von Managern repräsentiert, die ihre weibliche Seite verdrängen: Er „stolziert hinaus in den Garten mit der Hoheit eines Mannes, der schon als Kind von Beruf Alleinherrscher werden wollte“. Ihm stellt Roger Willemsen Hopp/Hiob gegenüber, der am Rande der Stadt eine Manege aufgebaut hat: „Hopps Welt“. Ein Zirkus, der nicht wanderte, sondern blieb - eine Welt mit Tieren, Pflegern, Artisten, Clowns und einem Papagei, der sagen konnte: „Prost Gemeinde, der Vorstand ist besoffen!“.
Dass der Zirkus eine so wichtige Bedeutung im Buch und im Leben hat, mag damit zusammenhängen, dass hier niemand betrügt. Zirkusleute schwindeln nicht, sie können nicht so tun „als ob“, weil sie dann vom Hochseil fallen würden. Als Hopp/Hiob das Schicksal auf dem Boden trifft, tröstet ihn der Clown Pico: „Jetzt mal halblang. Du hast andere aufgerichtet, doch jetzt, da es dich trifft, kannst du dich selbst nicht aufrichten? Was glaubst du denn? Dass du das Glück bewohnen kannst wie ein Eigenheim? Das Unheil geschieht nicht in der weiten Welt allein, es kann auch in deiner passieren. Also verzweifle nicht, sondern finde eine Haltung.“
Noch unglücklicher machten ihn die Worte seiner Frau Helga: „Wenn es abwärts mit dir geht, wird ein anderer steigen. Bist du wichtiger als er? Hat er keine Kinder? Stehen nicht Tiere auch in anderen Ställen und möchten gestreichelt werden?“ Damit nicht genug: „Du glaubst, weil du einen Bauch hast, wirst du nie hungern? Du glaubst, wenn du ein Haus aus Steinen besitzt, können die Mauern nicht einstürzen und die Steine nicht zum Bau von neuen Häusern davongetragen werden? Du glaubst, wenn du ans Meer trittst, soll es nur glitzernd da liegen, sich aber nie erheben zu einer Welle, die alles wegschwemmt? Du träumst. Das ruhige Meer ist schön nur, weil wir wissen, es schläft, und sein Erwachen kann furchtbar sein!“
Trotz aller Rückschläge war Hiob davon überzeugt, dass es immer noch besser ist, wenn man teilweise wenigstens auch für andere lebt - auch wenn man selbst vom Glück nicht oder nur selten belohnt wird. Die Stimme aus dem Dunkel, die sich an ihn wendet, ist hörbar für alle, die vom Schicksal hart getroffen wurden. Sie spenden Trost und geben Hoffnung auch in hoffnungslosen Situationen: „Du hast deine Sache gut gemacht. Die Herren haben mit dir gelacht, als du stark warst. Die Traurigen haben sich erkannt in deiner Klage. Immer warst du, zu einem Teil deines Lebens, für alle da. Das war gut.“
Leben ist Überlebenskunst
Die Jugend des Autors Roger Willemsen, der im August 2015 selbst schwer erkrankt ist und im Februar 2016 seiner Krebserkrankung erlag, war auch vom Sterben seines Vaters begleitet. 1969 erkrankte er ebenfalls an Krebs. Es folgten zwei Jahre Ängste, Sorge und das Gefühl des Verlassenwerdens. Dann der Tod des Vaters. „Man lebt diachron, so kindlich wie gereift, künstlich gereift, wie eine Frucht auf dem Transport“, sagt Roger Willemsen im Herausgeberband von Insa Wilke „Der leidenschaftliche Zeitgenosse“ über jene Zeit, die er ein „erstes Zu-Ende-Gehen“ nennt. Sein Vater starb im Augenblick, als Willemsen zu begreifen begann, was für eine große Persönlichkeit er war. „Diese Autorität bricht weg, und du musst sie dir dann also selber geben.“
Nutzt Eure Möglichkeiten
Als Roger Willemsen selbst an Krebs erkrankte, wollte er nicht mehr unterhalten, sondern beobachten und präzise sagen, wie es ist. Ihn beschäftigten die blinde Flecken in der Beobachtung der Welt, ihres ökologischen und des gesamten Zustandes, aber auch des Bewusstseinszustandes. Er wollte sich nur Dingen widmen, die wirklich notwendig sind. Sich die Wirklichkeit vergegenwärtigen, sagte er oft. Um die Grundprobleme unserer Zeit zu erkennen und zu lösen, braucht es ein Denken, das die Praxis nicht vernachlässigt. Genauso wichtig ist es, zukünftige Handlungen und Einstellungen zu berücksichtigen. „Als brauchten wir zum Handeln einen neuen Klimabericht, einen neuen Schadensbericht über die Weltmeere, den Regenwald, die grassierende Armut. Aber aus all den Fakten ist keine Praxis entsprungen, die auf der Höhe der drohenden Zukunft wäre“, schreibt er in seiner Zukunftsrede, die im schmalen Band „Wer wir waren“ enthalten ist.
Darin blickt er aus der Zukunft auf die Gegenwart, weil sie ihm ermöglicht hat, sie schärfer zu sehen: „Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, der Zusammenhalt unter den Menschen, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten.“ Beschrieben werden die Bedingungen, unter denen sich unser Bewusstsein verändert. Dazu gehört der technische Fortschritt, die Veränderung unserer Aufmerksamkeit, die Instabilität und Flüchtigkeit. Willemsen fragt, wie es möglich sein kann, dass wir heute (wo alle Ressourcen und auch die Zukunft knapp werden) alles vor uns auf dem Tisch liegen haben, aber daraus keine Konsequenzen für unser Handeln gezogen werden.
Wir sind „jene die wussten, aber nicht verstanden. Voller Informationen, aber ohne Erkenntnis. Randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir von uns selbst nicht aufgehalten.“ Er befürchtet (im durchgängigen Futur II), dass wir „das Menschsein“ wohl aufgeben haben werden und uns künftig „weniger mitfühlend, weniger solidarisch, weniger sentimental“ verhalten. Willemsens Zukunftsrede fordert uns auf, uns einen Überblick zu verschaffen und selbst Antworten zu finden. „Nutzt eure Möglichkeiten.“ Das ist sein Vermächtnis an die nächste Generation und sein Plädoyer für Mitmenschlichkeit.
Weiterführende Literatur:
Roger Willemsen: Wer wir waren. S. Fischer Verlag. Frankfurt a. M. 2016.
Roger Willemsen: Das müde Glück. Mit Illustrationen von Kitty Kahane, Edition chrismon, 2012.