Manuskripte sind wie ungeöffnete Muscheln. In manchen stecken Perlen. - Illustration: Silvan Bouman

„Der Selbstverlag war immer schon die Schmiede der Kunst“

Interview mit dem Autor und Verleger Wilhelm Ruprecht Frieling, dem Begründer des Selbstverlegens in Deutschland

Herr Frieling, Sie äußern sich seit Jahren kritisch zum Feuilleton der deutschen Presse. Was steckt dahinter?

Das FAZ-Feuilleton erbrach sich vor Jahrzehnten und erklärte in einem giftigen Beitrag, Bücher aus meinem damaligen Verlag erzeugten »Ekelverdacht«. – Ich empfand das als unfairen Schlag in die Magengrube eines Unternehmens, das Werke von zehntausend deutschsprachigen Autoren herausgegeben hatte.

Rund dreißig Jahre später lobte diese selbst ernannte Institution der guten Geschmacks anlässlich der Verleihung des Deutschen Schallplattenpreis meine Produktion vom »Ring des Nibelungen« über eine ganze Seite ihres kostbaren Raumes: »Fast besser als Wagner« stand über der ausführlichen und facettenreichen Besprechung. So kann es einem gehen. Mal weht der Wind von West, mal bläst er von Ost.

Haben Sie sich verändert, oder hat sich die FAZ weiterentwickelt?

Das lässt sich aus meiner Sicht leicht beantworten: Im ersten Fall hat die FAZ einen journalistischen Kardinalfehler begangen. Sie hat in Bausch und Bogen ein Vorurteil geschaffen über viele tausend lesenswerte Bücher und deren Verfasser. Mehr als zehntausend Autoren wurden seinerzeit von mir verlegt. Die FAZ-Kulturredaktion jedoch hatte bis dato keines unserer Bücher zur Rezension angefordert.

Für eine renommierte Redaktion wie die FAZ ist die Formulierung eine unverzeihliche Schlampigkeit. Spätestens der Chef vom Dienst hätte den Rotstift ansetzen und dem Verfasser die Ohren waschen müssen. Unter gestandenen Journalisten gilt es als Todsünde, Schmutz pauschal auf eine große Gruppe unterschiedlichster Individuen zu schütten. Fake-News haben in einer Redaktion mit Anspruch keinen Platz.

»Dahinter steckt stets ein kluger Kopf«, ist seit 1964 der prägende Werbespruch der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Natürlich wird damit dem Leser geschmeichelt, der »seine« Zeitung als Meinungsbildner betrachtet. Aber gilt das nicht ebenso für die Redakteure der FAZ?

In der FAZ-Redaktion gibt es viele kluge und hochgebildete Köpfe. Ich kenne einige Kollegen, und weiß, wie stolz sie auf ihren Job sind. Ein FAZ-Redakteur trägt seine Nase stets zehn Ellen höher als ein »normaler« Redakteur. Stolz und Vorurteil gehören zu seinen Wesensmerkmalen. Wenn so etwas durchgeht, dann nur, wenn ein weitgehender Konsens über eine Tatsachenbehauptung vorausgesetzt wird und keine Instanz nach der Beweisführung fragt.

Hat diese Ablehnung Methode?

Das bundesdeutsche Feuilleton unterdrückt bis heute Bücher, die nicht in »richtigen« Verlagen erschienen sind. Dabei wurden von Goethe über Cervantes, Heinrich Mann und Marcel Proust bis hin zu Edgar Wallace und Nele Neuhaus zahllose Autoren erst wahrgenommen, nachdem sie Bücher aus eigenem Antrieb veröffentlichten. Sie haben ihrer Karriere durch Eigeninitiative nachgeholfen, sonst wären sie heute noch unbekannt.

Die Literaturgeschichte spricht in diesem Punkt eine klare Sprache: Der Selbstverlag war immer schon die Schmiede der Kunst. Dennoch wird ein idiotisches Vorurteil gegen Selbstverlage und gegen Autoren, die sich selbst veröffentlichen, gepflegt.

Warum werden ausgerechnet Selfpublisher ignoriert?

Das ist einfach. Sie bringen Unruhe in den betrieblichen Ablauf und kosten Zeit. Es ist unter Literaturkritikern Usus, sich mit den Verlagsvorschauen zu befassen und Titel, die interessieren, zu bestellen. Hinzu kommen Hinweise von Lektoren oder Pressemenschen aus den etablierten Verlagen, die damit auch wenig die Relevanz des ein oder anderen Titel steigern. Es gibt ausgefeiltes Pressematerial, eine detaillierte Inhaltsangabe, aussagekräftige Hintergrundinterviews bis hin zu nahezu fertigen Rezensionen. Und es existiert ein Veröffentlichungstag, an dem die verschiedenen Besprechungen parallel erscheinen und für medialen Schub sorgen.

Selfpublisher hingegen sind für die Redaktionen Nobodys. Schicken sie Bücher oder Werbebriefe, dann werden diese in die Papierverwertung geschoben. Niemand hat Zeit und Lust, sich mit etwas vollkommen Neuem zu befassen, nur weil es ein jüngst erschienenes Buch ist. Davon gibt es jedes Jahr hunderttausende.

Außerdem behaupten Kollegen, die schon mal in das ein oder andere selbst verlegte Werk geschaut haben, dass sich dort viel literarischer Bodensatz tummelt, und es entsprechend schwer sei, Perlen aus dem riesigen Haufen ungeöffneter Muscheln zu fischen.

Als Herausgeber von Literaturzeitschrift.de rezensieren Sie selbst. Wie läuft das praktisch ab?

Als Herausgeber von Literaturzeitschrift.de habe ich langjährige Erfahrungen im Umgang mit Verlagen. Neulich kam beispielsweise der neue Titel von Jonas Jonasson heraus. Das ist der Typ, der den wundervollen Roman vom Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand, verfasst hat. Ich habe alle Romane von Jonasson mit Vergnügen gelesen und rezensiert. Das weiß der Verlag, in diesem Fall Bertelsmann, ganz genau. So schickte mir die Presseabteilung automatisch Jonassons neuestes Buch ein paar Wochen vor Veröffentlichung zu, damit ich es bei Interesse lesen und besprechen konnte.

Man kennt sich und weiß, was den Ansprechpartner interessiert. Ein derartiges Vertrauensverhältnis entsteht im langfristigen Miteinander. Da haben Selfpublisher kaum Chancen einzudringen.

Ansonsten lese ich Verlagsvorschauen und tausche mich mit Kollegen aus, indem wir uns Autoren und Titel empfehlen.

Es ist nicht nur Feuilleton, das es Selbstverlegern schwer macht. Wie steht es mit dem Buchhandel?

Der Buchhandel ist in klassischen Strukturen organisiert und atmet seit einem Jahrhundert ein betriebswirtschaftlich normiertes Denken. Für den Buchhändler sind die Verlage die Instanzen, die über die Qualität der Bücher wachen. Ihre Handelsvertreter sind die Herolde, die verkünden, was in der nächsten Saison besonders heiß beworbene Titel sind.

Werden diese Empfehlungen in ausreichender Zahl geordert, kann der Buchhändler auch die Nachfrage bedienen, die sich nach Rezensionen der Neuerscheinung in Tageszeitungen, Publikumszeitschriften und im Fernsehen mit Gewissheit einstellt.

Kommt nun ein Selfpublisher in den Buchladen und erbittet ein Plätzchen für sein Buch, kommt auf den Händler Arbeit zu. Denn nur wenige der frisch gebackenen Autoren sind vertraut mit ISBN und VLB (Verzeichnis lieferbarer Bücher). Kaum einer verfügt über eine Verlagsauslieferung oder ist bei den Barsortimenten im Katalog gelistet.

Einzelbestellungen dieser Titel sind auf herkömmlichen EDV-gestützten Wegen unmöglich. Eine buchhalterische Vollkatastrophe ist, direkt bei den Selbstverlagen zu bestellen, denn das bedeutet Einzelrechnung buchen bis hin zur individuellen Überweisung. Ein Inkasso über die BAG oder eine andere gemeinschaftliche Einzugskasse ist für den Buchhandel bequem und schnell. Selbstverlage spielen dabei keine Rolle. Dieses Geschäftsmodell kennt (bislang) weder Vertreter noch Werbekampagnen.

Das Geschäftsmodell der Book-on-demand-Dienstleister wirkt dem doch entgegen?

Genau diese Lücke im Bereich des Handels schließen Unternehmen wie BoD. Sie gewährleisten die Auslieferung des selbst verlegten Titels für den Autor an den Einzelhändler. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass der Titel bestellt wird.

Hier schließt sich der Kreis. Eine aktive Pressearbeit gibt es nicht, Rezensionsexemplare werden nur versandt, wenn der Autor persönlich kurbelt. Da es aber wenig Interesse in den Feuilletons gibt, bleibt nur, auf soziale Medien und Buch-Blogger auszuweichen.

Mit dem Internet ist ein zweiter Buchmarkt entstanden …

Amazon hat sich als Buchhändler neuen Stils etabliert. Angesprochen wird der Endverbraucher, also der Leser. Und der kann in seinen Neigungen und Interessen viel genauer erreicht werden, als es ein lauschiger Buchladen an der Ecke kann, der vielleicht von dieser Art Kunde nie betreten wird. Verlage produzieren in erster Linie für ihre direkten Kunden, das sind mehrheitlich konservative Buchhändler. Die wiederum sollen das magische Händchen dafür besitzen, was ihre Kunden mögen und verkraften.

Das hört sich an wie eine Parallelgesellschaft …

Richtig. Im Ergebnis laufen zwei vollkommen verschiedene Handelsebenen für ein und dasselbe Produkt ab und berühren sich kaum. Amazon ist als vielgleisiger Vertriebsbahnhof ein Hauptgewinn für jeden Autor, der sich selbst verlegt. Hier entwickeln sich Karrieren, von denen irgendwann auch die etablierte Presse berichtet. Diese Berichterstattung läuft über die Lokalredaktionen, die »Kultur« nimmt davon keinerlei Notiz.

Anhand der Spitzentitel in den Amazon-Charts lässt sich genau ablesen, welches Genre, welches Thema, welcher Autor stark gefragt ist. Entwicklungen lassen sich mit mathematischer Genauigkeit einschätzen.

Besonders gut laufende Titel werden von Amazon eingeladen, in einem der eigenen Verlags-Imprints »Tinte und Feder«, »Edition M«, »47North« oder »Topicus« zu veröffentlichen. Das bedeutet eine gewaltige Steigerung des Absatzes und eine Chance für den Sprung in den fremdsprachigen Markt.

Fürchten Verlage um ihre Geschäftsgrundlage?

Es ist ein offenes Geheimnis, dass die gesamte Buchbranche im Umbruch steckt und streckenweise bis zum Hals im Wasser steht. Selfpublisher haben sich hingegen derart stark am Markt positioniert, dass deren Spitzentitel inzwischen umworben und mit überdurchschnittlichen Vorschüssen eingekauft werden. Der Münchener Piper Verlag steht für diese Gruppe.

Andere Verlage antworten mit Subunternehmen auf den Boom und versuchen, auf ihre Art ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Sie investieren unter dem Radar der Öffentlichkeit ins Self-Publishing. Ob Holtzbrinck mit LovelyBooks und Epubli, DroemerKnaur/Rowohlt mit Neobooks, Bastei Lübbe mit Bookrix und Beam, der Kelter-Verlag mit Book King, Ullstein mit Midnight oder Random House mit Twentysix: All diese Imprints zielen auf die Manuskripte derjenigen Selbstverleger, die davon träumen, von großen Labels entdeckt zu werden.

Weichen die Fronten auf?

Der gewerkschaftlich orientierte Verband deutscher Schriftsteller VS verwehrte bis vor kurzem Selfpublishern den Eintritt. Nun hat man die Portale geöffnet. Buchhandelsketten sträuben sich nicht mehr grundsätzlich gegen selbst verlegte Publikationen, sondern machen schon mal Sonderauflagen bestimmter Titel. Selbst Moralapostel, die mit »Schwarzen Listen« gegen Dienstleistungsverlage und Selbstverleger stänkern, verstummen allmählich.

Was bedeutet das für die Zukunft?

In dem Maß, wie die arrogante Sicht auf die Selfpublisher aufgegeben wird, werden sich die beiden Felder annähern. Überleben werden Verlage, die sich diesen Entwicklungen anpassen und anerkennen, dass das Publikum bestimmte Texte lesen will. Diese Geschmäcker zu bedienen, wird zu den Aufgaben der Verlage von morgen zählen. Dann werden sich auch die Feuilletons mehr leisten als den gelegentlichen verwunderten Blick auf die Karriere von Selfpublishern, die plötzlich in aller Munde sind.

Ich behaupte, in ein paar Jahren hat der Begriff »Selfpublisher« weitgehend ausgedient. Alles wird miteinander verflochten sein, und es werden neue Strukturen entstehen, die verhärten, wenn kein ständiger Aufbruch erfolgt. Für Kritiker und Feuilletonisten bedeutet dies, die Zeichen der Zeit zu erkennen, sich umzustellen und den Buchmarkt in seiner Gänze wahrzunehmen. Ansonsten können sie einpacken.

Weiterführende Informationen zu Wilhelm Ruprecht Frieling

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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