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Das richtige Timing

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Viele Topmanager wissen nicht, wann es Zeit ist, in den Ruhestand zu gehen. Damit gefährden sie ihre persönliche Erfolgsbilanz und bisweilen auch das gesamte Unternehmen. Mit guter Planung hingegen wird der Übergang zur Krönung ihrer Amtszeit.

Von Bill George

Als sich Lloyd Blankfein darauf vorbereitete, am 1. Oktober 2018 in den Ruhestand zu gehen, schrieb er einen bewegenden Brief an die Mitarbeiter. Das Dokument spiegelt die zwiespältige Haltung des Vorstandsvorsitzenden und CEOs von Goldman Sachs zu seinem Rückzug deutlich wider. "Ich habe mir niemals wirklich vorstellen können zu gehen", schrieb Blankfein, der gerade 64 Jahre alt geworden war. "In schwierigen Zeiten kann man nicht gehen. Und in besseren Zeiten will man es nicht. Auch jetzt tue ich mich schwer, Goldman Sachs zu verlassen, aber ... es scheint dennoch der richtige Zeitpunkt zu sein."

Den richtigen Zeitpunkt für den Abschied zu finden gehört zu den entscheidenden Aufgaben eines CEOs – und ist weitaus schwieriger, als es scheint. Für Führungskräfte, die Jahrzehnte damit verbrachten, auf den Höhepunkt ihrer Karriere hinzuarbeiten, und all die Macht, Annehmlichkeiten und den Status der Topposition schließlich erreicht haben, kann die Aussicht auf den Ruhestand beängstigend, ja geradezu existenzbedrohend wirken.

Oft ist das Selbstwertgefühl von Führungskräften eng mit ihrer Arbeit verbunden. Deshalb zielen die Fragen, vor denen sie am Ende ihrer CEO-Laufbahn stehen, auf den Kern ihres Selbstbildes: Wie kann ich es schaffen, vital und bedeutungsvoll zu bleiben? Werde ich auch ohne meinen Titel respektiert werden? Wo soll mein Lebensmittelpunkt sein, wenn ich nicht mehr an die Unternehmenszentrale gebunden bin? Womit werde ich meine Zeit verbringen? Wie kann ich noch etwas bewegen, wenn ich kein Unternehmen mehr leite? Während der 70 bis 80 Stunden, die ein CEO in der Woche arbeitet, bleibt keine Zeit, sich derlei Fragen zu stellen. Oder darüber nachzudenken, was nach dem Schritt in den Ruhestand möglich oder erfüllend sein könnte. Den Job aufzugeben fühlt sich daher für viele CEOs an, als müssten sie von einer Klippe springen.

Weil sie keine Antworten auf diese Fragen haben, machen viele CEOs den Fehler, zu lange in ihrem Job zu verharren. Das gefährdet nicht nur ihr Vermächtnis, sondern auch ihr Unternehmen.

Seit mehr als 25 Jahren beschäftige ich mich mit diesen Themen und unterstütze Topmanager dabei, sich damit auseinanderzusetzen. Ich selbst gab meinen Job als CEO bei Medtronic 2001 nach zehn Jahren auf. Diese Frist hatte ich mir gesetzt, als ich die Stelle übernahm. Bei meinem Ausstieg war ich 58 Jahre alt. An der Harvard Business School, an der ich Seminare für CEOs gebe, sprechen wir viel über die Gestaltung und Länge der Amtszeit von Führungskräften, über den richtigen Zeitpunkt, sich zurückzuziehen, und über die Neugestaltung des Lebens nach dem Job.

Als Mitglied des Boards zahlreicher Unternehmen war ich oft direkt an der Vorbereitung von Rückzugsstrategien von CEOs beteiligt. Häufig habe ich sie auch bei ihren Plänen für den Ruhestand beraten. Über meine Arbeit in Aufsichtsgremien hinaus war ich als inoffizieller Berater von mehr als zwei Dutzend Führungskräften engagiert, die mich gebeten hatten, sie durch diese Phase der Veränderung zu begleiten.

Ich ermutige alle meine Gesprächspartner auszusteigen, solange es gut läuft – und nicht zu warten, bis sie vom Board hinausgedrängt werden, wenn das Geschäft schwächelt. CEOs, die sich beharrlich weigern, in den Ruhestand zu gehen, machen es Boards schwer, ihre Aufgaben zu erfüllen. Denn ohne einen klaren Zeitplan ist es schwierig, einen internen Nachfolger in Position zu bringen und einen geordneten Nachfolgeprozess durchzuführen. Durch den Rückzug im passenden Moment kann ein CEO zudem für sich selbst Raum und Zeit zur Reflexion schaffen, bevor er eine neue Verpflichtung übernimmt.

General Electric (GE) ist ein gutes Beispiel dafür, welche Probleme ein CEO verursacht, der nicht rechtzeitig abtritt. 2017 bat der Board Jeff Immelt, sich nach 16 Jahren zurückzuziehen. Nachfolger sollte John Flannery werden, ein Manager aus dem eigenen Haus. Der Zeitpunkt war verheerend: Flannery verbrachte ein Jahr damit, das Chaos zu ordnen, das er übernommen hatte. Dazu gehörten eine unvorteilhafte Akquisition und skandalöse Machenschaften in der Buchhaltung. Nach einem Jahr verlor der Board die Geduld und feuerte Flannery. Stattdessen sollte es Larry Culp richten, das neueste Boardmitglied. Culp ließ sich überreden und musste nun einen beängstigenden Turnaround bewältigen: Während der überlangen Amtszeit von Immelt war der Aktienwert von GE um 73 Prozent zurückgegangen – die Mitbewerber im Dow-Jones-Branchendurchschnitt hatten um 179 Prozent zugelegt. Es gab eine Zeit, in der GE als Modell für die gelungene CEO-Nachfolge an Business Schools galt. Heute wird das Unternehmen als Fallstudie herangezogen, die zeigt, wie man diesen Prozess nicht durchführen sollte. Dies nicht zuletzt, weil es Immelt nicht gelang, selbst Abschied zu nehmen.

CEOs sind in einem exklusiven Umfeld unterwegs. Mitarbeiter auf den anderen Hierarchieebenen stellen sich aber ähnliche Fragen. Wie etwa die, wann der richtige Zeitpunkt für den Ruhestand ist und was danach kommen soll. In diesem Artikel geht es vor allem um die besonderen Umstände, die CEOs betreffen. Teile des Prozesses, den ich hier vorschlage, sind jedoch genauso für jeden anderen nützlich, der die letzte Runde seiner Karriere erreicht.

Die Gedanken über den Ruhestand – wann er beginnen soll und wie man ihn verbringt – beschreiben ein relativ neues Problem. Noch vor einer Generation, als die meisten Menschen mit Ende 60 oder Anfang 70 starben, war die Antwort ziemlich einfach: in Rente gehen und nach Florida ziehen, wo das Klima mild ist und man täglich Golf spielen kann. Heute werden viele Menschen weit über 80 oder 90 Jahre alt. Das Rentenalter kann also Jahrzehnte dauern. Daher ist die Frage, wie der Ruhestand aussehen soll, heute wesentlich komplexer. Auch die Auswahl an Möglichkeiten ist größer und spannender.

In seiner Theorie der psychosozialen Entwicklung hat der Psychoanalytiker Erik Erikson auch die Phase am Ende der Lebensmitte beschrieben, in der Menschen das Rentenalter erreichen und die Wahl zwischen dem haben, was Erikson Generativität nennt, und Stagnation. Zur Generativität gehört, Wissen und Erkenntnisse an Menschen wie Organisationen weiterzugeben und dabei selbst hinzuzulernen. Stagnation tritt dagegen dann ein, wenn Führungskräfte sich vollkommen zurückziehen und keine Möglichkeit mehr haben, einen Beitrag zu leisten. Viele fühlen sich vom Umfeld und der Gesellschaft abgeschnitten.

Meiner Erfahrung nach ist für die Überlegung, wann ein CEO am besten in den Ruhestand gehen sollte, die Verweildauer im Job wichtiger als sein Alter. Unternehmen, die ihren Erfolg steigern, nachdem ihr CEO mehr als zehn oder zwölf Jahre im Amt ist, sind selten zu finden. Natürlich gibt es Ausnahmen, etwa die Unternehmen, deren langjährige Führungskräfte unter den leistungsstärksten CEOs auf der Liste von HBM platziert sind.

Einige dieser Ausnahmemanager sind Gründer, deren Funktion beim Aufbau des Unternehmens und deren ausgeprägtes Inhaberinteresse andere Macht- und Nachfolgedynamiken schaffen als jene, mit denen die meisten CEOs konfrontiert werden. Im Allgemeinen sollten CEOs, die nicht Inhaber sind, zu lange Amtszeiten aus mehreren Gründen vermeiden. CEO zu sein ist ein extrem fordernder, reiseintensiver Job, der viel Kreativität, Energie, Standfestigkeit und Resilienz verlangt. Den meisten fällt es schwer, all dies unvermindert über mehr als zehn Jahre aufrechtzuerhalten. Manchmal verlieren die Strategien, die ein CEO eingeführt hat, mit der Zeit auch an Durchschlagskraft. Dann ist es an der Zeit für eine neue Führungsspitze, die einen Strategiewandel vornimmt.

Weil sie keine schlechten Bilanzen hinterlassen wollen, treffen manche langjährige CEOs Entscheidungen, die vor allem auf kurzfristige Erfolge und Ergebnisse abzielen. Dadurch versäumen sie es, unerschrocken die Investitionen auf den Weg zu bringen, die es für ein langfristiges Wachstum braucht. Andere CEOs zeigen das gegenteilige Verhalten: Sie leiten am Ende ihrer Amtszeit eine große Übernahme in die Wege, um eine Abschwächung des Wachstums zu vermeiden. Damit schaffen sie ein Maß an Komplexität, das den Board davor zurückschrecken lässt, das Unternehmen in die Hände eines unerfahrenen Nachfolgers zu legen.

Wie Blankfein in seinem Brief beschreibt, gibt es keinen perfekten Zeitpunkt für den Rückzug eines CEOs. Um zu vermeiden, dass sie zu lange auf ihrem Posten verharren, sollten CEOs die folgenden Fragen regelmäßig durchgehen. Sie sollen dabei helfen, den richtigen Zeitpunkt für den Schritt in den Ruhestand zu bestimmen:

  • Machen Sie eine persönliche Bestandsaufnahme Ihres Lebens, Ihrer Karriere und Ihrer Zeit als CEO. Finden Sie immer noch Erfüllung und Freude in dem Job? Spüren Sie dieselbe Leidenschaft, Energie und Spannung wie früher? Lernen Sie nach wie vor, und fühlen Sie sich immer noch gefordert?

  • Gibt es persönliche Gründe, früher als geplant auszusteigen? Wartet Ihr Partner bereits darauf, einen neuen Lebensabschnitt mit Ihnen zu beginnen? Gibt es familiäre oder gesundheitliche Gründe, die dazu führen könnten, dass Sie früher als vorgesehen aufhören?

  • Stehen Sie vor einer unerwarteten, einmaligen Karrierechance? Der frühere CEO von Goldman Sachs, Hank Paulson, hatte nicht vorgehabt, seinen Posten aufzugeben. Aber als Präsident George W. Bush ihm anbot, Finanzminister der USA zu werden, sagte er zu.

  • Wie wird sich Ihre Nachfolge gestalten? Gibt es mehrere interne Kandidaten? Wie alt sind sie im Verhältnis zu Ihnen? Wird Ihr Nachfolger noch jung genug sein, um eine längere Amtszeit als CEO zu absolvieren, wenn Sie noch länger auf Ihrem Posten bleiben? Ist Ihr Nachfolger schon jetzt bereit, CEO zu werden? Wird er ungeduldig werden und nicht länger warten wollen, wenn Ihre Zeitplanung noch nicht steht? Diese Konstellation bestätigte den Zeitpunkt für meinen Ausstieg bei Medtronic nach zehn Jahren: Mein Nachfolger, Art Collins, war nur fünfeinhalb Jahre jünger als ich und bereit, CEO zu werden. Wenn ich entschieden hätte, noch länger zu bleiben, hätte er höchstwahrscheinlich einen anderen CEO-Posten angenommen.

  • Trifft das andere Extrem zu – ist der vorgesehene Nachfolger noch nicht so weit, dass er schwierige Situationen meistern kann? In diesem Fall müssen Sie womöglich Ihre Amtszeit verlängern, bis andere Kandidaten gefunden werden. Der frühere CEO von Merck, Roy Vagelos, erlebte genau dies: Sein designierter Nachfolger verstieß gegen den Verhaltenskodex des Unternehmens. Der Board musste Vagelos bitten, so lange zu bleiben, bis die externe Suche abgeschlossen war.

  • Gibt es Meilensteine für das Unternehmen, die Sie noch erreichen möchten, bevor Sie gehen? Etwa die Integration eines großen Unternehmenszukaufs, die Markteinführung eines wichtigen neuen Produkts oder der Abschluss eines Projekts, das bereits lange läuft? John Noseworthy blieb CEO der Mayo Clinic in Rochester, bis das IT-Team die Einrichtung eines äußerst komplexen technischen Infrastruktursystems abgeschlossen hatte.

  • Verändert sich Ihre Branche so stark, dass Ihr Unternehmen eine frische Perspektive braucht? Nach acht Jahren als CEO von Novartis übergab Joe Jimenez die Leitung an Vas Narasimhan, damit er den Vorstoß des Pharmakonzerns in das neue Feld der genetischen und zellbasierten Therapien übernehmen konnte.

  • Gibt es in Ihrem Unternehmen ein festgelegtes Ruhestandsalter? Vor noch nicht allzu langer Zeit lag es in den meisten Unternehmen bei 65 Jahren. Viele haben diese Grenze aufgrund des besseren allgemeinen Gesundheitszustands und der höheren Lebenserwartung mittlerweile aufgehoben. Wenn ein Board einen erfolgreichen CEO hat, der weitermachen möchte, sind die Mitglieder heute oft bereit, die geltende Ruhestandsregelung außer Kraft zu setzen. Bei Ford, wo die CEOs traditionell mit 65 Jahren in den Ruhestand gingen, bat der Board Alan Mulally, bis kurz vor seinem 69. Geburtstag zu bleiben. Merck änderte kürzlich seine Regelung, um die Amtszeit von CEO Ken Frazier zu verlängern, nachdem dieser 65 Jahre alt geworden war. Ruhestandsregelungen können nützlich sein, um Führungskräfte ihrer Position zu entheben, die sich nicht entschließen können, abzutreten. Doch Boards sollten sich im Klaren darüber sein, dass die Altersgrenze von 65 beliebig gesetzt ist – und Flexibilität durchaus im Interesse des Unternehmens liegen kann.

Diese Fragen können individuell von unterschiedlicher Bedeutung sein. Insgesamt bieten sie jedoch eine Liste mit Themen, über die Führungskräfte nachdenken sollten, wenn sie den besten Zeitpunkt zum Aufhören finden wollen.

Ein Grund für CEOs, ihre Amtszeit zu überziehen, besteht darin, dass sie keine Vorstellung davon haben, was danach kommen soll. Das ist kurzsichtig. Heutzutage haben ehemalige CEOs unzählige Möglichkeiten, weiter Führungspositionen zu übernehmen und in unterschiedlichen Bereichen bedeutende Beiträge zu leisten. Sie können als Boardmitglied für Unternehmen oder Non-Profit-Organisationen arbeiten, lehren, Bücher schreiben, sich in gemeinnützigen Gesellschaften engagieren, in eine Vermögensverwaltung gehen, eine Stiftung gründen, in der Politik mitarbeiten oder sich als Mentoren um den Führungsnachwuchs kümmern. Viele CEOs stellen fest, dass gerade die Phase der Generativität sehr erfüllend ist.

Ehemalige CEOs, die sich nach ihrer Managerkarriere ein erfülltes Leben aufbauen, erwerben häufig eine gute Reputation – und sind meiner Erfahrung nach zufriedener. Ein Beispiel ist Steve Reinemund, von 2001 bis 2006 CEO bei PepsiCo. Während dieser Zeit setzte er den Standard für wertorientierte Führung, sorgte für wachsende Einnahmen und Marktkapitalisierung und für mehr Diversity im Management von PepsiCo. Im Alter von 58 Jahren zog sich Reinemund als CEO zurück, um sich mehr um seine Familie zu kümmern. So wurde der Posten für seine Nachfolgerin Indra Nooyi frei. Nach dem Eintritt in den Ruhestand war Reinemund sechs Jahre lang Dekan der Business School von Wake Forest. Dort konzentrierte er sich auf die Themen Werte und Ethik. Zudem saß er in den Boards von Johnson & Johnson, American Express, ExxonMobil, Walmart und Marriott. Auch dort setzte er sich stark für Werte, Ethik und Vielfalt ein.

Wenn ich mit CEOs über den Ruhestand spreche, empfehle ich ihnen das folgende, schrittweise Vorgehen:

1. Sorgen Sie für einen starken Abgang. Viele CEOs fürchten, zu "zahnlosen Tigern" zu werden, sobald die Zeitplanung für ihre Nachfolge klar ist. Ich teile diese Befürchtung nicht. CEOs haben bis zum letzten Tag die Verantwortung und sollten ihre Amtszeit auf hohem Niveau abschließen. Doug Baker, CEO von Ecolab, formuliert es so: "Sprinten Sie über die Ziellinie." Wenn sie weiter mit vollem Einsatz bei der Sache sind, verschaffen scheidende CEOs ihren Nachfolgern Zeit, ihre eigene Agenda ohne den Druck des Tagesgeschäfts zu planen. Das tat auch John Noseworthy als CEO der Mayo Clinic: Er setzte den Board neun Monate vor dem geplanten Ruhestand über sein Vorhaben in Kenntnis. So blieb genügend Zeit, einen Nachfolger auszuwählen und vorzubereiten. Noseworthy baute unterdessen das medizinische Geschäft weiter aus. Als er am 31. Dezember 2018 das Unternehmen verließ, stand es glänzend da. Auch sein Nachfolger Gianrico Farrugia ließ die Zeit nicht ungenutzt: Er feilte an seiner Agenda und stellte sein Führungsteam zusammen.

2. Sprechen Sie mit einem Karrierecoach oder einem Therapeuten. Als ich Medtronic verließ, fürchtete ich, bedeutungslos zu werden, keine Plattform mehr zu haben und keinen Sinn mehr in meinem Leben zu sehen. Daher suchte ich einen Therapeuten auf, bei dem ich ein paar Jahre zuvor schon einmal gewesen war. Die Gespräche halfen mir nicht nur, meinen Ängsten auf den Grund zu gehen. Sie versetzten mich auch in die Lage, mir mein neues Leben vorzustellen und darüber nachzudenken, welche Optionen es mir eröffnen könnte. Weil ich erkannte, dass ich keine Vollzeitposition mehr übernehmen wollte, hatte ich mit einem Mal die Freiheit, viele andere neue Dinge auszuprobieren. Ich hatte zwar auch nach den Gesprächen mit meinem Therapeuten noch keine konkrete Vorstellung, wie ich mich fühlen oder was ich nach dem Ausstieg tun würde. Ich sah mich jedoch deutlich besser gerüstet, mit dem Unbekannten zurechtzukommen. Nach meinem Rückzug plante ich zwei Jahre lang meine nächsten Schritte und unterrichtete 18 Monate als Gastdozent an zwei Universitäten in der Schweiz.

3. Sprechen Sie mit Ihrem Partner über die anstehende Veränderung. Stellen Sie Fragen wie: Was würde uns die größte Zufriedenheit bringen? Worin sehen wir einen besonderen Sinn? Wo möchten wir leben und unsere Zeit verbringen? Für welche Hobbys hatten wir nie Zeit? Gibt es eine Liste von Dingen, die wir wegen meines Jobs als CEO nicht tun konnten? Für uns gehörte das Leben in einem anderen Land dazu. Meine Frau Penny und ich sprachen sechs Monate bevor ich Medtronic verließ mit einem Coach. Der Berater half uns, die unterschiedlichen Stadien zu erkennen, in denen sich unsere Karrieren befanden.

4. Machen Sie einen sauberen Schnitt**.** Besuchen Sie in den Monaten vor Ihrem Ausscheiden Ihre wichtigen Wegbegleiter. Treffen Sie Mitarbeiter und Kunden, um Kontakte zu vertiefen und aufzufrischen. Wenn Ihre Amtszeit um ist, sollten Sie aufhören, sich dauernd mit Ihren ehemaligen Vorstandskollegen zu treffen. Verlegen Sie Ihr Büro an einen neuen Ort – am besten außerhalb der Zentrale, auf jeden Fall aber weit weg vom Führungstrakt. Ich rate ehemaligen CEOs, nur dann im Unternehmen vorstellig zu werden, wenn der neue CEO sie ausdrücklich einlädt.

5. Gehen Sie mindestens sechs Monate keine neuen Verpflichtungen mehr ein. Eine längere Zeit außerhalb des Unternehmen gibt Führungskräften die Gelegenheit, Tabula rasa zu machen und unvoreingenommen darüber nachzudenken, was als Nächstes kommen soll. Nachdem ich Medtronic verlassen hatte, mieteten Penny und ich ein Landhaus in der Provence, wo uns die Familie und Freunde besuchten. Das hatte ich schon lange vorgehabt. Zuvor war dies nicht möglich gewesen, weil ich es mir nicht leisten konnte, mein Unternehmen so lange zu verlassen.

Gehen Sie während dieser Erkundungsphase keine festen Verpflichtungen ein. Die ersten Gelegenheiten, die sich ergeben, sind nicht immer die beste Wahl. Manche Führungskräfte greifen aus Angst, ihre Zeit nicht ausfüllen zu können, trotzdem sofort zu. Vielleicht legen sie Wert auf einen Titel und eine Visitenkarte. Oder möchten, dass ihre Kollegen wissen, dass sie immer noch aktiv sind. Seien Sie auch bei kleineren Verpflichtungen vorsichtig. Sie sprengen schnell Ihren Zeitplan und halten Sie davon ab, einen längeren Urlaub zu machen oder anspruchsvollere Aufgaben zu übernehmen. Die neue Erkundungsphase und immer wieder "noch nicht" zu sagen, wenn sich Gelegenheiten bieten, mögen zunächst unangenehm sein. Aber wenn Sie dieses Unbehagen aushalten, wird Ihnen diese Zeit helfen, den nächsten Schritt sehr überlegt zu tun.

6. Treffen Sie Ihre Entscheidung und ziehen Sie weiter. Wenn Sie bereit sind, in eine neue Rolle zu schlüpfen und neue Aufgaben zu übernehmen, sollten Sie trotzdem zeitlich flexibel bleiben. Bedenken Sie, dass diese Verpflichtungen nicht für immer sind. Stürzen Sie sich dann aber mit vollem Einsatz in die neue Aufgabe, um so viel wie möglich dabei zu lernen. Engagieren Sie sich, als ob Sie für den Rest Ihres Lebens dabeibleiben würden.

Viele CEOs möchten die sich eröffnenden einzelnen Optionen diskutieren und gegeneinander abwägen. Etliche wollen dabei auch sehr konkret über die Vor- und Nachteile sprechen, die die unterschiedlichen Möglichkeiten mit sich bringen. Dies sind die Optionen, die sich klassischerweise bieten:

Im Board eines Unternehmens mitarbeiten. Heutzutage wird den meisten aktiven CEOs von ihrem eigenen Board untersagt, in mehr als einem Board außerhalb des Unternehmens Mitglied zu sein. Wenn Sie jedoch erst einmal ausgeschieden sind, können Sie in verschiedenen Unternehmen einen wichtigen Beitrag leisten. Aus diesem Grunde sind frisch zurückgetretene CEOs als Boardmitglieder sehr gefragt. Die frühere CEO von DuPont, Ellen Kullman, ist ein Beispiel dafür. Sie sitzt in den Boards von Amgen, Carbon, United Technologies und Goldman Sachs (wo sie meine Kollegin ist). Ihre Spezialität ist, tief in die Details einzutauchen und Fragen zu stellen, die von großer Wichtigkeit sind. Die Mitgliedschaft in einem Board erlaubt Ihnen, sich weiterhin an der Lösung von entscheidenden unternehmerischen Fragen zu beteiligen und neue Berufskollegen zu finden. Sie sollten sich aber im Klaren darüber sein, dass die Mitgliedschaft in einem Board besonders in Krisenzeiten außerordentlich zeitintensiv sein kann. Dies kann Ihre sonstigen Aktivitäten empfindlich einschränken.

Eine Lehrtätigkeit übernehmen. Ich selbst habe erfahren, dass es sehr lohnend und intellektuell herausfordernd sein kann, MBA-Kandidaten und Führungskräfte zu unterrichten. Diese Aufgabe zwingt einen dazu, aufmerksam zu bleiben. Anders kann man weder mit den Studenten mithalten noch die Motivation und Denkweise einer jüngeren Generation verstehen. Über die Lehrtätigkeit erhalten Sie Zutritt zur Welt des akademischen Lebens, mit all ihren intellektuellen Anregungen – aber auch bürokratischen Frustrationen. Eine Lehrtätigkeit sollte niemals leichtfertig übernommen werden. Ihnen sollte klar sein, dass enormer Zeitaufwand nötig ist, um dabei einen wirklich guten Job zu machen. Für viele CEOs im Ruhestand ist es diese Investition wert. Für mich war es eine wertvolle Gelegenheit, meiner Leidenschaft nachzugehen und Führungspersönlichkeiten dabei zu helfen, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln.

Ein Buch schreiben. Viele CEOs im Ruhestand schreiben Bücher. Einige dieser Bücher, beispielsweise die von Ron Williams von Aetna ("Learning to Lead"), von Doug Conant von Campbell Soup ("Touchpoints" mit Mette Norgaard), von Ray Dalio von Bridgewater ("Principles", auf Deutsch erschienen als "Die Prinzipien des Erfolgs)" und von Harry Kraemer vom Pharmaunternehmen Baxter International ("Becoming the Best" und "From Values to Action") sind für angehende Führungskräfte besonders hilfreich gewesen. Auch wenn das Schreiben sehr erfüllend sein kann, ist es doch wichtig, nach dem Schritt in den Ruhestand mindestens ein Jahr damit zu warten. So können Sie eine eigene Sichtweise erlangen und über mehr als nur die Erfahrung bei einem einzelnen Unternehmen schreiben.

Eine Non-Profit-Organisation leiten. In den Boards von NGOs mitzuarbeiten kann sich als eine besonders dankbare Aufgabe erweisen. Manche Führungskräfte übernehmen hier sogar Vollzeitverpflichtungen. Richard Davis wurde zum Beispiel nach einer erfolgreichen Karriere als CEO von U.S. Bancorp der Leiter der Stiftung Make-A-Wish in Phoenix. Parallel dazu saß er in den Boards der Mayo Clinic und der Twin Cities YMCA. Doch seien Sie gewarnt: Auch wenn die Führung einer Non-Profit-Organisation einem persönlich viel zurückgibt, kann sie doch genauso fordernd sein wie die Position als CEO eines gewinnorientierten Unternehmens.

In eine Vermögensverwaltung eintreten. Das rasante Wachstum des Vermögenssektors hat einen echten Bedarf an Führungskräften mit solider Erfahrung im Tagesgeschäft geschaffen. Gebraucht wird ein unvoreingenommener Blick auf die Unternehmen in den Private-Equity-Portfolios, die allzu oft in turbulentem Terrain unterwegs sind. Ein gutes Beispiel dafür ist Harry Kraemer, heute ein Führungspartner bei Madison Dearborn. Kraemer bewertet seine Erfahrungen positiv. Viele frühere CEOs haben mir jedoch anvertraut, welche Enttäuschungen sie in der Vermögensverwaltung erlebten. Sie hatten das Gefühl, nicht die Verantwortung übertragen bekommen zu haben, die ihnen anfangs versprochen worden war. Und dass ihre Namen von den Unternehmen in erster Linie zu Prestigezwecken genutzt worden seien.

Eine Stiftung gründen. Viele CEOs, die im Verlauf ihrer Karriere ein bedeutendes Vermögen angesammelt haben, gründen Stiftungen. So wollen sie mehr Einfluss auf Entwicklungen nehmen, die ihnen am Herzen liegen. Das tat auch der frühere CEO von IBM, Sam Palmisano, als er das Center for Global Enterprise (CGE) an der Rockefeller University in New York einrichtete. Bei IBM entwickelte Palmisano seine Theorien über global integrierte Organisationen. Indem er das CGE gründete, konnte er sich zusammen mit Wissenschaftlern dafür einsetzen, diese Ideen zu vertiefen und in die Praxis umzusetzen. Penny und ich verwendeten die Medtronic-Aktien, um die George-Family-Foundation zu gründen. Mit Penny als Vorsitzender engagiert sich die Stiftung für eine ganzheitliche, gesunde, verbindende und authentische Führung. Wir haben es als außerordentlich lohnend empfunden, Non-Profit-Organisationen zu unterstützen. Es kann aber auch durchaus anstrengend sein, zu den Ergebnissen zu kommen, die man sich dabei wünscht.

Ein Amt in der Politik übernehmen. Viele frühere CEOs sind in die Politik gegangen. Sei es, weil sie dazu berufen oder weil sie ins Amt gewählt wurden. Mein Kommilitone von der Harvard Business School, Michael Bloomberg, ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür: Er war für drei Amtszeiten Bürgermeister von New York City und hat immer noch großen Einfluss bei sozialen und politischen Themen. Unter den richtigen Voraussetzungen kann die politische Arbeit erfüllend und sinnvoll sein und das eigene Vermächtnis aufpolieren. Unter schlechten Voraussetzungen kann sie aber auch zutiefst frustrierend sein. Das musste etwa der frühere CEO von ExxonMobil, Rex Tillerson, erfahren. Während seiner 14 Monate als US-Außenminister hatte er oft Meinungsverschiedenheiten mit US-Präsident Donald Trump durchzustehen.

Ein Mentor für Führungskräfte sein. In den vergangenen zehn Jahren haben angehende Führungskräfte immer öfter die Gelegenheit zum Coaching und Mentoring genutzt. Viele von ihnen merken, dass frühere CEOs oft sehr kluge Coachs sind. Die nächste Führungskräftegeneration zu coachen kann ein sehr befriedigender Weg sein, etwas zurückzugeben. Dan Vasella, ehemaliger CEO von Novartis, reist um die ganze Welt, um CEOs zu coachen und Mentorenprogramme für Führungskräfte zu betreiben. John Mack von Morgan Stanley hat viel Freude daran, junge Unternehmer zu coachen. Der Lohn des Mentorings übersteigt bei Weitem die investierte Zeit.

Jetzt, wo in der Gesellschaft überall überzeugende Führungskräfte gebraucht werden, wäre es ein herber Verlust, wenn sich ehemalige CEOs im Ruhestand einfach in wärmere Gefilde zurückzögen. Sie würden fehlen, um bei der Lösung einer Vielzahl von Problemen in der Welt mitzuhelfen. Die oben aufgelisteten Möglichkeiten geben erfahrenen Führungskräften die Chance, wertvolle Beiträge für die Gesellschaft zu leisten und trotzdem noch Zeit für Familie, Freunde, Hobbys und Reisen zu haben. Unter den vielen früheren CEOs in meinem Bekanntenkreis haben diejenigen, denen es gut geht, Wege gefunden, etwas zu schaffen oder zu fördern, was sie überdauern wird. Die generative Gestaltung ihrer späteren Jahre gibt ihnen selbst ein gutes Gefühl – und hilft, die Welt etwas besser zu machen. 

© HBP 2020

Der Autor

Bill George ist Professor an der Harvard Business School und Autor des Buchs "Discover Your True North: Becoming an Authentic Leader", erschienen bei Jossey-Bass. George war von 1991 bis 2001 CEO von Medtronic. Darüber hinaus war er Mitglied der Boards von Gold- man Sachs, Novartis, Target, ExxonMobil und der Mayo Clinic.

Dieser Artikel erschien in der März-Ausgabe 2020 des Harvard Business managers.

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