Deutsche Unternehmen entdecken das Metaverse
Schulungen mit VR-Brille, Maschinen mit „Digitalen Zwillingen“: Die Mischung aus Realität und Virtualität nutzen immer mehr deutsche Firmen – trotz einiger Skepsis.
Ein Stein in einer Weiche reicht aus, um den Verkehr auf einer Bahnstrecke aufzuhalten. Das ist jederzeit ein Problem, gerade aber ganz besonders: Noch nie war die Deutsche Bahn so unpünktlich. Abhilfe schaffen soll ein kleines Heer von 11.000 Instandhaltern, sie kümmern sich um die Probleme an den Gleisen.
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Es bräuchte zwar eher noch mehr Personal, doch der Fachkräftemangel schlägt auch bei der Bahn durch. Zudem gehen in den nächsten Jahren viele Monteure in Rente, berichtet Franziska Kost, Referentin Fachliche Qualifizierung bei der DB Netz. Für sie ist das eine Herausforderung. Wie kann man das Wissen der erfahrenen Mitarbeiter bewahren und weitergeben? Und wie möglichst viele neue möglichst effizient schulen?
Seit einigen Jahren setzt Kost dabei auf „Mixed Reality“: Neue Mitarbeiter werden mithilfe von Software von Teamviewer und der Datenbrille Hololens von Microsoft geschult. Mit der Technologie können sie eine virtuelle Version der Weiche erstellen und bearbeiten, Einzelteile herausholen oder Reparaturen üben. „Das ergibt eine bessere Veranschaulichung, tieferes Verständnis und hilft, Theorie und Praxis stärker zu verzahnen“, sagt die Managerin.
Eine Untersuchung der Berater von PwC in den USA zeigte im vergangenen Jahr: Schulungen mit VR-Brillen können sehr effektiv sein. Das Gelernte ist besser eingeprägt als beispielsweise nach herkömmlichem Unterricht. Es gibt weniger Ablenkung, allein durch die Tatsache, dass das Smartphone nicht zur Verfügung steht.
Das Metaverse geriet im vergangenen Oktober in die Schlagzeilen, als Mark Zuckerberg die Vermischung von Realität und Virtualität zum Grundkonzept und zur Wachstumshoffnung erklärte und Facebook kurzerhand in Meta umbenannte. Seitdem gibt es „eine unglaubliche Welle an Kundeninteresse“, berichtet Unternehmensberater Tibor Merey von der Beratungsfirma BCG.
Allerdings stehen viele Unternehmen noch am Anfang. Nach einer von Teamviewer in Auftrag gegebenen Umfrage des Handelsblatt Research Institute unter 4500 Entscheidern in Europa geben nur ein Viertel an, das Metaverse bereits als Teil der Unternehmenswelt zu sehen.
Teamviewer verkauft bereits Metaverse-Anwendungen
Die meisten Unternehmen entdecken das Metaverse gerade erst. Einige interessieren sich allerdings schon seit Jahren dafür, darunter etwa Teamviewer. Produktchef Hendrik Witt ist sich sicher: „Das Metaverse wird die Industrie revolutionieren.“
Das deutsche Softwarehaus setzt seit vier Jahren auf den Trend, den es „Industrielles Metaverse“ nennt. Es übernahm zahlreiche Start-ups aus dem Bereich wie Ubimax oder Viscopic, investierte und entwickelte „Frontline“. Mit der Software können Unternehmen Inventuren durchführen, Maschinen montieren oder warten. DHL, Audi, Coca-Cola setzen sie bereits ein, Siemens kam vor ein paar Tagen dazu. Witt spricht von „ein paar Hundert Kunden“.
Allerdings: Der Hype ist groß und das Metaverse technisch anspruchsvoll. VR-Brillen sind klobig, teuer und sie verursachen Übelkeit. So erhöht Meta jetzt aufgrund steigender Kosten den Preis für seine neuste Brille Quest 2 für die leistungsstärkste Version um 100 Dollar auf rund 500 Dollar.
Viele Metaversen sind nicht mehr als erweiterte Onlinespiele wie etwa Fortnite. Dort wird nicht mehr nur gespielt, sondern es finden Konzerte statt oder die Nutzer können Sneaker kaufen. Das ist aber für viele Menschen noch kein Grund, eine VR-Brille zu kaufen. „Meiner Meinung nach wird die große Adaption über die Büro- und Geschäftswelt kommen“, sagt Merey von BCG.
Der Digitalexperte zieht eine Parallele zu anderen Innovationen. „Das ist ganz ähnlich wie beim Handy – der dicke Knochen oder das Autotelefon wurden von Geschäftsleuten zuerst verwendet.“ Ähnlich wie das Smartphone werden die VR-Brillen nicht nur immer leichter und preiswerter, sondern auch erträglicher. Zum Jahresende wird Meta seine lange erwartete Brille „Projekt Cambria“ auf den Markt bringen. Patentanmeldungen zeigen, dass auch Apple an einer arbeitet. Microsoft ist mit seiner Holo-Lens schon länger auf dem Markt und spricht damit vor allem Geschäftskunden an.
Die neuen Brillen schirmen wie bei der Bahn die Nutzer nicht mehr völlig von der Außenwelt ab. Die „Augmented Reality“ oder AR, die „angepasste Realität“, hält Einzug. „VR und AR wachsen zusammen, schon bald wird man die Unterscheidung nicht mehr kennen“, sagt Merey.
Die neuen Brillen werden leichter, attraktiver – und mit der Zeit unverzichtbarer. Ähnlich wie das Metaverse die Menschen bei Spielen oder Einkäufen zusammenbringt, so „glauben wir, dass dasselbe auch bei Geschäftsprozessen von Unternehmen passieren wird“, sagt Yaad Oren, Leiter des SAP Innovation Center Networks.
Das Metaverse nennt sich in der Industrie „Digitaler Zwilling“, damit ist die virtuelle Darstellung eines Objekts oder Systems gemeint. Ob eine Firma eine Maschine oder eine Produktionslinie entwirft, mit dem Zwilling wird das Vorhaben vor und bei der Umsetzung in Echtzeit simuliert, geplant und verbessert. Noch liegt der Umsatz der Technologie laut dem Branchendienst Markets & Markets in diesem Jahr weltweit bei 6,9 Milliarden Dollar, steigt aber laut einer Prognose in den nächsten fünf Jahren stark auf 73,5 Milliarden Dollar.
Firmen wie Siemens entwickeln zusammen mit Anbietern wie Teamviewer Baukästen, mit denen Firmen Digitale Zwillinge erstellen können. Mit ihrer Hilfe können Ingenieure unzählige Versionen von Maschinen entwerfen oder Stadtplaner in Echtzeit die Auswirkung von neuen Gebäuden auf die Luftströmung in einem Stadtviertel simulieren – alles fast ohne Programmierkenntnisse.
Anwendungen ohne Programmierkenntnisse
Wenn Teamviewer-Produktchef Witt mit möglichen Kunden spricht, dann hat er gute Argumente. Kosten abbauen, Effizienz steigern. So bildet Audi seine Mitarbeiter in der vor wenigen Jahren in Betrieb genommenen Brüsseler Fabrik für das Modell e-tron bei der Qualitätssicherung mit Teamviewer aus. Statt ein Betriebshandbuch mit 150 Seiten zu lesen, erlernen die Mitarbeiter intuitiv und schnell, worauf es bei der Endabnahme der Fahrzeuge ankommt: 150 Qualitätsmerkmale müssen sie in fünf Minuten prüfen.
„Bislang fand die Digitalisierung im Büro statt“, sagt Witt. „Jetzt erreicht sie endlich auch den Facharbeiter.“ 80 Prozent der weltweit Arbeitenden sitzen laut Teamviewer nicht in einem Büro, insgesamt 2,7 Milliarden Menschen. Ihre Fähigkeiten, Qualifizierungen und auch Überprüfungen werden immer mehr von Software und Datenerhebung und -vermittlung begleitet.
Bedenken der Mitarbeiter müssen ausgeräumt werden
Schulungen wie bei der Deutschen Bahn sind eine wichtige Anwendung. Vor allem „Soft Skills“, also soziale Kompetenz, wird laut Beratungshaus PwC mit VR gut gelernt. Ein schwieriges Gespräch mit Mitarbeitern kann geübt und Verhaltenshinweise können verinnerlicht werden. Laut der Analyse sind sie „emotional verbundener“ als im Klassenzimmer. Was dort in zwei Stunden vermittelt wird, wird per VR in 29 Minuten gelernt.
Die Investition in die VR-Brillen ist nötig, sie kosten inklusive Bildschirm und anderer Hardware um die 1000 Euro. Doch laut PwC rechnet sich eine VR-Schulung ab 375 Teilnehmern, dann ist die VR-Version genauso teuer wie eine traditionelle Schulung. Ab 3000 Anwendern soll sie um mehr als die Hälfte preiswerter sein.
Allerdings nimmt nicht jeder Mitarbeiter die neue Technologie gleich an. Insgesamt sei das Feedback „sehr positiv“, berichtet Kost von DB Netz. Vor allem jüngere und technikaffine Mitarbeiter sind begeistert, aber manchmal bekommt sie auch andere Kommentare zu hören: „Das habe ich 20 Jahre lang auch nicht gebraucht.“ Das Einschlagen des Wegs in Richtung virtueller Realität auch in der Berufswelt dürfte trotzdem unaufhaltsam sein.
