Denn wir wissen nicht, was wir können
Die wenigsten Menschen kennen ihr größtes Talent – gerade weil es nicht hart erarbeitet ist. So finden Sie heraus, worin Sie richtig gut sind.
Von Klaus Siefert
Sich selbst, so würde man meinen, kennt jeder am besten. Doch erstaunlicherweise trifft genau das Gegenteil zu: Immer wieder habe ich als Talentcoach mit Menschen zu tun, die herausragende Leistungen erbringen, aber kein Gefühl haben für ihr Talent. Kein noch so großer Erfolg und kein noch so schönes Kompliment kann dann etwas ausrichten gegen das nagende Gefühl der Unzulänglichkeit. Die milde Form des Zweifels äußert sich in Sätzen wie: "Eigentlich mache ich nichts Besonderes." In vielen Fällen gehen die Zweifel weiter. Dann hadern Erfolgreiche damit, stets hinter ihren Erwartungen zurückzubleiben, oder sie fürchten sich insgeheim davor, in ihrer Unfähigkeit entdeckt und als Hochstapler entlarvt zu werden.
Warum haben so viele kein Gefühl dafür, was sie wirklich am besten können?
Die Antwort liegt im Phänomen des Kerntalents verborgen. Ich benutze den Begriff Kerntalent, weil dieses neben unseren anderen Talenten eine so wesentliche Rolle spielt. Wir lösen damit unsere täglichen Aufgaben, ohne viel darüber aussagen zu können. Im Gegensatz zu Fertigkeiten, die wir uns aneignen und auf die wir entsprechend stolz sind, ist das Kerntalent in uns angelegt. Das, was wir wirklich am besten können, gehört so selbstverständlich zu uns, dass wir ihm keinen besonderen Wert beimessen, die besondere Fähigkeit oft nicht einmal benennen können. "Blind Spot" nennt die Begabungsforschung dieses Phänomen und illustriert so, dass wir für unser größtes Talent betriebsblind sind.
Das Kerntalent macht deutlich, dass wir als Menschen ähnlich wie Tiere eine Spezialisierung in uns tragen. Nur dass es weniger offensichtlich ist wie bei Papagei, Adler oder Pelikan, die durch ihre unterschiedlichen Schnäbel auf bestimmte Nahrungsquellen spezialisiert sind. So sind wir von Natur aus für bestimmte Aufgaben wie geschaffen.
Menschen, denen es gelingt, ihr Kerntalent im Beruf zu leben, sind überdurchschnittlich erfolgreich – auch solche, die wegen des blinden Flecks wenig über ihr Talent wissen. Sind sie sich ihrer Stärken bewusst, verfügen sie zudem über großes Selbstbewusstsein und können ihre Erfolge genießen.
Die sechs Kerntalente
Ich habe sechs Kerntalente identifiziert. Jeder Mensch ist mit einem davon ausgestattet. Wenn wir es erkennen, dient uns dies als Navigationshilfe für unseren beruflichen Weg. Wir finden die richtige Aufgabe und erfreuen uns daran, wie viel uns gelingt.
Weil das Kerntalent eine Schlüsselrolle für unsere Arbeitsqualität und Zufriedenheit einnimmt, ist es wichtig, diesen verborgenen Teil unseres Könnens zu entdecken. Doch wie geht das? Wie gelingt mir der Blick hinter meinen blinden Fleck? Am besten erklärt sich das anhand von Beispielen.
1. Das Filmtalent
Nehmen wir Stefan L., er entwirft Leuchten für das gehobene Interieur. Sein Kerntalent ist seine außergewöhnlich stark ausgeprägte Vorstellungskraft. Entwirft Herr L. eine neue Leuchte, entwickelt er das Design bis ins Detail: Er sieht regelrecht das Licht, das sie im Raum entwickelt, die Farbtemperatur, die Atmosphäre. Diese besondere Vorstellungskraft wirkt auf den ersten Blick vielleicht nicht wie ein spektakuläres Talent. Außergewöhnlich ist jedoch die Wirkung, die Herr L. damit erzielt: Er wird geschätzt von Kunden und Kollegen, erhält Designpreise und ist wirtschaftlich erfolgreich. Außergewöhnlich ist auch die zentrale Bedeutung dieses Talents, wenn er seine täglichen Aufgaben löst: eine Leuchte entwirft, eine unternehmerische Entscheidung trifft, ein Mitarbeitergespräch führt oder seinen Urlaub plant. Bei all diesen Aktivitäten spielt seine ausgeprägte Vorstellungskraft die zentrale Rolle. Sie ist sein Erfolgsmuster, das ihm erlaubt, die täglichen Aufgaben zu lösen und Bemerkenswertes zu vollbringen – ein Leben lang.
2. Das Grundlagentalent
Frau M. leitet ein Ressort an einer Hochschule. Wenn sie Kongresse organisiert, Bildungskonzepte entwickelt oder ein Mitarbeitergespräch vorbereitet, sucht sie immer nach einer bestehenden Grundlage. Sie findet heraus, wo ein ähnliches Problem schon einmal gut gelöst wurde, und adaptiert diesen Ansatz für sich und die aktuelle Situation. Auf diese Weise entstehen in kurzer Zeit tragfähige Lösungen. Menschen mit einem Grundlagentalent sind geborene Macher. Sie brauchen große Aufgaben, um in Fahrt zu kommen, und sind empfindlich, wenn sie durch andere gebremst werden.
3. Das Verbindungstalent
Herr K. ist als Anwalt auf das Thema Scheidungen spezialisiert. Wenn Paare keine Möglichkeit einer Einigung finden, sieht Herr K. die Schnittmenge der Interessen. In den meisten Fällen kann Herr K. auf diese Weise Paaren helfen, eine Trennung konstruktiv zu gestalten. Das ist vor allem für die betroffenen Kinder von größtem Wert. Menschen mit einem Verbindungstalent sorgen in ihrem Einflussbereich für starke, belastbare Beziehungen. Sie haben ein Gefühl für die unterschiedlichen Bedürfnisse und Sichtweisen der anderen und freuen sich, wenn sie konstruktive Verbindungen schaffen können. Sie neigen jedoch dazu, ihre eigenen Bedürfnisse zu vergessen.
4. Das Stimmigkeitstalent
Frau L. ist Journalistin bei einer Tageszeitung. Mit ihrem Stimmigkeitstalent findet sie genau die Worte und Metaphern, die eine Person oder einen Sachverhalt so zutreffend beschreiben, dass ihre Leser den Kern erfassen und berührt sind. Menschen mit einem Stimmigkeitstalent haben ein sicheres Gespür, wann Dinge zu 100 Prozent stimmig sind. Das können Farben und Formen in der Architektur sein, das perfekte Bild für eine Marketingkampagne oder ein authentischer Auftritt eines Unternehmens. Menschen mit diesem Talent fühlen sich am wohlsten, wenn sie Lösungen aus dem Moment schöpfen können. Starre Strukturen und langfristiges Planen stehen ihrem Kerntalent im Weg.
5. Das Empathietalent
Herr H. ist als Therapeut auf das Thema "Traumatisierung durch körperliche Gewalt" spezialisiert. Er kann sich so intensiv in seine Patienten hineinversetzen, dass er ihre Gefühle und ihre Erfahrungen miterleben kann. Für die meisten Patienten ist es neu, in ihrem Trauma derart wahrgenommen zu werden. Das ist ein wesentlicher Faktor für H.s außergewöhnliche Heilerfolge. Menschen mit einem Empathietalent können in die Welt eines anderen eintauchen. Sie nehmen Aspekte wahr, die dem anderen verborgen sind. Sie sind so sehr darauf trainiert, sich in andere einzufühlen, dass sie jedoch oft kein Gefühl für sich selbst haben.
6. Das Essenztalent
Herr S. arbeitet in einer Universität im Bereich Gehirnforschung. Immer wieder gelingen ihm neue Entdeckungen in diesem Bereich. Mit seinem Essenztalent geht er den Dingen auf den Grund und durchdringt komplexe Sachverhalte. Auf diese Weise erschließen sich ihm wesentliche Zusammenhänge. Ist die Essenz gefunden, erscheint alles ganz klar und einfach. Menschen mit einem Essenztalente sind geborene Entdecker. Auf unbekanntem Gebiet finden sie häufig neue Lösungsansätze, die für viele von Bedeutung sind. Sie brauchen länger für ihre Lösungen, weil sie Dinge durchleuchten. Routinearbeiten, oberflächliche und schnelle Lösungen sind Gift für ihr Kerntalent.
Erkennen Sie Ihr Talent
Vielleicht haben Sie eine erste Idee, welches Kerntalent auf Sie zutreffen könnte. Um es genauer zu ergründen, brauchen Sie ein Gegenüber, dem Sie vertrauen, beispielsweise eine Freundin, Ihren Partner oder einen erfahrenen Coach. Das eigene Kerntalent selbst zu entdecken ist schwierig, weil es für uns meist ein blinder Fleck ist.
Es lohnt sich, die Sache möglichst konkret anzugehen. Eine vereinfachte Methode funktioniert wie folgt: Finden Sie drei kleine Projekte aus Ihrem Alltag, die Ihnen gut gelungen sind. Beispielhaft wären eine Urlaubsplanung, eine kleine Aufgabe am Arbeitsplatz und eine praktische Arbeit zu Hause. Nehmen Sie konkrete, positive Beispiele. Allgemeine Aussagen wie "Ich kann gut reden" oder "Ich bin ein Organisationstalent" funktionieren nicht.
Beispiel eins
Nehmen Sie das erste Beispiel und erzählen Sie Ihrem Gegenüber, wie Sie Schritt für Schritt vorgegangen sind. Exemplarisch könnte das bei Leuchtendesigner L. wie folgt klingen, wenn er seine Urlaubsplanung erklärt: "Ich stelle mir verschiedene Momente für meinen idealen Urlaub vor. So erkenne ich, worauf es mir ankommt: Das ganz besondere Licht von Sonnenauf- und Untergang mit Bergpanorama, entlegene und anspruchsvolle Wanderrouten, erstklassige vegetarische Küche und geschmackvolles Ambiente. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie sich vor dem Sonnenaufgang der Himmel verfärbt und ich einen kräftigen Cappuccino genieße. Auf diese Weise lasse ich alles wie einen inneren Film ablaufen. Die Bilder lösen in mir eine starke Vorfreude und Motivation aus. Ich suche im Internet und in Magazinen und lege meine Funde in einem Ordner ab, bis ich ein Hotel und Wandergebiet entdeckt habe, das meinen inneren Bildern entspricht."
Während Sie erzählen, notiert sich Ihr Gegenüber die wesentlichen Schritte, als wäre es eine Anleitung für andere. Verfahren Sie beim zweiten und dritten Beispiel genauso.
Beispiel zwei
Im zweiten Beispiel erzählt Herr L. von einer erfolgreich gelösten Aufgabe im Job: der Einstellung einer Assistentin, um selbst mehr Zeit für seine Entwürfe zu haben. "In Gedanken spiele ich verschiedene Situationen in meinem Arbeitsalltag durch. Dadurch habe ich die Tätigkeiten erkannt, die ich abgeben wollte: meine verschiedenen Entwürfe nach Projekten zu sortieren, Zeitpläne für die verschiedenen Projekte zu erstellen, Termine mit Kunden abzustimmen. Ich habe mir überlegt, wie meine zukünftige Assistentin ticken sollte, damit sie zu mir und meiner Arbeitsweise passt, und welche Qualifikationen sie mitbringen müsste. All das habe ich in einer Datei festgehalten. Vor meinem inneren Auge formte sich ein Ablauf im Büro, bei dem wir Hand in Hand arbeiteten, ich mich richtig wohlfühlte und meine Lust am Entwerfen aufblühte. In diesem Moment wusste ich, so muss es sein, und habe eine entsprechende Anzeige formuliert."
Beispiel drei
Im dritten Beispiel erzählt Herr L., wie er einen typischen italienischen Garten angelegt hatte: "Über längere Zeit habe ich mir immer wieder meinen italienischen Garten vorgestellt und mir viele Anregungen aus Zeitschriften angesehen. Auf diesem Weg habe ich herausgefunden, was mir ein Gefühl von italienischem Flair gibt: eine Pergola mit echtem Wein, helle Natursteinplatten, ein Springbrunnen im Stil der italienischen Renaissance, gelb blühende Silberakazien, die für die Toskana so typisch sind. In einem Büchlein habe ich alles gesammelt und notiert. Vor meinem inneren Auge hat sich so Stück für Stück mein perfekter Garten geformt. Ich konnte es kaum erwarten, endlich darin zu sitzen. Also habe ich eine Skizze angefertigt und alles umgesetzt."
Nachdem Sie also ähnlich wie Herr L. drei Situationen durchgespielt haben, werten Sie die Notizen aus: Markieren Sie die Aspekte, die in allen Beispielen vorkommen. Was fällt Ihnen auf?
Bei Herrn L. würde sich in allen drei Beispielen folgender Schritt zeigen: Vor seinem inneren Auge spielt er eine Aufgabe so lange durch, bis ihm klar wird, worauf es ankommt. Er notiert die wichtigsten Punkte für sein Vorhaben. Mit diesen Punkten dreht er einen inneren Film. Wenn alles für ihn passt, spürt er einen starken Impuls zur Umsetzung.
Vergleichen Sie, welchem der sechs Kerntalente Ihre Vorgehensweise zugeordnet ist. Nun richten Sie Ihren Fokus darauf: Überprüfen Sie im Alltag, welche Rolle dieses Kerntalent spielt und welche Wirkung Sie damit erzielen. So wie Herr L.: Nach Feierabend reflektiert er seine wichtigsten Aufgaben für diesen Tag. Er notiert die jeweilige Vorgehensweise. Es braucht ein wenig Übung, bis er sein Kerntalent in den Aufgaben wiederfinden kann. Dabei fällt ihm auf, dass er sich manchmal zu wenig Zeit nimmt, um seinen inneren Film zu drehen. Dann fühlt er sich orientierungslos, und die Dinge gehen schief. Seine wichtigste Erkenntnis: Wenn ich die zentralen Punkte kläre und meinen inneren Film drehe, gelingen mir die meisten Projekte mit Leichtigkeit.
So wächst Ihr Vertrauen in Ihr Kerntalent. Sie bekommen ein Gefühl dafür, was Sie täglich leisten und wie wertvoll Ihr Beitrag ist. Ihr Selbstvertrauen wird gestärkt, Zweifel und Ängste rücken in den Hintergrund.
Fazit
Wer weiß, was er richtig gut kann, dem gelingt es, Aufgaben, Projekte und Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass sein Talent optimal zur Entfaltung kommt. Er ist zufriedener und arbeitet effektiver mit anderen zusammen. Und er bekommt vielleicht eine Ahnung davon, was der rote Faden in seinem Leben sein könnte – und wo er ganz natürlich etwas bewegen kann.  © HBM 2019
Autor
Klaus Siefert ist Bankkaufmann und Betriebswirt. Er entwickelt seit 20 Jahren seine eigene Methode zum Aufspüren des Kerntalents.
