Navigation überspringen
article cover
Vorbilder können Orientierung und Inspiration geben. - Bild: imago images
Premium

Der Raikov-Effekt: Warum Vorbilder trügerisch sein können

Vorbilder können gerade in schwierigen Zeiten Orientierung geben. Nur: Wie gelingt das im Arbeitsalltag?

Wenn Sigrid Nikutta in einer schwierigen Verhandlung steckt, denkt sie mitunter an ihre Großmutter. Die Managerin, die bei der Deutschen Bahn den Güterverkehr verantwortet, geht in einer solchen Situation im Geiste ihre Vorbilder durch. Und bleibt manchmal bei ihrer Oma stehen. Einer Kriegswitwe, die ihre Kinder allein großgezogen, dabei aber immer Kraft ausgestrahlt hat. Nicht nur die Großmutter gibt Nikutta Orientierung. Im Laufe ihres Lebens hat die Managerin eine ganze Reihe an Vorbildern gesammelt. „Viele von ihnen haben Niederlagen erlebt und sie erfolgreich überwunden“, sagt die Managerin. „Sie zeigen mir, wie ich gestärkt daraus hervorgehen kann.“

Nikutta war in vielen Positionen, die sie innehatte, die erste Frau: im Vorstand der Deutschen Bahn ebenso wie einst an der Spitze der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Heute ist sie für rund 30.000 Mitarbeiter verantwortlich – und als Managerin und fünffache Mutter selbst für viele ein Vorbild. Zu jemandem auf- und sich etwas abzuschauen hilft im Berufsleben. „Vorbilder“, sagt die Psychologin Brigitte Scheidt, „geben Orientierung, Inspiration und können verstärkend wirken.“

Vor allem in Zeiten der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, wie wir sie angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage, des Klimawandels und der Umbrüche durch technologische Entwicklungen wie künstliche Intelligenz erleben. Scheidt berät bei der beruflichen Um- und Neuorientierung und hilft Menschen in solchen Situationen, ihre eigenen Sehnsüchte und Wünsche zu erkennen.

Ressourcen per Hypnose gehoben

Den Gedanken, sich andere zum Vorbild zu nehmen, spitzte der russische Psychotherapeut Vladimir Raikov vor rund 50 Jahren zu – und entwickelte seine Methode des geborgten Genies. Er wollte herausfinden, ob Menschen durch ihre reine Vorstellungskraft ihre Fähigkeiten verbessern können. In einem Experiment versetzte er Probanden in Tiefenhypnose: Sie sollten sich vorstellen, sie seien eine berühmte Persönlichkeit mit einem bestimmten Talent. Die Probanden schlüpften also in die Rolle von Musikern und Künstlern – und lösten dann in dieser Hypnose auf kreative Weise Aufgaben, sie zeichneten, spielten Schach oder ein Musikinstrument.

Vladimir Raikov war überzeugt: Die Lösung für ein Problem steckt in uns. In tiefenentspannten Momenten können wir auf diese verborgenen Ressourcen zugreifen. Es geht dabei nicht darum, eine berühmte Persönlichkeit zu imitieren, sondern darum, herauszufinden, was wir selbst tun würden, wenn wir eben diese wären. Dann nämlich, so die Überzeugung von Raikov, glauben wir fest daran, dass diese Fähigkeiten bereits in uns stecken. Je mehr wir dies verinnerlichen, desto eher handeln wir auch so.

Jetzt 6 Ausgaben der WirtschaftsWoche kostenlos lesen – Zum Angebot

Jetzt 6 Ausgaben der WirtschaftsWoche kostenlos lesen – Zum Angebot

Das Spiel mit verschiedenen Rollen gehört zwar zum Repertoire der Hypnotherapie, die zum Beispiel in der Traumatherapie oder bei Essstörungen helfen kann. Ihre Wirksamkeit ist nachgewiesen. Für die Wirksamkeit der Raikov-Methode gibt es bis heute hingegen kaum wissenschaftliche Belege. Es fehlen unabhängige Wiederholungen und kontrollierte Studien.

Überliefert sind vor allem die jahrzehntealten Experimente, die Raikov selbst durchführte. Eine seiner Probandinnen etwa zeichnete deutlich besser, nachdem sie sich in die Rolle des italienischen Renaissancekünstlers Raffael versetzt hatte. Und so ist die Methode hier und da in verschiedene Coachings zur Persönlichkeitsentwicklung eingeflossen, zum Beispiel in Form von Rollenspielen. Wer sich der Grenzen des Raikov-Effekts bewusst ist, kann ihn zumindest als inspirierendes Gedankenexperiment für sich nutzen. Um neue Ideen und Lösungsansätze zu entwickeln.

Inspiration von Jeff Bezos

So wie Sigrid Nikutta sich immer mal wieder die Eigenschaften und Einstellungen ihrer Vorbilder in Erinnerung ruft, schauen viele Manager zu anderen Menschen auf. Orientieren sich an deren Visionen oder Errungenschaften, schauen sich strategische Überlegungen oder auch Kniffe für den Alltag ab. Delivery-Hero-Gründer Niklas Östberg nennt Jeff Bezos als Inspiration, weil er bei Amazon den guten Service vor alles andere stellt und sein Ziel auch in Zeiten von Verlusten mit Ausdauer verfolgt habe. Er denkt zudem gerne an einen Ratschlag des Amazon-Gründers, wenn eine schwierige Entscheidung ansteht: „Verschwende deine Zeit nicht mit Überanalysieren.“

Dabei muss das Idol nicht unbedingt aus der gleichen Welt kommen, andere Bereiche können ebenso inspirierend sein: Volker Krug, der das Deutschlandgeschäft von Deloitte verantwortet, hat ein Satz seines Vorbilds Michael Jordan geholfen: „Talent wins games, but teamwork and intelligence win championchips“, sagte der US-Basketballspieler – und überließ den entscheidenden Wurf schon mal einem Mitspieler. Krug inspiriert das, dem Team zu vertrauen. „Ich habe schon oft erlebt, wie die Partnerschaft einen in schwierigen beruflichen, aber auch privaten Situationen trägt und auffängt“, sagt der Wirtschaftsprüfer.

Karriereberaterin Scheidt stellt in den Gesprächen mit ihren Kunden die Frage: „Wer sind Ihre Vorbilder und was können diese, das Sie auch gern können möchten?“ Dies helfe, sich selbst auf die Spur zu kommen. Es gilt herauszufinden: Was spricht mich bei einer Person so an, dass ich sie als Vorbild wähle? Ist es das Offenkundige – oder gibt es noch mehr, was mich anzieht? Bei Elon Musk etwa, obwohl stets des Größenwahns verdächtig, ist das für viele: die Durchsetzungskraft – komme, was wolle. Aber womöglich auch die Fähigkeit, für die eigenen Interessen einzutreten. „Über Vorbilder kann ich mit mir und dem, was mir selbst wichtig ist, in Kontakt kommen“, sagt Scheidt. „Es geht dann nicht ums Nachmachen, sondern um Fragen wie: Was sind meine Kriterien? Was für eine Kollegin oder Vorgesetzte möchte ich zum Beispiel sein?“

Um erfolgreich zu sein, brauchen wir die Überzeugung, schwierige Situationen meistern zu können. Diesen Gedanken hat der kanadische Psychologe Albert Bandura in den 1960er-Jahren in seiner Theorie des sozialen Modellierens, des Lernens durch Beobachtung, entwickelt – und damit die Verhaltensforschung maßgeblich beeinflusst. Er belegte, was viele intuitiv wissen: Wenn wir mit erfolgreichen Menschen in Kontakt kommen, neigen wir dazu, uns diese zum Vorbild zu nehmen. Wir imitieren Verhaltensweisen und können so Aufgaben besser bewältigen.

Bandura wies darauf hin, dass es für ein Vorbild eine Verbindung braucht, damit es seine Wirkung entfaltet. Das bedeutet: Wir können zwar dem visionären Geist von Steve Jobs nacheifern, der Apple gründete und zu einem Milliardenkonzern formte. Aber Vorgesetzte und Mentorinnen, auch Menschen aus der Familie und dem Freundeskreis sind uns näher. Sie liefern uns nicht nur deutlich mehr und deutlich anschaulichere Beispiele, wie wir bestimmte Situationen meistern. Sie stehen uns auch mit Rat zur Seite.

Karriereberaterin Brigitte Scheidt empfiehlt für schwierige Situationen ein Gedankenexperiment, das auf dieser Nähe aufsetzt. Wir könnten uns fragen: Was würde ich meiner besten Freundin oder meinem engsten Vertrauten raten? Und diesen Tipp dann befolgen – also uns selbst unser bester Freund sein. Die Raikov-Methode sieht dagegen ausdrücklich vor, die unerreichbaren Genies zurate zu ziehen. Und gewinnt genau daraus ihre Kraft.

Eine Eigenschaft herausgepickt

Unter den Vorbildern von Sigrid Nikutta finden sich sowohl Menschen aus ihrem privaten und beruflichen Umfeld als auch Personen des öffentlichen Lebens. Das eine Vorbild, an dem alles so ist, wie Nikutta es sich wünscht, gibt es nicht. „Es sind oft bestimmte Eigenschaften oder erreichte Ziele, die ich bewundere.“ Schon die Personalchefin in ihrem ersten Praktikum, beim Mittelständler Horstmann in Bielefeld, hat ihr vor Augen geführt, welche Karrieremöglichkeiten sie hat. „Auch als ich zur Deutschen Bahn gewechselt bin, hatte ich immer wieder Vorgesetzte, die Eigenschaften hatten, die ich bewundert habe“, erinnert sich die 55-Jährige. „Sie haben mir gezeigt, wie ich in so einer großen Organisation wie der Bahn erfolgreich sein kann.“

Nikutta, die gern Biografien liest, schätzt auch die griechische Mythengestalt Antigone, die einstige Bundeskanzlerin Angela Merkel und die polnische Forscherin Marie Curie für ihren Mut und ihre Unbeirrbarkeit. Bisher hat die Managerin mit ihrem Set an Vorbildern noch immer einen passenden Beistand und Ratschlag für so manch schwierige Situation gefunden – und damit letztlich ihre eigenen Stärken mobilisiert.

Jetzt 6 Ausgaben der WirtschaftsWoche kostenlos lesen – Zum Angebot

Jetzt 6 Ausgaben der WirtschaftsWoche kostenlos lesen – Zum Angebot

Der Raikov-Effekt: Warum Vorbilder trügerisch sein können

Premium

Diese Inhalte sind für Premium-Mitglieder inklusive

Der Zugang zu diesem Artikel und zu vielen weiteren exklusiven Reportagen, ausführlichen Hintergrundberichten und E-Learning-Angeboten von ausgewählten Herausgebern ist Teil der Premium-Mitgliedschaft.

Premium freischalten

WirtschaftsWoche

Deutschlands führendes Wirtschaftsmagazin – verstehen zahlt sich aus.

Artikelsammlung ansehen