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Der Biophilia-Effekt: Wie die Liebe zum Lebendigen unsere Gesellschaft verändert

Liebe zu allem Lebendigen

Den Begriff „Biophilie führte der US-deutsche Analytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm bereits Mitte der 1960er-Jahre ein. Doch erst seit einigen Jahren etabliert sich der Begriff als Bezeichnung für ein gesellschaftliches Phänomen. Der österreichische Biologe und Autor Clemens G. Arvay ist ein namhafter Fürsprecher des „Biophilia-Effekts“ (so auch der Titel seines gleichnamigen Buches von 2015), der besagt, dass der Naturkontakt im Menschen angelegt ist und ihn gesund hält. In seinem Buch „Biophilia in der Stadt“ verweist er darauf, dass die Grenzen zwischen drinnen und draußen künftig immer mehr verschwinden werden: Hausfassaden werden von vertikalen Gärten bewachsen sein, und natürliche Baumaterialien werden eine Renaissance erleben. Auch der Ökolandbau wird in den Metropolen seinen angestammten Platz haben.

Dass die Biophilie auch in die Arbeitswelt „einzieht“, zeigt das Beispiel Amazon: In The Spheres auf dem Amazon-Campus im Zentrum von Seattle können Mitarbeiter in Baumhäusern, in Sitzbereichen unter mehr als zwölf Meter hohen Bäumen zusammenkommen. Außerdem gibt es Pfade entlang rauschender Wasserfälle. Im Mittelpunkt stehen Pflanzen, Bäume, Sonnenlicht, Erde und Wasser. Viele Pflanzen wurden aus botanischen Gärten, Baumschulen und Naturschutzprogrammen aus aller Welt zusammengetragen.

Auch der Firmenstandort der memo AG in Greußenheim westlich von Würzburg liegt „auf der grünen Wiese“. Daran angrenzend hat die Gemeinde ein kleines Biotop angelegt. Im Nachhaltigkeitsbericht des Unternehmens sind Hintergrundinformationen zum „Naturgarten“ rund um das Firmengebäude zu finden: Er ist mit einheimischen Wildblumen, Sträuchern und Bäumen bepflanzt. Ein Teil der Wiese wird gemäht, der andere nicht, um Insekten wertvollen Lebens- und Nahrungsraum zu geben.

Warum biophiles Design mehr als ein Trend ist

Studien belegen, dass Räume, die biophiles Design beinhalten, die Kreativität anregen und die Gehirnfunktion verbessern können. Das neue Industriedesign orientiert sich an der nachhaltigen Entwicklung, indem es Materialien nutzt, die bereits vorhanden sind. Besonders Pilze stellen eine Alternative zu herkömmlichen Kunststoffen dar. Beliebt bei biophilen Designern ist das Myzel, das unterirdisch wachsende Wurzelgeflecht von Pilzen, das beispielsweise für die Herstellung von Pilz-Leder genutzt werden kann: Durch Zugabe von Abfallprodukten wie Maisschalen oder Sägespänen entsteht ein lederartiges Material. Das vegane Leder lässt sich bedrucken und mit verschiedenen Farben und Mustern versehen. Pilz-Leder ist reißfest, wasserabweisend und umweltfreundlich.

„Fashioned from Nature“ war auch der Titel der Modeausstellung des Londoner Victoria and Albert Museum. Hier wurde gezeigt, was aus der Natur geschaffen bedeutet: Schaf- und Ziegenhaar wird zu Wolle, Flachs wird zu Leinen etc. Alles verwandelt sich in einem natürlichen Kreislauf. Der britische Möbeldesigner Sebastioan Cox, der 2010 sein Studio 2010 gegründet hat, fertigt Lampen aus einem Gemisch aus Myzelien und Holzspänen. Er ist davon überzeugt, dass vor allem junge Designer das bestehende System verändern müssen, indem sie sich mit nachhaltigen Materialien beschäftigen. Auch der dänische Designer Jonas Edvard setzt auf Pilzmyzel. Es entwickelt sich auf einer Basis aus wiederverwertbaren Hanffasern zu einem haptisch angenehmen, lebenden Textmaterial, das innerhalb von zwei bis drei Wochen zur gewünschten Lampenform heranwächst.

Das ist für viele Designer kein Trend, sondern eine Notwendigkeit, denn unsere Ressourcen sind endlich. Das zeigt sich auch im globalen Bauwesen: Hier droht Sand, ein wichtiger Zuschlagstoff für Beton, in einigen Regionen bald auszugehen. Deshalb widmen sich Wissenschaftler am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und der Eidgenössichen Technischen Hochschule Zürich Alternativen zu konventionellen Materialien und erforschen den Einsatz von Pilzmyzelium oder Bambus in der Architektur. Solche wiederverwertbaren Baustoffe könnten in Zukunft konventionelle Materialien wie Stahl und Beton ersetzen. Das Myzel nutzt auch das Institut Fraunhofer UMSICHT schon länger für seine Arbeit: Wird das pilzbasierte Material zusätzlich gepresst, erreicht es einen ähnlichen Härtegrad wie Sperrholz und lässt sich auch für den Bau stabiler Möbel verwenden.

Die neuen Entdecker

Viele Vertreter der Generation Y sind der Natur (noch) nicht entfremdet: Nicolas Bogislav von Lettow-Vorbeck, geboren 1984 in Düsseldorf, erforschte von früher Kindheit an leidenschaftlich die Natur. Er stammt aus einem pommerschen Adelsgeschlecht, das 1330 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Sein Großvater Gerd von Lettow-Vorbeck war Jagdschriftsteller. Seit Abschluss seines Medienmanagement-Studiums im Jahr 2013 schreibt er für Zeitschriften wie „Yps“, „Landlust“, „P.M.“ oder „GartenFlora“. Sein Wissen über Tiere eignete er sich parallel zum Studium autodidaktisch an: „Wenn man für eine Sache Feuer und Flamme ist, dann lernt man auch komplexe Dinge ohne großen Aufwand.“

Mit seinem Buch „Stadtwild“ lädt er dazu ein, Entdecker zu werden und plädiert für „analoge Zeitinseln“: „Im Meer der digitalen Reizüberflutung helfen sie uns durchzuatmen, zu uns zu finden und wieder gestärkt in den Alltag zurückzukehren.“ Wenn Nicolas Bogislav von Lettow-Vorbeck einmal im Unreinen mit sich ist, beruhigt und versöhnt ihn die Naturbeobachtung. In seinen Streifzügen hat er nie Tiere gefunden, die er gesucht hat – genau das hat seinen Horizont enorm erweitert. Die Liebe zu den Tieren hat für ihn auch mit Wildheit und Ursprünglichkeit zu tun, die wir in uns selbst vermissen

Natur ist nicht nur das, was man sieht, wenn man am Wochenende aufs Land fährt. Claudia Fromme zeigt in ihrem SZ-Beitrag über Natur und Artenvielfalt, dass Menschen wie der urbane Vogelbeobachter David Lindo Städtern einen neuen Blick auf das Leben vor ihrer Haustür zu eröffnen. Er war DJ und machte Werbefolme – heute nennt er sich „Urban Birder“ (sein gleichnamiges Buch erschien gerade im Kosmos Verlag) und wirbt für eine andere Terra incognita: die Stadt. Wenn er sie besucht, sieht er, was ein Vogel sieht: „verstreute Waldgebiete, Nistplätze, Felsen.“ In der Stadt gibt es häufig mehr Insekten, weil hier nicht gespritzt wird und eine Vielzahl von Vögeln anzieht. Lindo empfiehlt, einige Minuten am Tag in den Himmel statt aufs Handy zu blicken und auf Vogelstimmen zu hören – dann sei man ein anderer Mensch.

„Das Schlimme ist ja, dass niemand den Gesang der Lerchen frühmorgens über den Fluren vermisst, der ihn nicht mehr erlebt hat“, schreibt der Naturforscher Josef H. Reichholf in seinem Lebensrückblick „Mein Leben für die Natur“. Der Titel steht für das, woraus er so viel Freude geschöpft hat: Tiere, Pflanzen und ihre Lebensräume. Auch Reichholf bezeichnet sich wie der Sänger der norwegischen Band a-ha, Morten Harket, als Entdecker. Der Begriff hat bei beiden nichts mit Eroberungen zu tun, sondern mit der Art und Weise des persönlichen Erlebens: Erst, wer sich in die Natur versenken (und damit nicht mehr aufhören) kann, wird in ihr fündig, sieht unablässig Neues und Überraschendes.

Im Suhrkamp Verlag erschien der „Wegweiser durch die urbane Pflanzenwelt“: „Die Blüten der Stadt“ von Paul Philipp Hanske. Mit der App „Der Kosmos Vogelführer“ für Smartphones und Tabletts lassen sich alle Vogelarten Europas bestimmen. Diese Entwicklungen bilden den Wunsch vieler Städter ab, wieder näher an die Natur zu rücken, weil sie den direkten Kontakt zu ihr verloren haben. Sie bleiben optimistisch, weil es das Leben und die Natur selbst auch sind.

Weiterführende Informationen:

Clemens G. Arvay: Biophilia in der Stadt Wie wir die Heilkraft der Natur in unsere Städte bringen. Goldmann Verlag, München 2018.

Nicolas Bogislav von Lettow-Vorbeck: Von Amsel bis Zauneidechse. 99 Tiere, die man in der Stadt entdecken kann. Eden Books. Hamburg 2018.

Claudia Fromme: Wild in der City. In: Süddeutsche Zeitung (5./6.5.2018), S. 53.

Susanne Meyer: Grüne Coolness. Wie die Natur unsere Moxde bestimmt – eine große Ausstellung in London. In: DIE ZEIT (26.4.2018), S. 49.

Josef H. Reichholf: Mein Leben für die Natur. Auf den Spuren von Evolution und Ökologie. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015.

Julia Rothhaas: Die neue Wachstumsbranche. In: Süddeutsche Zeitung (28./29.4.2018), S. 55.

Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Gut in Mode: Wissenswertes über nachhaltige Bekleidung und Textilien. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Circular Thinking 21.0: Wie wir die Welt wieder rund machen (mit Claudia Silber) Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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