Der Blick zurück: Was uns die Vergangenheit über unser Selbstwertgefühl verrät
Das Selbstwertgefühl ist ein zentraler Baustein unserer Psyche, und vor allem unsere frühen Bindungen haben einen maßgeblichen Einfluss darauf, wie es sich zunächst entwickelt. Dabei liegt es in unserer Hand, unseren Selbstwert zu stärken. Zu welcher Selbsterkenntnis wir dafür gelangen müssten.
„Du allein bestimmst, ob du wert-voll oder wert-los sein willst“, sagt die Lyrikerin Gudrun Kropp. Dass die Realität anders aussieht, zeigen die Ergebnisse einer aktuellen Studie des Meinungsforschungsinstituts YouGov und des Jobportals Indeed. Demnach hängt in Deutschland das Selbstwertgefühl im Job vor allem von der Wertschätzung der Vorgesetzten ab, das Gehalt sei dabei sekundär.
Wenn man bedenkt, dass bei der hier vorherrschenden Führungskultur ausbleibende Kritik oft die größte zu erwartende Wertschätzung ist, eine fatale Bilanz. Aber vielleicht eine Erklärung für das bescheidene Selbstbild der Deutschen. So sieht der Deutsche bei sich sechs wichtige Persönlichkeitsmerkmale weniger ausgeprägt, als es der US-Amerikaner tut.
Vor dem Hintergrund dieser erhobenen Daten möchte ich betonen, dass es so gut wie keinen Zusammenhang zwischen dem subjektiv empfundenen Selbstwert und unseren objektiven Fähigkeiten gibt. Das Selbstwerterleben wird wesentlich durch die Qualität der Bindungserfahrungen bestimmt und ist somit hochgradig willkürlich, auch wenn sich das für viele ganz anders anfühlen mag.
Meine Klientin Johanna etwa hat das Gefühl, dass sie in ihrem Leben nicht allzu viel geleistet hätte, worauf sie stolz sein könne, und ordnet ihre Fähigkeiten auf einer Skala von eins bis zehn grundsätzlich im unteren Bereich ein. Fälschlicherweise, wie ich durch die Therapiearbeit mit Johanna weiß. Sie verfügt über zahlreiche wertvolle Kompetenzen, die sich ihr aufgrund ihres labilen Selbstwertgefühls nicht offenbaren. In unseren Sitzungen begleiten Johanna einfache, aber wirkungsvolle Übungen auf dem Weg zu einem starken, resilienten Ich.
Eine Frage der Verbundenheit
Vom Grundstein für das spätere Selbstwerterleben
Unser Selbstwert bestimmt nicht nur unser Lebensgefühl, er ist auch häufig verantwortlich für Probleme in unserem Alltag. Man könnte sagen, dass unser Selbstwert das Epizentrum unserer Psyche ist. Es bestimmt darüber, ob wir uns mit anderen Menschen auf Augenhöhe fühlen oder uns häufig als unterlegen wahrnehmen. Unser Selbstwertgefühl beeinflusst außerdem maßgeblich, ob wir uns selbst und anderen Menschen vertrauen können oder sehr viel Kontrolle benötigen.
Dabei sind es die Erfahrungen, die wir mit unseren Eltern in Bezug auf die Themen Bindung und Autonomie gemacht haben, die ganz wesentlich unser Selbstwertgefühl beeinflussen. Denn durch das Verhalten unserer Eltern haben wir gelernt, ob wir geliebt werden und willkommen sind oder nicht. Diesen Prozess nennen wir in der Psychologie gespiegeltes Selbstwerterleben. Wenn die Mutter das Kind zum Beispiel anlächelt, ist dies für das Kind, als halte man ihm einen Spiegel vor, der zeigt, dass sich die Mutter über das Kind freut.
Johannas Mutter konnte ihrer kleinen Tochter diese Freude nicht so deutlich spiegeln. „Solange ich mich erinnern kann, war meine Mutter meist erschöpft, auch überfordert“, erfuhr ich in einem unserer Gespräche. „Schließlich hat sie mich allein großgezogen und musste viel arbeiten. Sie war sicher oft am Ende mit ihrer Kraft, denn ich war als Kind bestimmt nicht wenig anstrengend.“
Letztlich geht es um Erfahrungen von Verbundenheit. Wo auch immer wir uns von unseren nächsten Bezugspersonen unverstanden, nicht richtig wahrgenommen, alleingelassen oder wenig geliebt gefühlt haben, wurde unser Bedürfnis nach Verbundenheit verletzt. Wir tendieren dann dazu, uns selbst abzuwerten, statt uns zu behaupten. Dabei ist das gespiegelte Selbstwertempfinden eine tiefe Konditionierung, die ein Leben lang anhält.
Wenn wir beispielsweise in unglücklichen Partnerschaften einen scheinbar negativen Selbstwert gespiegelt bekommen, ist es deshalb wichtig, dass wir uns aktiv aus diesem Selbstwertspiegel herausnehmen. Und das gelingt, indem wir uns die Zusammenhänge bewusst machen. Wenn Johanna von ihren schwierigen Beziehungen zu ihren Kollegen erzählt, denen gegenüber sie grundsätzlich ein Unterlegenheitsgefühl empfindet, bitte ich sie, einmal tief in sich hineinzuspüren und folgende Fragen zu beantworten:
1. Welche Gefühle – angenehme wie schmerzliche – kommen in dir auf, wenn du an deine Erfahrungen mit deinen Eltern denkst?
2. Inwiefern haben diese Gefühle und diese Erfahrungen, die du mit deinen Eltern gesammelt hast, dein Selbstwertgefühl beeinflusst?
3. Bist du dir eine gute Freundin, ein guter Freund? Magst du dich? Fühlst du dich im Großen und Ganzen okay? Oder magst du dich nicht, empfindest du Selbstzweifel, Schamgefühle oder gar Selbsthass? Notiere dein gefühltes Selbstwerterleben
Wenn Johanna Schwierigkeiten hat, ihre Gefühle wahrzunehmen, bitte ich sie, ihre Aufmerksamkeit auf ihren Brust-Bauch-Bereich zu lenken, wo sich unsere Emotionen bemerkbar machen. Wie fühlt es sich dort an?
Zeit zum Innehalten
Den Selbstwert in die eigenen Hände nehmen
Der Blick zurück in die Vergangenheit verhilft uns also zu der Erkenntnis, dass wir häufig nur einen gespiegelten Selbstwert mit uns herumtragen, der in der Regel nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat. Nach dieser bedeutsamen Selbsterkenntnis geht es im nächsten Schritt darum, sich aus der Vergangenheit zu befreien, um Selbstheilung zu erfahren. Denn wenn auch unsere Gedanken noch von unserer Erinnerungen geprägt sind, so sind wir dennoch nicht unsere Vergangenheit.
Deshalb sollten wir aufhören, uns mit diesen negativen Gedanken zu identifizieren. Sie sind eine Konstruktion in unserem Kopf und die negativen Gefühle, die wir empfinden, sind Reaktionen auf dieses Kopfkino.
An dieser Stelle ist es ratsam, einen Moment innezuhalten und sich zu fragen, wie unsere Einschätzung des Selbstwertes unserer Mutter bzw. unseres Vaters unser eigenes Selbstwerterleben beeinflusst hat. Wie viel von ihnen haben wir im positiven wie auch im negativen Sinne in unser Selbstwerterleben aufgenommen? Johanna bitte ich immer, jene Anteile, die eigentlich nicht zu ihr, sondern zu ihrer Mutter gehören, ganz freundlich zurückgeben. Hat ihr beispielsweise ihre Mutter eine hohe Angepasstheit in Verbund mit Ängstlichkeit in sozialen Kontakten vorgelebt, dann möge sie ihr diesen Anteil freundlich zurückgeben und ihn vor ihrem inneren Auge bei der Mutter belassen. So sollten wir mit allen Anteilen, die wir bei unseren Eltern belassen und nicht in unser Leben übernehmen möchten, verfahren.
Auch spätere Erlebnisse können unser Selbstbild noch in die eine oder in die andere Richtung verändern. Dies kann im negativen Sinne geschehen, wenn wir etwa zu Schulzeiten viele Hänseleien erfahren oder als Erwachsene im Job eben nicht die Anerkennung erfahren, für die wir hart arbeiten.
Wenn wir negative Erfahrungen gemacht haben, die unseren Selbstwert schmälern, sollten wir uns fragen: Was sagt das Verhalten der anderen Menschen wirklich über meinen Wert aus? Wir drehen den Spiegel wieder um, so wie wir es gerade mit unseren Eltern getan haben. Nun zeigt er auf jene Menschen, die uns verletzt haben. Es ist ein Spiegel für ihr Verhalten und nicht für unseren Wert.
Hält Johanna ihren Kollegen den Spiegel vor, ist sie manchmal unsicher, ob sie nicht einige Konfliktsituationen mit verschuldet haben könnte. Ich bitte sie dann, mit Abstand und rein aus dem Verstand zu analysieren, welche Anteile das sein könnten und für diese Anteile die Verantwortung zu übernehmen. Dafür braucht sie nur zu sich zu sagen: Ja, so war das.
Wenn wir im Selbstwertspiegel gefangen sind, legen wir unseren Selbstwert in die Hände der anderen und machen uns von deren Zustimmung abhängig. Wenn wir aber selbst die Verantwortung für unsere Entscheidungen übernehmen, auch und vor allem dann, wenn sie kontraproduktiv waren, liegt unser Selbstwert wieder in unseren Händen. Und nur dort können wir ihn stärken.