Der goldene Weg zwischen Freiheit und Nähe

Wie wir unseren Wunsch nach Bindung wie auch nach Selbstbestimmung unter einen Hut bekommen

Die Allermeisten von uns haben das Potential, mit einem Partner glücklich zu werden. Denn eine erfüllte Liebesbeziehung ist kein Zufall, sondern eine Frage der inneren Einstellung. Wir aber haben die Tendenz, die Ursachen unseres Unglücks in der Außenwelt zu verorten, wo sie jedoch selten zu finden sind. Nur wenn wir unsere unbewusst ablaufenden inneren Programme verstehen lernen, können wir Glück in einer Partnerschaft finden.

Als ich das letzte Mal Freunde in Wien besucht hatte, fiel mein Blick auf eine Schlagzeile der Wiener Tageszeitung „Der Standart“: Werden wir zu einer Gesellschaft der Singles? Eine Frage, die aktuell auch in Deutschland unter Psychologen und Soziologen diskutiert wird. Immerhin leben hier derzeit etwa 22,7 Millionen Menschen zwischen 18 und 65 Jahren ohne festen Partner. Die Menschen würden lieber ihre Freiheit genießen und sich auf ihr Leben und ihre Karriere fokussieren, anstatt sich an jemanden zu binden und permanent Kompromisse eingehen zu müssen. So lautet eine gängige Erklärung für diese Entwicklung, die auch als Folge zunehmender Beziehungsprobleme und Trennungen angesehen wird. Eine Erklärung, die jedoch einen wichtigen Aspekt außer Acht lässt. Unser Bedürfnis nach Nähe.

So sind in jedem Menschen mit dem Wunsch nach Bindung einerseits und dem Willen zur Autonomie andererseits zwei psychische Grundbedürfnisse angelegt, die sich zu widersprechen scheinen. Der wünschenswerte Zustand ist, dass sich zwei Menschen auf Augenhöhe begegnen und sich gleichwertig fühlen. Dann können sie sowohl ihren Wunsch nach Bindung, Nähe und Abhängigkeit als auch ihr Bedürfnis nach Selbstständigkeit und Autonomie unter einen Hut bekommen. Die Anpassung, die im Dienste der Bindung steht, will dabei genauso gelernt sein wie die Selbstbehauptung, die im Dienste der Autonomie steht. Für die Bindung muss man immer ein Stück Autonomie aufgeben und für die Autonomie immer ein Stück Bindung. Unser gesamtes Leben sind wir damit beschäftigt, einerseits unsere Bindungswünsche zu erfüllen und andererseits selbstbestimmt und frei zu handeln. Dass uns dieser Balanceakt häufig nicht so gut gelingt, liegt an unseren kindlichen Prägungen, die unsere Bindungsfähigkeit als auch unsere autonomen Fähigkeiten negativ beeinflusst haben. Diese negativen Prägungen sind unser Störprogramm, unser sogenanntes Schattenkind, das verhindert, dass wir so glücklich in einer Beziehung leben, wie wir es uns wünschen oder eben, dass wir uns überhaupt auf eine Beziehung einlassen.

Von der Last unseres emotionalen Rucksacks

Die Bindungs- und Autonomieerfahrungen, die wir in unseren ersten Lebensjahren mit unseren Eltern machen, prägen unseren späteren Umgang mit diesem Grundkonflikt. Sie formen unsere mentale Landkarte. Darauf abgebildet sind unsere tief eingeprägten Vorstellungen, was ich von mir und anderen Menschen zu halten habe.

Philipp etwa, ein 32jähriger Klient von mir, sehnt sich eigentlich nach einer festen Beziehung, in der er Geborgenheit und Halt findet. Als er mir das erste Mal gegenübersitzt, erklärt er mir sein Problem wie folgt: „Ich bin schon sehr lange Single. Es belastet mich, dass ich keine Beziehung habe, niemanden länger an mich binden kann. Meine Dates sind meistens einmalig, und ich stehe überwiegend auf Männer, die viel älter sind als ich und oft auch schon vergeben.“ Philipp, der als Kind sowohl von seiner Mutter als auch von seinem Stiefvater viel Zurückweisung erlebt und keine verlässliche Bindung erfahren hat, wurde innerlich geprägt von der Annahme, er sei nicht liebenswert. „Wenn ich jemanden toll finde, will ich ihm unbedingt näherkommen, und gleichzeitig weiß ich gar nicht, was der an mir mögen sollte. Dann verkrampfe ich mich – und das ist schon der Anfang vom Ende.“

Wenn wir eine Prägung verinnerlicht haben, die uns glauben lässt, wir seien minderwertig, dann wollen wir uns nicht ständig so fühlen, und noch weniger wollen wir, dass andere unsere vermeintliche Minderwertigkeit feststellen. Wir entwickeln Schutzstrategien, die unseren Selbstwert schützen, und zwar entweder im Dienste der Bindung oder im Dienste der Autonomie. Für die Ersteren bedeutet Sicherheit, dass jemand für sie da ist, für Letztere bedeutet Sicherheit, dass sie auf keinen Menschen außer sich selbst angewiesen sind. Philipp gehört zu der zweiten Gruppe. Er leidet unter einer tiefsitzenden Verlustangst, die ihn auf einer unbewussten Ebene verleitet, festen Beziehungen aus dem Weg zu gehen. Philipps Wahl fällt beim Dating deshalb häufig auf Männer, die schon vergeben sind und bei denen er mit einer Ablehnung rechnen muss. So vermeidet er die Möglichkeit einer beginnenden Beziehung, die in seiner Wahrnehmung ja sowieso keine Chance auf Glück hätte. In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang von Annäherungs- und Vermeidungszielen. Bei der Annäherung habe ich ein klares Ziel vor Augen und weiß, wo es hingehen soll. Bei der Vermeidung bewege ich mich von etwas weg. Den Selbstwert vor einer Kränkung zu schützen, ist ein typisches Vermeidungsziel

Einfach mal die Perspektive wechseln

Allein dadurch, dass wir unser inneres Programm, also unser Schattenkind erkennen, können wir einen Abstand zu ihm einnehmen und unsere Gefühle besser regulieren. Erst dann beginnen wir zu begreifen, dass nicht unbedingt immer der andere Schuld sein muss, wenn die Beziehung schwierig wird oder gar nicht erst beginnt. Das Kind in uns erlebt sich immer als hilfloses Opfer, indem es die Bedrohung einzig und allein von außen auf sich zukommen sieht – was sich vor langer Zeit auch so abgespielt haben mag. Im Alltagsleben vermischen sich unsere Wahrnehmungen aus dem Blickwinkel des Schattenkindes und des Verstandes und wir sind es nicht gewohnt, beide Bewusstseinszustände voneinander zu trennen. Hierdurch nehmen wir unsere Schattenkindgefühle zu ernst und schenken ihnen Glauben, zumal die Versagens- und Verlustängste naturgemäß wesentlich stärker sind als die Einwände unseres Verstandes. Ein Dilemma, das sich auflösen lässt, wenn es uns öfter gelingt, die Beobachterrolle einzunehmen. Nur aus der außenstehenden Beobachterperspektive kann sich Philipp mit seinem Erwachsenen-Ich identifizieren, das sich nach Bindung und Nähe sehnt. Und nur aus dieser Perspektive kann er erkennen, wann sein Schattenkind die Führung übernimmt und in Sachen Partnerschaft um Autonomie kämpft, weil Philipps kindliche Ängste zu groß sind, um zu vertrauen.

„Es bleibt zwischen Menschen, seien sie noch so eng verbunden, immer ein Abgrund offen, den nur die Liebe, und auch nur über einen Notsteg, überbrücken kann“, schrieb Hermann Hesse. Wann immer uns unsere negativen Gefühle überfluten und wir keinen reflektierenden Erwachsenenstandpunkt einnehmen können, sollten wir uns deshalb eine Frage stellen: Warum tobt jetzt gerade unser Schattenkind wieder herum? Denn je besser der Draht zu unseren eigenen Gefühlen ist, desto weniger rätselhaft werden uns die Gefühle und Verhaltensweisen anderer erscheinen.

Bei unserer vergangenen Sitzung erzählt mir Philipp, dass er sich Zeit genommen hätte, in sich hineinzuspüren. „Ich spüre, dass eigentlich viel mehr in mir steckt als das, was ich zeige. Dass es eine Stimme in mir gibt, die an mich glaubt, die gut zu mir ist. Das Abwertende dagegen, das sind die negativen Gedanken und Verhaltensweisen meines Umfeldes von damals, die mich geprägt haben. Das Gefühl der Wertlosigkeit gehört eigentlich zu meinen Eltern, die haben großen Mist gebaut.“

„Wunderbar“, sage ich, „das sind genau die richtigen Überlegungen, mit denen du dich aus deinem alten Muster, deinem Schattenkind, herausentwickeln und gelingende Beziehungen eingehen kannst.“

Stefanie Stahl schreibt über Gesundheit & Soziales, Job & Karriere

Stefanie Stahl ist Deutschlands bekannteste Psychotherapeutin. Ihr Ratgeber „Das Kind in dir muss Heimat finden“ steht seit 2016 auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Stahl ist eine gefragte Keynote Speakerin. Sie gilt als DIE Expertin, wenn es um Liebe, Bindungsangst und Selbstwertgefühl geht.

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