Abfahrt ins Ungewisse: Die Deindustrialisierung der Exportnation Deutschland verschärft sich. - imago images/Westend61
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Deindustrialisierung: Viele Firmen prüfen Verlagerung der Produktion

Eine Studie zeigt: Rund ein Drittel der Unternehmen erwägt, Investitionen künftig eher in den USA oder Asien zu tätigen. Das Strompreispaket hilft nur bedingt – und es gibt ein weiteres großes Problem.

München. Mehr als ein Jahrhundert reicht die Geschichte des Spezialchemieunternehmens Alzchem an seinen Standorten in Bayern zurück. Die einstigen Bayerischen Stickstoffwerke haben dort über die Zeit Hunderte Millionen Euro in Wachstum investiert. „Mit 1600 Mitarbeitern sind wir zwar kein Multi, aber unser Unternehmen ist strategisch relevant“, sagt der Vorstandsvorsitzende Andreas Niedermaier.

Doch die nächste Investition soll erst mal in die USA fließen: „Die amerikanische Willkommenskultur ist hammergut, dort werden uns rote Teppiche ausgerollt“, sagt Niedermaier. Hohe Energiepreise, starke Regulierung, in der Heimat fühle er sich nicht mehr verstanden, sogar aus Deutschland vertrieben: „Wenn die Regierung uns hier nicht mehr will, dann soll sie es uns klar sagen.“

Alzchem ist dafür nun ein Beispiel von vielen. Laut einer aktuellen Studie der Beratungsgesellschaft Deloitte und des Industrieverbands BDI sehen 59 Prozent der Unternehmen Energiesicherheit und -kosten als wichtigsten Grund für Investitionen im Ausland. Jede dritte Firma plane oder erwäge, Teile der Wertschöpfung zu verlagern. 100 Unternehmen hat Deloitte befragt, der Großteil mit einem Umsatz von mehr als 50 Millionen Euro – es geht also nicht nur um kleine und mittlere Unternehmen (KMU).

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Industrie-Experte: „Wir sehen eine Deindustrialisierung“

„Das Vertrauen in den Standort Deutschland ist erschüttert“, sagt Industrieexperte und Deloitte-Partner Florian Ploner, einer der Autoren der Studie. Und seit dem Zeitpunkt einer erstem Befragung vor sechs Monaten habe sich das Bild in der neuen Erhebung noch deutlich verschlechtert. Es gebe wegen der hohen Energiekosten einen „erheblichen Schmerz“ bei Industrieunternehmen, vor allem im Mittelstand. „Wir sehen eine Deindustrialisierung“, fasst Ploner zusammen.

Die Bundesregierung hat sich in der vergangenen Woche zwar auf ein Industriestrompreispaket geeinigt, das in den nächsten fünf Jahren Entlastungen in Höhe von 28 Milliarden Euro bringen soll. Doch das wird nach Einschätzung Ploners den Trend kaum stoppen. Für langfristige Investitionen bräuchten die Unternehmen Planungssicherheit, das Paket sei jedoch zeitlich begrenzt. Zudem seien die zu hohen Energiekosten das Problem, nicht die im Zuge der Regelung stark gesenkte Besteuerung.

Anlage der SKW Stickstoffwerke Piesteritz. Der Hersteller warnt vor einer Verlagerung selbst innerhalb der EU. - dpa
Anlage der SKW Stickstoffwerke Piesteritz. Der Hersteller warnt vor einer Verlagerung selbst innerhalb der EU. - dpa

Für manche Betriebe kommt die Entscheidung ohnehin zu spät. So schließt der Papierkonzern UPM sein Werk in Plattling mit 400 Mitarbeitern zum Jahresende. Der Markt für grafische Papiere ist rückläufig, teilte das Unternehmen mit. Da stünden die Produktionsstandorte in Deutschland hinsichtlich „einer sicheren, zuverlässigen und wettbewerbsfähigen Energieversorgung“ vor besonderen Herausforderungen.

Andere, etwa das Chemieunternehmen SKW Piesteritz, das Deutschlands größte Düngemittelfabrik betreibt, warnen vor einer womöglich unumgänglichen Verlagerung. Ein Teil der Stickstoff-Fertigung könne nach Österreich gehen, dort sind die Gaspreise etwas niedriger.

In diese Regionen zieht es deutsche Unternehmen

Wie bei Alzchem sind oft die USA samt der Subventionen des Inflation Reduction Acts (IRA) ein bevorzugtes Ziel für die Verlagerung. Auch Asien steht weit oben auf der Liste. Einer aktuellen Prognos-Studie im Auftrag des bayerischen Arbeitgeberverbands VBW zufolge sind die Industriestrompreise in Deutschland mehr als doppelt so hoch wie in den USA und China.

Doch so weit weg müssen die Unternehmen mitunter gar nicht ziehen. „Beim Blick auf die Industriestrompreise großer Abnehmer ab 150 Gigawattstunden pro Jahr innerhalb der EU zeigt sich, dass entsprechende Unternehmen in Deutschland etwa zehn Prozent über dem EU-Durchschnitt liegen“, sagt VBW-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt. In Frankreich und auch Polen zum Beispiel ist der Strom für produzierende Betriebe günstiger.

Andreas Niedermaier, CEO der Alzchem Group, plant erstmals Investitionen in den USA. - Alzchem Group
Andreas Niedermaier, CEO der Alzchem Group, plant erstmals Investitionen in den USA. - Alzchem Group

Die Mehrzahl der Betriebe hat laut der Deloitte-Studie in den vergangenen Jahren zumindest teilweise Produktion im Ausland angesiedelt. Dies betraf bislang vor allem Bauteile. Doch aktuell würden viele Firmen erwägen, auch größere Teile der Wertschöpfung wie die Vormontage oder auch komplette Produktionen zu verlagern.

Die hohen Energiekosten, die der Industriestrompreis zwar mildert, aber nicht aus der Welt schafft, sind nicht das einzige Problem, das die Unternehmen am Standort Deutschland zweifeln lässt. Da sind klassische Themen wie Lohnkosten, aber auch Marktzugang: Wer in den USA produziert, kommt dort leichter ins Geschäft. Eine Entwicklung, die die protektionistischen Tendenzen des IRA zuletzt verstärkt hat.

Bürokratie in Deutschland ein weiteres Schmerzthema

„Das Thema Entbürokratisierung ist für die Unternehmen aber nahezu genauso wichtig wie die Energiekosten“, sagt Deloitte-Partner Ploner. Etwa jedes zweite Unternehmen hofft auf weniger Bürokratie und Regulierung bei einer Ansiedlung von Produktion im Ausland. So sehen laut Deloitte-Befragung mehr als die Hälfte der Unternehmen das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz als „übermäßige Belastung im operativen Geschäft“.

Auch Alzchem kritisiert die Art der Regulierung in Europa. „Das Framing zur Chemie in Europa ärgert mich, da werden die Risiken viel zu stark nach vorne gestellt und kaum über die Chancen gesprochen“, sagt Niedermaier. „Die EU-Kommission will uns glauben machen, dass es ohne Chemie gehen könnte – doch so ist es nicht.“

Als Beispiel nennt er das Produkt Dormex, was Pflanzen vormacht, der Winter sei vorüber, und so zur Blüte animiert. Das Mittel ist in Europa nicht zugelassen, der Wirkstoff Cyanamid ist giftig und potenziell krebserregend. Für den Export produzieren darf Alzchem das Produkt dennoch, zumindest bislang. Weitere Regularien sind von der EU-Kommission angekündigt.

Und so orientiere man sich in Richtung USA. Eine direkte Verlagerung bedeutet das nicht, „nur dass wir unsere Investitionen nicht mehr in Deutschland und Europa priorisieren“, sagt Niedermaier. Den Effekt werden man dann Jahre später spüren.

Der Standort Deutschland hat weiterhin große Stärken, hochqualifizierte Fachkräfte zum Beispiel und viel Know-how in traditionellen Branchen. Doch gebe es viel Nachholbedarf zum Beispiel bei Digitalisierung und Infrastruktur, sagt Deloitte-Industrieexperte Ploner. „Die Stärke des Standorts ist, woher wir kommen. Die Schwäche ist die Richtung, in die wir gehen.“

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