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Das Vermächtnis der Familie Lagerfeld

Ein gutes Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es uns auch nach dem Lesen noch lange beschäftigt, dass es anschlussfähig ist an unser Leben, uns aufnimmt, uns wie auf einem Gewässer trägt und uns wieder absetzt an der alten Stelle, die sich inzwischen - so wie wir - verändert hat. Ich gestehe, dass ich keine Roman-Leserin bin, sondern lieber Essays lese, Gedichte oder Sachbücher – vielleicht, weil hier alles auf den Punkt gebracht wird. Und so war ich über mich selbst erstaunt, als ich die Geschichte der hanseatischen Kaufmannsfamilie las von Heike Koschyk las. „Das Glück unserer Zeit. Der Weg der Familie Lagerfeld“ ist der Titel des ersten Bandes. Band zwei („Das Vermächtnis der Familie Lagerfeld“) ist gerade erscheinen. Im Fokus steht Otto Lagerfeld (1881-1967), Vater des späteren Modeschöpfers Karl und Gründer des Kondensmilch-Unternehmens „Glücksklee“, der den Tugenden des Ehrbaren Kaufmanns sehr verbunden war. Seine Angestellten behandelte er wertschätzend, als seien sie Teil einer großen Familie, und sie dankten es ihm mit Loyalität.

Wer nachhaltiges Wirtschaften verstehen will, muss begreifen, was solche Tugenden bedeuten: Sie setzen nicht nur persönliche Charaktereigenschaften voraus, sondern für den amerikanischen Philosophen Robert C. Solomon „in die Tat umgesetzte Werte". Das schließt ein, auch für die Konsequenzen der eigenen Handlungen verantwortlich zu sein. Joseph Schumpeter, der die Eigenschaften eines Unternehmers umfassend analysiert hat, bezeichnet Unternehmer als „dynamisch-energische“ Menschen, die bereit und fähig sind, neue Ideen in neue Produkte, neue Verfahren bzw. generell in erfolgreiche Innovationen umzusetzen. Sie sind Auslöser von Veränderungen und somit maßgeblich mitverantwortlich für wirtschaftliche Weiterentwicklung und langfristiges Wirtschaftswachstum. Der Wille und die Motivation, ein Unternehmen zu gründen und zu führen, gehören ebenso dazu wie ein gewisses Ausmaß an Beharrlichkeit und Ausdauer sowie Überzeugungskraft, Leistungsmotivation und Risikobereitschaft.

Der erste Teil des Buches hatte bereits mein Interesse geweckt – der zweite aber hat mich zutiefst ergriffen, weil ich etwas begriffen habe: Nicht nur, dass sich Geschichte wiederholt (es gibt viele Parallelen zur momentanen Weltlage), sondern auch, dass die Kunst, einen Roman zu schreiben, sehr wohl dazu beitragen kann, kleine und große Themen, Persönliches und Gesellschaftliches auf schönste und nachhaltigste zu verbinden. Und dass es keine kunstvoll ausstaffierten Sätze braucht, um ein bedeutendes Werk zu schreiben. Auch ist dieses Buch ein Beleg dafür, dass sich Nachhaltigkeit sowie Wirtschafts- und Markengeschichte auf lebendige und erzählende Weise vermitteln lässt. Authentizität und Realitätstreue waren der Autorin sehr wichtig. Am Ende des Buches sind nicht nur die wichtigsten Daten und Fakten vermerkt, sondern auch, wo die Autorin bewusst eingegriffen und Lücken in den Lebensgeschichten gefüllt hat.

Bereits in den Jahren nach der Machtübernahme Hitlers hatte die Glücksklee Milchgesellschaft, die unter amerikanischer Inhaberschaft stand, und deren Direktor Otto war, unter Repressalien zu leiden. Doch mit dem Kriegseintritt Amerikas im Dezember 1941 war Otto plötzlich Direktor eines feindlichen Unternehmens. Auch tat er sich politisch nicht seiner Position entsprechend hervor, was beim Hamburger Gauwirtschaftsberater zu Misstrauen führte. Damals fürchtete sich Otto um sein Leben. Das ist zumindest zu vermuten, weil er damals einen Grabplatz für sich und seine Familie reservierte. Er hielt sie zu allen Zeiten zusammen. Seit 1922 war Otto Lagerfeld in erster Ehe mit Theresia (1896–1922) verheiratet. Aus dieser Ehe stammte die Tochter Thea (1922–1997). Nach ihrem Tod heiratete er 1930 Elisabeth (1897–1978). Aus der zweiten Ehe gingen eine Tochter (1931–2015) und der Modeschöpfer Karl Lagerfeld (1933-2019) hervor. Das Bild, das Heike Koschyk von seiner Mutter Elisabeth zeichnet, „erklärt“ ihn mehr als so manches ihm zugeschriebene Zitat. Ihr Vater, Karl Bahlmann, war Landrat von Beckum im Münsterland. Von ihm hatte Karl seinen Vornamen geerbt. Möglicherweise auch die Liebe zum hohen Vatermörderkragen, den auch Harry Graf Kessler und Walther Rathenau bevorzugten. Damit verbunden war ein gestreckte Hals und eine aufrechten Haltung. Behauptet wurde auch häufig, dass Karl Lagerfeld später den hohen Kragen trug, um seine Falten am Hals zu verbergen. Karl Bahlmann starb 1922, an seinem 63. Geburtstag.

Karl erfand später viele Fake-Geschichten, die Heike Koschyk ins Licht der Wahrheit rückt: So hat er die Schule – wie oft behauptet - nicht abgebrochen, sondern machte einen Realschulabschluss. Und er ging nicht mit 14 Jahren mit seiner Mutter nach Paris - dorthin zog er erst im Sommer 1952, als er schon fast 19 Jahre alt war. Und zwar allein (ohne seine Mutter). Ihn empfing eine Dame der Lait Gloria, dem Partnerunternehmen der Glücksklee, die ihn in der ersten Zeit begleiten sollte. Die erdachte Begleitung seiner Mutter war nach Heike Koschyk der Flunkerei geschuldet, dass Karl sich fünf Jahre jünger gemacht hat. Mit seinen angeblich 14 Jahren wäre noch zu jung gewesen. Zu dieser „Fake“-Geschichte gehört auch das in Wahrheit nie besuchte Pariser Gymnasium.

Elisabeth verteidigte ihren Sohn jedoch. Karls berufliche Karriere begann 1954, als er beim Internationalen Wollsekretariat für einen Mantelentwurf mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Da er sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen wollte, konnte er all seine Energien auf seine Arbeit konzentrieren. Tugenden wie Haltung, Fleiß, Disziplin, Pflichterfüllung sowie ständige Übung und Verbesserung waren ihm – genauso wie seinem Vater – sehr wichtig. Nie ruhte er sich auf seinen Erfolgen aus. Lagerfeld interessierte alles: Er ging nie nur in eine Richtung und hielt sich „alle Türen offen“. Das machte ihn zum Inbegriff von Kreativität, Universalbildung und Esprit. Er starb am 19. Februar 2019 im Alter von 85 Jahren. Wer sein komplexes Wesen verstehen will, sollte sich mit der Geschichte seiner Familie beschäftigen.

  • Heike Koschyk: Das Glück unserer Zeit. Der Weg der Familie Lagerfeld. Goldmann, München 2022.

  • Heike Koschyk: Das Glück unserer Zeit. Das Vermächtnis der Familie Lagerfeld. Goldmann, München 2022.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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