Der Ausgangspunkt von allem: Das Hemd
Das Hemd als großes Forschungsfeld liegt nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt brach.
Das beklagt der Intellektuelle Hans Magnus Enzensberger in seinem Buch „Eine Experten-Revue in 89 Nummern“, in dem er nicht nur einen Dialog zwischen der Natur und einem Unzufriedenen beschreibt, sondern auch Dinge des Alltags miteinander verwebt: Bierdeckel, Fahrräder, Hemden, Hüte, Nadeln, Papier, Taschen Tresore, Knöpfe und Hemden. Sie sind in der Regel unauffällig – häufig bemerkt man sie erst, wenn sie fehlen. Viele Experten, über die er schreibt, kannte oder kennt er persönlich - zum Beispiel die Putzmacherin, den Schachuhrenvertreter, den Herrenausstatter, den Sammler von Geldschränken und Ines Schamberger, die in München eine Maßschneiderwerkstatt in München betreibt. Vom Zuschnitt bis zum Annähen der Knöpfe werden hier Hemden in reiner Handarbeit angefertigt.
Ein Lob auf das Hemd findet sich auch im Buch „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“ des österreichischen Schriftstellers Karl-Markus Gauß. Nie hat er ein Hemd besessen, in dem er sich wohler fühlte „als in diesem blau, braun und violett gemusterten aus Flanell.“ Seine Frau hatte es in einem Geschäft für skandinavische Möbel und Alltagsdinge entdeckt. Gauß trägt dieses Hemd auf Fotos, auf denen seine Haare und sein Bart noch schwarz sind und auf denen er zwischen „daseinsfroh lächelnden Menschen“ zu sehen ist, die schon lange nicht mehr leben. „Später wurde es ein Alltagshemd, nach dem ich wie von selber griff, wenn ich den Kleiderkasten öffnete, das Hemd, in dem ich meine ersten Bücher schrieb.“ Bei ihm kommt noch ein wesentlicher Nachhaltigkeitsaspekt hinzu, denn er wird dieses Hemd nicht einfach in die Mülltonne werfen, sondern sorgsam zerteilen. Mit den entstehenden Lappen wird er in den nächsten Jahren seine Schuhe eincremen. Zwar wird das von seinen Freunden belächelt, aber es ist „die fast eine einzige Handarbeit“, die ihn mit Freude erfüllt.
Wer heute auf Nachhaltigkeit Wert legt, achtet auch auf das Hemd, das meistens direkt auf der Haut getragen wird – hier wollen die meisten Menschen ein Naturmaterial fühlen.
An heißen Tagen wird häufig auf einen luftdurchlässigen Materialmix aus Bio-Leinen und Bio-Baumwolle gesetzt, der GOTS-zertifiziert und für Veganer geeignet ist (Quelle: memolife). Auch in der Öko-Szene ist das Hemd nicht nur perfekt für den Alltag, sondern eignet sich auch als edles Oberteil – ein Allrounder. Vielleicht hat es das Hemd Enzensberger und Gauß auch besonders angetan, weil es kein reduzierteres und stilvolleres Kleidungsstück - das zu jedem Anlass und jeder Jahreszeit passt - für den männlichen Oberköper gibt. „Im Grunde ist das weiße Hemd die Grundierung des Mannes.“ (Christian Mayer) So schätzte es der spanische Sänger Julio Iglesias beispielsweise sehr, vor jedem Auftritt ein noch ungetragenes Hemd aus der Verpackung zu nehmen. Für Karl Lagerfeld war es der schönste Moment des Tages, morgens ein frisch gebügeltes und gestärktes Hemd auseinanderzunehmen und es anzuziehen. Sein legendäres weißes Hemd trug er meistes mit einer schwarzen Seidenkrawatte. Wer von ihm wissen wollte, was er sich wünschte, entworfen zu haben, dem antwortete er: das weiße Hemd. „Ein Hemd ist der Ausgangspunkt von allem. Alles andere kommt danach.“
Für die Maßanfertigung bei Hilditch & Key gab er viel Geld aus, auch bestellte er beim britischen Hemdenschneider in der Rue de Rivoli in Paris Hemden mit einzigartigen Offizierskragen. Ein „anständiges Männerhemd“ musste seiner Meinung nach hinten mit drei Falten gebügelt werden. „Damit das Zeug gut sitzt. Das sind keine Abnäher!“ Der Mann, der das für ihn machte, nannte sich „Les Spécialistes des trousseaux de l’homme“. In Biarritz übernahm das eine alte Dame, die diese Kunst auch jungen Menschen vermittelte. In den 1990-er Jahren kleisterte man die Stoffe noch mit Kunstharz gegen Knitterfalten zu.
Im Herbst 2019 präsentierten zahlreiche Kreative im Rahmen des Projekts "A Tribute to Karl: The White Shirt Project" ihre persönliche Interpretation des ikonischen Lagerfeld-Hemds. Kuratiert wurde es von seiner Stilistin Carine Roitfeld, die verschiedene Mode-VIPs wie Diane Kruger, Tommy Hilfiger, Kate Moss, Cara Delevingne, Amber Valletta, Lewis Hamilton, Alessandro Michele, Sébastien Jondeau und Takashi Murakami dazu einlud, ihre eigenen Versionen des Lagerfeld-Hemds zu entwerfen. Aus den Designs wurden sieben ausgewählt und je 77 Mal hergestellt. Verkauft wurden sie für wohltätige Zwecke zu einem Einheitspreis von EUR 777. Die Sieben war Lagerfeld Lieblingszahl (sein bevorzugter Stadtbezirk in Paris, 7. Arrondissement, Namen seiner Buchhandlung und seines Verlagshauses, 7L für 7 rue de Lille). Der gesamte Erlös aus dem Projekt wurde ging an die französische Stiftung "Sauver la Vie", die medizinische Forschungsprojekte an der Pariser Universität Descartes finanziert und von Lagerfeld jahrelang stillschweigend unterstützt wurde.
Weiterführende Informationen:
Joachim Bessing: Karl Lagerfeld – „Ich schaue nie in den Nachbargarten“. Interview in gekürzter Form zuerst 2003 erschienen in GQ.
Hans Magnus Enzensberger: Eine Experten-Revue in 89 Nummern. Suhrkamp Verlag Berlin 2019.
Karl-Markus Gauß: Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019.
Alexandra Hildebrandt und Nicole Simon: KARL. Reflections. Kindle Edition 2020.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Christian Mayer. Mann braucht nicht mehr. In: Süddeutsche Zeitung (27./28.7.2019), S. 58.