Das Unhaltbare auf den Punkt bringen: Blühdorns nachhaltige Diagnosen
Als der Club of Rome 1972 die vielbeachtete Studie "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlichte, erhielt die Umweltbewegung enormen Zulauf. Daraus entwickelte sich „das Projekt einer sozialökologischen Selbstbefreiung“, schreibt der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn in seinem Buch „Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne“. Der Leiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit an der Wirtschaftsuniversität Wien verweist darauf, dass der ökologische Umbau inzwischen zur Agenda der Regierung gehöre und von den ursprünglichen Anliegen nur noch wenig übrig geblieben sei. Er spricht sogar von einer emanzipatorischen Katastrophe für jene, die für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft gekämpft und ungewollt dazu beigetragen haben, „dass sich die Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit verfestigt hat“. In seinem Buch prognostiziert er das Scheitern nachhaltiger Utopien und analysiert die Gründe. Dazu gehören beispielsweise die inneren Widersprüche der nachhaltigen Bewegung, die auch einen großen Anteil an der Entstehung eines Ich-Ideals hat, bei dem die Selbstverwirklichung an erster Stelle stehe. Auch seien viele grüne Forderungen häufig in sich selbst widersprüchlich. Dazu passt auch das Zitat aus Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“.
Den Anfang der Bewegung begleitete der Soziologe Ulrich Beck (1944 – 2015). Auf ihn bezieht sich Blühdorn auch in seinem Untertitel „Auf dem Weg in eine andere Moderne“ (übernommen von seinem Buch zur „Risikogesellschaft“ von 1986). Beck verband mit der „andere Moderne“ eine erneute Aufklärung, die ihren Ausgang vom heilsamen Schock der ökologischen Krise nehmen sollte. Daraus folgt für Blühdorn eine „dritte Moderne“: Hier hat die Emanzipation mit ihren geschlossenen Ich-Welten die Bedingungen der Aufklärung aufgezehrt – „der Glaube an die vernunftbestimmte Welt freier Subjekte erscheint als illusionär, als untragbare Belastung und – mit ihren ökologischen Imperativen, demokratischen Zumutungen und sozialen Verpflichtungen – als inakzeptable Beschränkung aktualisierter Vorstellungen von Freiheit und Selbstverwirklichung.“ Nachhaltigkeit geht für Blühdorn heute oft mit dem Bewusstsein der moralischen Überlegenheit und wirtschaftlich-politischer Vorherrschaft einher – auch das ist unhaltbar. Die Transformationsfähigkeit und -willigkeit spätmoderner Gesellschaften wird durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren beeinträchtigt:
die ökologisch-emanzipatorische Bewegung wird von vergleichsweise privilegierten Teilen der Gesellschaft geprägt
die liberale repräsentative Demokratie sei nach Blühdorn nie demokratisch im Sinne der Souveränität des Volkes gewesen, sondern war immer eine Elitenherrschaft
Überforderung des Staates, den Erwartungen weiter Teile der Bevölkerung gerecht werden zu können.
immer größere Teile der Gesellschaft fühlen sich von den politischen Institutionen nicht mehr repräsentiert
„offene Gesellschaften“ verlieren gegenüber „autoritären Regimen zunehmend an Bedeutung beziehungsweise werden selbst zunehmend postdemokratisch“
spätmoderne Gesellschaften sind zunehmend schwierig politisch zu steuern (immer mehr gesellschaftliche Gruppen und Minderheiten kämpfen um Beteiligungsrechte)
die „Große Transformation“ von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu einer postfossilen Lebensweise gerät ins Stocken und die „Agenda 2030“ als umfassendes Programm für einen weltweit gerecht verteilten Wohlstand erscheint aussichtslos
Mega-Krisen wie Klimawandel, Ressourcenverknappung, demografischer Wandel, die Folgen der Globalisierung, Digitalisierung sowie das schwierige Verhältnis von Freiheit und Sicherheit
identitäre, spaltende und radikal polarisierende Verschwörungs-, Querdenker-, Diversitäts- und Cancel-Kulturen innerhalb spätmoderner Gesellschaft
eine Mehrheit sehnt sich „nach entlastender Einfachheit, Orientierung, Führung und Autorität“
der zivilgesellschaftliche Optimismus kippt in Resignation und Radikalität
bröckelndes Selbstverständnis der vermeintlich fortschrittlichen Gesellschaften
Strukturwandel der Öffentlichkeit im Zuge der Verbreitung der soziaslen Medien und des digitalen Wandels
Überforderung und Überlastung auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger
grüne Utopien scheitern an der Realität.
Mit seinem Buch möchte Ingolfur Blühdorn einen Beitrag dazu leisten, die gesellschaftstheoretischen Grundlagen der Umwelt- und Nachhaltigkeitssoziologie zu festigen und zu einer Theorie spätmoderner Gesellschaften beizutragen. Indem er das gesellschaftstheoretische Wissen aktiviert, bringt er das Thema Nachhaltigkeit und grüne Transformation wieder auf eine erträgliche Temperatur – ohne überhitzte Debatten. Seine nüchterne Bilanz kann zu einem klareren Denken und Handeln führen - wenn wir uns auf sie konzentriert einlassen, denn umwelt-, klima- und nachhaltigkeitspolitische Fragen werden trotz seiner Kritik nicht irrelevant.
Ingolfur Blühdorn: Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Edition Suhrkamp. Berlin 2024.
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt a.M. 2007.