Der Degag‑Kollaps und der Mann, der den Leerstand liebt
Den Gläubigern der Immobiliengruppe Degag drohen Verluste von bis zu einer halben Milliarde Euro. Recherchen führen zu einem Berater, der im Hintergrund agiert und im Luxus lebt.
Hannover, Berlin. Am deutschen Wohnungsmarkt feiert kaum jemand Leerstand so euphorisch wie Immobilieninvestor Birger Dehne. „Aktuell ist es so, dass Leerstand Gold ist“, erklärte Dehne den Vertriebskräften der Deutsche Grundbesitz Holding AG (Degag) im Oktober 2024.
Die Degag sei in einer „genialen Situation“, sagte Dehne, der die Firmengruppe aus Hannover mit aufgebaut hat und heute als ihr Berater arbeitet. Mit jeder Neuvermietung könne das Unternehmen die Mieten verdoppeln oder zumindest deutlich anheben.
Zwei Monate nach der Rede meldete die Degag-Dachholding samt mehreren Töchtern Insolvenz an. Eine Katastrophe bahnt sich an. „Wir haben nicht eine Gesellschaft vorgefunden, bei der Gläubiger jenseits der Grundpfandsicherheiten hoffen dürfen“, sagt der vorläufige Insolvenzverwalter Rainer Eckert aus Hannover. Er schätzt, dass insgesamt bis zu einer halben Milliarde Euro fehlt, die aus Anlegergeldern und Bankkrediten stammen.
Die Justiz prüft, wohin das viele Geld geflossen ist. Die Staatsanwaltschaft Hannover ermittelt gegen sieben aktuelle und ehemalige Führungskräfte wegen Betrugsverdachts, äußert sich aber nicht zum Verfahren. Bei der Kriminalpolizei soll sich eine eigene Ermittlungsgruppe um die Degag kümmern.
Der Kapitalmarktjurist Jens Reime aus Bautzen vertritt 400 Anleger und will wissen, was genau im Unternehmen schiefgelaufen ist. „Einzelne haben bis zu zwei Millionen investiert“, sagt er. Seinen Mandanten sei nicht klar, was mit dem Geld geschehen sei. „Wir werden überall Ansprüche auf Schadensersatz anmelden“, kündigt Reime an.
Wer trägt die Verantwortung für die massiven Verluste? Formal scheint die Sache einfach. Die Degag hatte 2024 zwei Vorstände: Bernd Klein (64) und bis Juli auch Hans-Peter Hierse (71). Interne Unterlagen sowie Aussagen von Mitarbeitern lassen vermuten, dass Dehne bei der Pleite eine wichtigere Rolle spielte, als sein Beraterjob vermuten lässt. Es gibt Insider, die sagen, der Berater habe viele Fäden gezogen.
Für das Handelsblatt war Dehne zunächst schwer zu erreichen. Seine Handynummer schien abgeschaltet. Ihn zu besuchen, ist nicht möglich. Selbst enge Wegbegleiter wissen nicht, wo er sich zurzeit aufhält. Vielleicht im Hochhaus Burj al Arab in Dubai, sagt einer. Vielleicht auf seiner Jacht in Monaco, sagt ein anderer. Das Schiff wurde indes vor wenigen Tagen vor der tunesischen Küste gesichtet.
Den Aufenthaltsort hat auch der Hamburger Anwalt nicht verraten, der für Dehne auf Fragen des Handelsblatts geantwortet hat. Der Recherche lägen „unvollständige“ und „irreführende“ Angaben ehemaliger Degag-Vorstände zugrunde, schreibt der Anwalt. Sie versuchten von ihrer Verantwortung abzulenken und „unseren Mandanten in ein falsches Licht zu rücken“.
Ende Oktober, als sich Dehne in der Videoschalte zu Wort meldete, trug er schwarzen Rollkragen und gestreiften Anzug. Er erinnerte entfernt an einen jungen Nicolas Cage. Eine Uhr, vermutlich eine Patek Philippe Nautilus, blitzte am Handgelenk. Modelle dieser Reihe kosten schnell mehr als 100.000 Euro.
„Einige Gesichter, die ich so sehe, erfreuen mich immer, nach so langer Zeit, nach so vielen Jahren, mal wieder zu sehen“, eröffnete Dehne die Konferenz und stellte sich als „Immobilienberater“ vor. Was wie ein Understatement wirkte: Mehr als ein Jahrzehnt war er viel mehr: Dehne entwickelte das Geschäftsmodell der Degag: Altbau‑Blöcke kaufen, sanieren, neu vermieten, dann an institutionelle Investoren veräußern.
Brookfield-Deal spülte 82 Millionen in die Kasse
In den Boomjahren lief das Geschäft offenbar gut. 2021 übernahmen der kanadische Investor Brookfield und ein Family-Office die Hälfte der Degag‑Assets – angeblich für einen dreistelligen Millionenbetrag. Viele Anleger wurden ausbezahlt, Dehne kassierte ebenfalls. Fast 82 Millionen Euro Jahresüberschuss wies die Degag Deutsche Grundbesitz AG aus, deren Aktien Dehne gehörten. Er benannte die Firma in Lakonie RE um und zog sie aus der Gruppe heraus.
Das Geschäft führte Vorstand Klein mit einer ähnlich klingenden Gesellschaft weiter: Degag Deutsche Grundbesitz Holding AG. Das Zusatzwort „Holding“ machte den Unterschied. Klein brachte IT‑ und Verwaltungsexpertise ein, der zweite Vorstand Hierse war der Vertriebsfachmann. Zur Rolle von Dehne bei der neuen Degag gibt es nun zwei Versionen, die sich widersprechen: Die Sicht der Vorstände und die Sicht von Dehne.
Die Immobilienentscheidungen sollte laut Klein weiter Dehne treffen. „Er hat sich lediglich seiner bisherigen formalen Stellung als Vorstand und Geschäftsführer entledigt“, sagt Klein im Gespräch mit dem Handelsblatt. Klein betont, weder er noch Hierse hätten „Einfluss auf das eigentliche Kerngeschäft“ gehabt. Dehne sollte Auswahl der Objekte, Finanzierung und Verkäufe steuern. Klein: „Ohne ihn lief auch seit 2021 praktisch nichts.“
Als Vorstand habe er fertige Unterlagen zur Unterschrift erhalten, sagt Klein. „Ich wurde immer erst von Herrn Dehne informiert, wenn ich irgendwo einen notariellen Vertrag zu unterzeichnen hatte.“ Mieterlisten, Prognosen, Zahlungsvereinbarungen – alle Angaben kamen von Dehne oder dessen Team. Er habe diese Arbeitsteilung nie hinterfragt, sagt Klein: „Ich hätte das auch nicht besser machen können.“
Der Anwalt des Vertriebsvorstands Hierse sagte: „Herr Hierse hatte keinen Zugriff auf die Finanzen der Degag.“ Er sei „im Machtsystem von Birger Dehne“ außen vor gehalten geworden.
Dehnes Jurist bestreitet die Version der Vorstände: „Die Behauptung, unser Mandant habe als eine Art faktischer Vorstand der Degag-Gruppe agiert, ist unzutreffend und entbehrt jeder sachlichen Grundlage.“ Die Vorstände hätten „eigenständig“ entschieden. Sie seien den „Empfehlungen“ des Beraters längst nicht immer gefolgt.
Im Dezember blieben die Zahlungen aus
Ab 2021 verschlechterte sich das Umfeld für die Immobiliengeschäfte. Der Ukrainekrieg ließ die Zinsen steigen. Die Bilanz der Degag für 2022 zeigte einen Verlust von zwei Millionen Euro.
Die Degag finanzierte ihre Objekte mit Bankkrediten und sogenannten Genussrechten, die Privatanleger zeichneten. Die Anleger sollten dafür jährlich zwischen sechs und neun Prozent Zinsen erhalten. Ihr Risiko war hoch: Die Degag konnte Ausschüttungen aussetzen, sobald die Emissionsfirmen in ihrer Existenz gefährdet waren.
Monatlich flossen 2,5 bis vier Millionen Euro an die Anleger, bis Vorstand Klein im Dezember die Zahlungen „bis auf Weiteres“ stoppte. Grund sei eine geplatzte Refinanzierung gewesen, teilte das Unternehmen mit. Wenige Wochen später stellte Klein Insolvenzanträge.
Er sei im Dezember kalt überrascht worden, sagt Klein, weil ihm der Einblick in zentrale Konten gefehlt habe. Anlegergelder und Mieten seien auf Zwischengesellschaften außerhalb seines Zugriffs transferiert worden. In der Schweiz soll ein Vertrauter von Dehne rund 80 Konten verwaltet haben. Die Buchhaltung habe, so Klein, im Prinzip im Ausland gelegen.
„Externer Mitarbeiter“ mit besonderer Aufgabe
Klein spricht von einem „Rangierbahnhof in beide Richtungen“, bei dem die Züge lange pünktlich gefahren seien. Wenn seine Liquiditätsplanung Geld erforderte, habe er sich bei Dehne oder dessen Mitarbeitern gemeldet, sagt Klein. Diese hätten dann bis Dezember „für die nötigen Mittel auf den Konten der Anlagegesellschaft gesorgt“.
Dehnes Anwalt widerspricht: Es treffe nicht zu, dass Dehne auf Bankkonten der Degag-Gruppe habe zugreifen können oder „in irgendeiner Weise“ Zahlungen veranlasst habe. Die Vorstände hätten auf sämtliche „bankseitigen Verfügungswege“ zugreifen können, „unabhängig davon, ob im Alltag die technische Ausführung durch Überweisungen durch Dritte erfolgte“.
Der Anwalt bestätigt, dass „ein externer Mitarbeiter“ die Zahlungsabwicklung gesteuert habe. Es habe sich um einen Duz-Freund der Vorstände gehandelt, dem diese vertraut hätten. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Mitarbeiter Nachrichten auf einer E-Mail-Adresse der Capiterra-Gruppe empfing, die Dehnes Vermögen und seine Immobilienbestände verwaltete.
Im Dezember habe ihn Dehne dann hingehalten, so berichtet Klein weiter. Neue Verkäufe sollten Geld bringen. „Allerdings teilte mir Herr Dehne nach Ablauf des 10. Januar mit, dass es diese große Lösung nicht geben werde und er auch privat nicht bereit wäre, Geld in die Gruppe zu geben.“ Die Aussage sei schwer nachvollziehbar, sagt Dehnes Anwalt dazu. Die Degag habe den Berater bis Ende 2024 beauftragt, Lösungen mit Banken zu sondieren und Käufer für die Bestände zu identifizieren.
Schrottimmobilien statt sanierter Wohnungen
Was noch verkäuflich war, hatte am Markt einen schlechten Ruf. Zum Portfolio gehörten rund 5000 Wohnungen und 1000 Garagen. SWR und MDR zeigten in TV-Beiträgen Schimmelwände, vermüllte Flure und frustrierte Mieter.
Und Dehne entschied offenbar, wie die Degag auf die Presseanfragen reagieren sollte. Als ihn im Januar 2023 die Fragen einer Redakteurin der Sendung „Report Mainz“ erreichte, schrieb er einem Presserechtsanwalt: „fyi und bitte um Rücksprache, ich würde da gern gegenhalten.“
Birger Dehne nimmt auch keinen Einfluss auf Entscheidungen der Degag.Von Dehne genehmigte Antwort auf eine Presseanfrage des SWR
Die Fragen der Journalistin drehten sich um Wasserschäden, defekte Heizungen und Ratten. Die Vorwürfe seien zu vage, wiegelte die Degag ab. Die Reporter sollten zunächst genau benennen, welche Wohnungen gemeint seien. Ein Hinweis war Dehne offenbar wichtig: „Birger Dehne übt keine operative Funktion aus und nimmt auch keinen Einfluss auf Entscheidungen der Degag.“
Was die Antwort indes verschwieg: Dehne hatte den Text mit dem Anwalt abgestimmt, bis er selbst zufrieden war. „super, denke das passt so“, hatte der dem Juristen schließlich geschrieben und ihn angewiesen: „Bitte an Herrn Klein weiterleiten mit der Angabe, wohin er antworten soll.“ Fragen zu dem Mailverkehr ließ der Pressejurist von Dehne unbeantwortet.
Als Dehne Ende Oktober vor den Vertriebsleuten die Vorteile des Leerstands beschwor, kanzelte er kritische Medien kategorisch ab. Diese mögen „sich den Füller zerreißen.“ Viele Wohnungsbestände seien deshalb nicht schön, weil sie gekauft wurden, „um den Leerstand erst einmal auf ein Level zu bringen, sodass sich auch eine Komplettsanierung lohnt“.
Nur: Wenn viele Häuser noch immer marode sind – wo sind dann die 280 Millionen Euro geblieben, die für Sanierungen vorgesehen waren? „Kaufnebenkosten wurden bezahlt. Grunderwerbssteuer, Makler, Notar, Eintragungskosten. Und natürlich die Kaufpreise“, erzählt ein Insider, der eng in die Geschäfte eingebunden war. Die Personalkosten seien riesig gewesen. Auf die Frage, wer den besten Überblick habe, antwortet er: „Herr Dehne kann natürlich zu allem was sagen.“
Dessen Jurist bestreitet das. Dehne habe lediglich aus einem „klar umrissenen“ Beratungsverhältnis agiert und nur auf Ebene der Projektgesellschaften. Zu den Investorengeldern könne er nur sagen, dass Anlegermittel in Immobilien der Degag geflossen seien – und das auch nur für Geschäfte, „die er mitbekommen hat“. Der Anwalt sagt: Hierse und Klein hätten sämtliche Kapitalmarktprodukte „eigenverantwortlich konzipiert“ und mit Vertriebspartnern „an den Markt gebracht“.
Es ist eine Herausforderung, die Strukturen zu verstehen. Die Degag ist über Zwischengesellschaften in der Liechtensteiner ESBW Stiftung verankert. Deren Kapital notiert laut Stiftungsurkunde bei 30.000 Schweizer Franken. Letztbegünstigte ist eine „Birger Dehne Foundation“ aus Hannover.
Wie unübersichtlich das alles ist, mussten auch die Wirtschaftsprüfer von KMPG feststellen. Sie sollten den wirtschaftlich Berechtigen der Degag feststellen und kamen in einem Gutachten 2023 zu dem Ergebnis, dass wegen der Stiftungskonstruktion „keine natürliche Person Kontrolle“ auf die Gruppe ausübe.
Bugatti und Jacht: Luxusleben in Monaco
In Liechtenstein sitzt nicht nur die ESBW Stiftung, sondern auch das Capiterra Single Family Office und die Birger Dehne AG, die mittlerweile liquidiert wird. Der Datendienstleister Palturai findet Dutzende Firmen, an denen Dehne direkt oder mittelbar beteiligt sein soll.
Das Image des reichen Patrons habe Dehne offen zur Schau getragen, sagt Degag-Vorstand Klein. „Er hat sich mir gegenüber als Milliardär bezeichnet.“ Auch wegen Dehnes Lebensstil habe er nie Zweifel an dessen Solvenz gehabt.
Im Vertrieb der Degag kursiert ein Video aus Monaco. Der Immobilienberater ist zu sehen, wie er eine große blonde Frau mit Highheels und kurzem Kleid an den Modeläden von Chanel und Fendi vorbei zu einem Auto geleitet. Der Parkservice hat einen Bugatti Chiron vorgefahren. Während seine Begleitung einsteigt, inspiziert Dehne den Hinterreifen, dann setzt er sich ans Steuer.
Ob er auch auf der Jacht „Oceanbird“ das Ruder übernimmt, ist indes nicht dokumentiert. Vielleicht bevorzugt Dehne den Fünf-Meter-Glaspool auf dem Achterdeck, der mit Unterwasserlautsprechern und Heizelementen ausgerüstet ist. Der Glasboden des Pools soll einen faszinierenden Oberlicht-Effekt im Strandklub darunter erzeugen.
Anfang 2023 gehörte das Schiff laut Vertragsunterlagen der SGI RE Deutschland Beteiligungsgesellschaft aus Hannover, deren Holding zu 74 Prozent einer Stonebird Foundation in Liechtenstein gehörte, die wiederum Dehnes Umfeld zuzurechnen ist. Je 13 Prozent hielten seine Eltern. Dehnes Anwalt legt Wert auf die Feststellung: Die „Oceanbird“ sei „nachweislich“ vor der Gründung der heutigen Degag erworben und unabhängig von der Gruppe finanziert worden.
Jachten-Deal mit zweistelligem Millionenbetrag
Die SGI verkaufte das Schiff offenbar für rund 31 Millionen Euro an die Oceanbird Ltd. im Steuer- und Offshore-Paradies Isle of Man in der Irischen See. Dem Handelsblatt liegt ein Verrechnungsvertrag vor, den Dehne handschriftlich unterschrieben hat.
Offenbar schuldete die SGI der Oceanbird Ltd. seinerzeit 40 Millionen Euro. Fragen zu den Millionendeals um die Jacht ließ Dehnes Anwalt offen. Auch zur Funktion der Amphitrite Invest Ltd. auf der Mittelmeerinsel Malta, die im Juni 2023 Rechnungen für die Jacht beglich, sagte er nichts.
Bis auf Weiteres können Gläubiger und Insolvenzverwalter nur rätseln, welche Vermögenswerte Dehne in seinem komplizierten Firmennetz angehäuft hat. Die Gerüchteküche brodelt – und so verbreitet sich auch die jüngste Nachricht wie ein Lauffeuer: Die „Oceanbird“ steht zum Verkauf. Sie soll 32 Millionen Euro kosten.
