Der lange Blick auf den Menschen
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud soll auf die Frage nach dem Geheimnis des Glücks geantwortet haben: „Arbeit und Liebe.“ Doch wer in beiden Bereichen sein Glück finden will und nicht von den Wechselfällen des Lebens aus der Bahn geworfen werden möchte, muss sich zuerst einmal selbst finden und Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen: „In den Spiegel zu blicken und sich ehrlich bewusst zu machen, wo Sie in Ihrem Leben gerade stehen, ist der erste Schritt auf dem Weg zu einem guten Leben.“ (Robert Waldinger, Marc Schulz) In der Philosophie heißt das gute Leben „glücklich“. Allerdings kann, wer beim Wohlfühlglück stehenbleibt, nach Ansicht von Wilhelm Schmid keine Kinder erziehen oder Alte pflegen, Weltliteratur schreiben oder ein Medikament erfinden. Das können nur jene Menschen, denen es auch um das Leben in der Gemeinschaft geht um etwas, das größer ist als sie selbst. Für Edward und Robert Skidelsky ist das Leben im digitalen Zeitalter „gut“, wenn sieben Grundbedürfnisse befriedigt sind:
Gesundheit
Sicherheit
Respekt
Entfaltung der Persönlichkeit
Harmonie mit der Natur
Muße
Freundschaft.
Ein gutes Leben handelt im Dienst des menschlichen Wohlergehens und erkennt an, dass alles mit allem in dieser Welt zusammenhängt, dass alle Menschen in Würde leben können und ihnen Gemeinschaft ermöglicht wird. Die Mitbegründerin der Huffington Post, Arianna Huffington, widmete sich dieser Thematik in ihrem Buch „Die Neuerfindung des Erfolgs": „Irgendwann hätten wir das gute Leben aus den Augen verloren. Stattdessen haben wir uns darauf konzentriert, wie man möglichst viel Geld macht, ein möglichst großes Haus kauft und möglichst hoch auf der Karriereleiter kommt". Aber all das macht nicht glücklich.
Seit 1938 untersuchen Forscherinnen und Forscher in der "Harvard Study of Adult Development", was uns Menschen langfristig gesund und glücklich macht. 268 Harvard-Studierende wurden ihr Leben lang im Rahmen der Studie beobachtet. Unter den Studienteilnehmern der ersten Jahre sind Absolventen der Harvard Universität ebenso wie Männer aus armen Verhältnissen. Im Laufe der Zeit wurden noch 456 weitere Männer, ihre Ehepartner:innen und Nachkommen einbezogen. 2000 Menschen haben (bislang) teilgenommen. Sie werden regelmäßig befragt, nehmen an Gesundheitschecks wie Gehirnscans und Blutuntersuchungen teil. Auch fünfundzwanzig Gehirne von verstorbenen Teilnehmern wurden untersucht. Die Harvard-Studie ist die weltweit längste wissenschaftliche Studie über Risiken und förderliche Faktoren für Glück und Gesundheit. Allerdings ist sie nicht die einzige. Weitere Langzeitstudien sind im Quellenverzeichnis aufgeführt. Die Ergebnisse haben die Studienleiter Robert Waldinger und Marc Schulz nun in ihrem Buch "The Good Life" veröffentlicht. Waldinger ist Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School und Direktor des Center for Psychodynamic Therapy and Research am Massachusetts General Hospital. Er ist der aktuelle Direktor der seit den 1930er-Jahren laufenden Harvard Study of Adult Development. Marc Schulz ist stellvertretender Direktor der Harvard Study of Adult Development und Professor für Psychologie am Bryn Mawr College.
Ein glückliches Leben ist von einer Vielzahl von Faktoren und Rahmenbedingungen wie sozioökonomische Situation, gesellschaftliche Anerkennung und Gesundheit abhängig. Doch gibt es eine Konstante für ein glückliches Leben: stabile und erfüllende Beziehungen, die uns gesünder und glücklicher machen. Paarbeziehungen, Familie, Freunde, Nachbarschaftsbeziehungen oder Kolleg:innen, aber auch Zufallsbegegnungen bewirken eine mentale und emotionale Stimulation, die die Stimmung steigert, während Isolation die Stimmung nach unten zieht. Ältere Menschen hatten weniger körperliche Beschwerden, wenn sie glücklich verheiratet waren.
Unser Denken beeinflusst unsere Emotionen stärker, als wir glauben. - „Nicht Ereignisse wühlen den Menschen auf, sondern seine Ansicht derselben.“ Epiktet
Einsamkeit: Isolierte Menschen, die kein ausreichendes soziales Umfeld haben, weisen signifikant höhere Stresshormone auf und schlechtere Blutwerte.
Wir können nicht alles beeinflussen, denn etwa die Hälfte unserer Glücksgefühle wird durch unsere Gene bestimmt. Es kommen aber auch etwa 40 Prozent durch unsere eigenen Entscheidungen zustande - wir können also selbst entscheiden, wie oft und wie intensiv wir glücklich sind. - „Die Welt, in der wir leben, ist die Welt, die wir erzeugen.“ Buddhistischer Lehrer Shohaku Okumara
Es ist nie zu spät, Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen, denn die menschliche Entwicklung ist niemals abgeschlossen.
Mit anderen Menschen gute Beziehungen zu pflegen, schützt auch das Gehirn. Diejenigen, die wussten, dass sie sich auf jemand anders verlassen konnten, wenn es nötig ist, hatten im Alter ein besseres Gedächtnis.
Eine gelassene Lebenseinstellung macht glücklicher: Im Alter regten sich immer weniger Studienteilnehmer über Kleinigkeiten und Fehler konnten sie leichter loslassen. Sie erkennen dann eher, wie kurz das Leben ist, und achten verstärkt darauf, was sie jetzt glücklich macht.
Problematisch sei die öffentliche Darstellung von dem, was viele Menschen unter Glück verstehen. Es wird oft wie ein Preis gesehen, den man sich erarbeiten oder gewinnen kann und dann sein Leben lang behält. Dies kann auf Dauer sogar unglücklich machen. Glück beruht auf innerer Veränderung und fordert eine ständige Auseinandersetzung mit sich und anderen. Daraus entsteht die Gewissheit, dass uns die Wechselfälle des Lebens nicht aus der Bahn werfen und man auch auf das Negative vorbereitet ist.
Funktionierende Beziehungen sind auf Gegenseitigkeit angelegt: Geben und Nehmen ist die Basis für ein sinnvolles Leben. Dazu gehört auch Großzügigkeit gegenüber anderen. Indem wir anderen etwas von uns geben, ihnen Aufmerksamkeit, Freundschaft, Liebe oder Zuneigung schenken, erfüllt sich unser Leben. Es wird als sinnvoll empfunden.
Die Theorie der Gabe erweitert den Blick des Menschen auf die Idee der Nachhaltigkeit: An die folgenden Generationen soll weitergegeben werden, was man selbst von den Vorfahren dankbar empfangen und in seiner Zeit „nachhaltig“ genutzt hat, was man schonen und vermehren durfte.
Neue positive Erfahrungen mit Menschen sind auch mit neuen Schritten, Neugier und „Anfänger-Geist“ (japanisch: shoshin) verbunden. Zuweilen wird auch von „Zen-Geist“ gesprochen: Hier gibt es den Gedanken, etwas „erreicht“ zu haben, nicht. Erst, wer nicht daran denkt und sich nicht selbst in den Mittelpunkt stellt, kann als wahrer Anfänger bezeichnet werden. - „Im Geist des Anfängers gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige.“ Zen-Meister Shunryu Suzuki
Im Rückblick lässt sich besser einordnen, was wirklich gut für uns ist.
Es geht nicht darum, welchen Sinn das Leben hat, sondern welchen Sinn wir unserem eigenen Leben geben möchten.
Empfohlen wird, den "sozialen Muskel" zu trainieren, der das Wohlbefinden fördert - das gilt für jedes Alter.
Materielle Dinge, Geld oder Erfolg im Beruf führen nicht automatisch zu mehr Zufriedenheit. Das sei zwar nicht unerheblich, doch den Unterschied machen gute Beziehungen. - „Das Geldverdienen gehört zwar zwangsweise zum Leben dazu, doch ist Wohlstand ganz offensichtlich nicht das gute Leben, nach dem wir streben. Wohlstand ist lediglich nützlich und dient etwas anderem.“ Aristoteles
Robert Waldinger, Marc Schulz: The Good Life ... und wie es gelingen kann. Erkenntnisse aus der weltweit längsten Studie über ein erfülltes Leben. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Kretschmer. Kösel-verlag, München 2023.
Weiterführende Informationen:
Gutes Leben im 21. Jahrhundert: Warum wir ein neues ökonomisches Denken brauchen
Zum Glück! Was uns zu besseren Menschen macht Was jeder Mensch für sein eigenes Glück tun kann
Einsamkeit im Alter: Das kannst Du als Pflegekraft für Betroffene tun
Als wäre es der erste Tag: Warum Nachhaltigkeit Anfängergeist braucht
Zukunft braucht Zufall: Warum wir offen für das Unberechenbare sein sollten
Volle Konzentration! Warum Aufmerksamkeit unsere knappste Ressource ist
Arianna Huffington: Die Neuerfindung des Erfolgs. Weisheit, Staunen, Großzügigkeit – Was uns wirklich weiterbringt. Aus dem Amerikanischen von Dagmar Mallett und Karin Schuler. Riemann Verlag, München 2014.
Bert Martin Ohnemüller: „Raus aus dem Kopf – voll rein ins Herz …“. Gedanken und Interviews für mehr Freude, Erfolg und Erfüllung im Berufs- und Privatleben. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Kindle Edition 2023.
Werner Neumüller: Die Grenzen der Rationalität. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.