Der Trost der Schönheit
Zehn Jahre lebte Gabriele von Arnim an der Seite ihres schwer kranken Mannes. Darüber schrieb sie das Buch „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“: Im Alter von 57 Jahren teilte sie ihrem Mann nach 20 Ehejahren mit, dass sie sich trennen möchte. Noch am selben Abend erlitt er einen Schlaganfall. Binnen weniger Tage folgte der zweite. Er konnte nicht mehr lesen, nicht schreiben, nicht gehen und sich nicht mehr verständlich artikulieren – bei hellwachem Verstand. Während seiner Krankheit suchte sie nach Kraftquellen und Trost. Beides fand sie in ihrer Arbeit, der sie sich widmen konnte, wenn eine Pflegerin kam. Vieles ist auch in ihr aktuelles Buch „Der Trost der Schönheit“ eingeflossen – doch es ist aus der Distanz heraus entstanden – die Türen zur Welt waren wieder offen. Und so sind große und kleine Themen miteinander verwoben. Ohne dass der Begriff einmal genannt wird, spielt auch die Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle. Der Trost der Schönheit ist für die Autorin auch „Verteidigung der eigenen kleinen Wirklichkeit gegen die WeltWirklichkeit“, die durch Krisen, Kriege, Gier und Maßlosigkeit geprägt ist: „Ich fürchte mich vor den leeren Phrasen, den zynischen Machtspielen und der gierigen Verantwortungslosigkeit.“
Vergänglichkeit lässt sich nicht leugnen. Und immer wieder stellt sie sich die Frage: „Wie unangemessen ist es, über Schönheit zu schreiben, während in so vielen Teilen der Welt Not und Angst, Hunger und Entsetzen herrschen.“ - „Schönheit hier – Krieg dort“ – diesen Widerspruch kann sie nicht zusammendenken, und doch lebt sie ihn täglich. Schönheit kann nämlich auch Anker und Rettung sein. Sogar ihr Mann, der in seinem kranken Körper eingekerkert war, lernte, in seinem „reduzierten Zustand“ Schönes zu sehen. In ihrem Buch erscheint Schönheit, der ihr „Nervenfrieden“ schenkt, in vielen Hüllen und Facetten. Dabei verweist sie auch auf den brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado, dessen Fotos von einer „verzweifelten Schönheit“ sind. Sie entdeckt Schönheit aber auch dort, wo sie nicht vermutet wird: in kleinen Momenten und Dingen - manchmal sind es auch Gegenstände, die ihr Trost geben. Wer gestaltend auf die Welt einwirken möchte, widmet seine Aufmerksamkeit auch kleinen Dingen, weil sie direkt zu uns sprechen. Ist eine Wohnung leer, so ist es auch der Mensch, schreibt von Arnim. Sie nennt es ein Gebot der Vernunft „sich immer wieder von Schönheit ergreifen und trösten zu lassen“.
„Ohne das Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit kann Schönheit kaum genossen oder beweint werden.“ Zuweilen tut das Herz weh, wenn der Wahrheit ins Gesicht geschaut wird. Wahrheit und Schönheit fielen für das griechische Denken noch zusammen. Ebenso in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als Mode noch als Erweiterung des Körperausdrucks galt: Sie sollte die Person repräsentieren, wie sie „in Wahrheit“ ist. Die natürliche Welt jenseits der Pose wurde als höhere Wahrheit verstanden. „Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit Schönheit, das ist alles, was ihr auf Erden wisst, was ihr zu wissen braucht“, schrieb der englische Dichter John Keats. Während der Pandemie, die sie als eine „rigorose Einübung in die Unwägbarkeit des Lebens“ beschreibt, tröstete sie eine Pflanze, die ihr eine Freundin geschenkt hatte. Das erinnert mich an eine Rose, die mit diesem Buch im Innersten verbunden ist:
Vor seiner Krebserkrankung hat „Papa Jürgen“ im Garten eine Rose gepflanzt – lange war mir ihre Bedeutung nicht bewusst. Der Rosenstrauch wurde gepflegt wie alle anderen. Aber eine Blüte stach hervor. Sie war so schön, dass ich sie täglich fotografierte und abends in Social Media zeigte. Das tue ich immer noch, wenngleich sie längst ihre farbenfrohe Rosenzeit hinter sich hat. Ihre Blüte ist winzig und würde bei Berührung wie Staub zerfallen. Ich konnte sie dennoch nicht abschneiden und wollte sie dem natürlichen Kreislauf überlassen, der noch nicht zu Ende ist. Und dann erreichte mich „Der Trost der Schönheit“. Dieses Buch ist für mich wie eine schöne Blütensammlung, die das Vergangene noch einmal zusammenführt. Sie wird spürbar und lesbar. Fühlen ist für Gabriele von Arnim vielleicht unsere einzige Chance, uns und die Welt zu erkennen. Nur wenn wir fühlen, können wir auch be-greifen – „dem Wissen so nahekommen, dass man es anfassen, mit den Händen berühren, auf der Haut spüren kann.“ Sie kam aus der Generation, in der Gefühle als verwerflich galten („bloß nichts fühlen“). Vielleicht braucht sie Trost, weil sie so oft ungetröstet durchs Leben ging. Doch in der Rose werden Liebe und Anmut offenbar.
Gabriele von Arnim: Der Trost der Schönheit. Eine Suche. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.