Deutschland und die Generation Y: Heimat in der Fremde
Interview mit der Autorin und Journalistin Katharina Pavlustyk
Katharina Pavlustyk, Jahrgang 1984, wurde in Russland geboren und schrieb schon als Kind Gedichte. Sie zog mit ihrer Familie 1994 nach Deutschland, wo sie die Liebe für die deutsche Sprache entdeckte, sie schrieb Gedichte und seitenlange Klassenarbeiten. Während ihres Studiums der Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Pädagogik verfasste sie Berichte und Interviews für eine Tageszeitung, sammelte in diversen Zeitungspraktika journalistische Erfahrung. Nach ihrem Volontariat war sie als Redakteurin bei einer Tageszeitung im Kreis Lippe und später bei einer Kommunikationsagentur in Düsseldorf tätig. Sie führte einen Blog über Menschen, die anders leben, reisen und arbeiten, machte sich selbstständig als Journalistin und Lektorin und schrieb ihr erstes Buch „Liebe deine Arbeit“ (2016, Tredition), für das sie Coaches und Berater interviewte. Ihr zweites Buch „Sei dir selbst ein guter Freund“ (2017, Tredition) handelt davon, wie man sich selbst annimmt, wie man ist. Und in ihrem dritten Buch „Auf Umwegen zum Glück“ (2018, Tredition) schildert Katharina Pavlustyk, was sie auf ihrem Weg zum Glück gelernt hat. Seit März 2019 ist sie beim Online-Weiterbildungsanbieter karriere tutor für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. In Kürze erscheint ihr viertes Buch „Der Weg des Herzens“.
<div>Welche Erinnerungen hast Du an Russland?</div>
Ich wurde in Buzuluk geboren, einer 80.000-Einwohner-Stadt im Gebiet Orenburg. Ein paar Jahre später ist meine Familie – Mutter, Vater und mein zweieinhalb Jahre älterer Bruder – ins Dorf meines Vaters gezogen. Ich bin also sehr ländlich aufgewachsen, war viel draußen, hab meinen Eltern bei der Kartoffelernte geholfen und hatte Spaß dabei, Kühe auf der Weide zu hüten. Auf dem Dorf war jede Familie reihum dafür zuständig. Wir hatten nicht nur einen Garten vor dem Haus, in dem meine Mutter Rosen und andere Blumen angepflanzt hat, sondern auch einen Garten hinter dem Haus, wo wir Kürbis und Kartoffeln und Wassermelonen angebaut haben. Wir hatten Kühe und später Schafe, Hühner und einen Hofhund, mit dem ich oft gespielt habe. Ich habe es geliebt, draußen zu sein, im Wald wilde Erdbeeren zu pflücken (die sind ganz klein und schmecken sehr intensiv), Pilze zu sammeln und meiner Mutter beim Melken zuzusehen. Ich habe meine Kindheit als schön erlebt, als eine gewisse Art von Freiheit.
Was siehst Du, wenn Du an Deine Kindheit denkst?
Ich sehe vor allem die Weiten der Felder, viel Grün, den Fluss hinter unserem Haus und Garten. Im Moment zieht es mich wieder viel mehr in die Natur (ich wollte seit dem Studium auf jeden Fall in der Großstadt leben, aber jetzt bin ich viel lieber im Wald), dorthin, wo es leise ist und nicht so hektisch. Das Dorfleben ist tatsächlich etwas langsamer. So habe ich es in Erinnerung. Es gibt zwar bestimmte Vorgaben (etwa die Uhrzeit, wann die Kühe aus dem Stall getrieben werden mussten), aber doch viel Raum. Vielleicht sehe ich das aber auch deshalb so, weil ich damals ein Kind war. Für meine Eltern war die dreifache Belastung – Job, Kinder und der gesamte Haushalt mit Kühen, Hühnern, Stallausmisten, Gemüse pflanzen usw. – sicher anstrengend. Mein Bruder und ich mussten mithelfen, in der Küche und beim Aufräumen, waren aber auch viel draußen.
Hast Du den Eindruck, dass die einfache Art zu leben – etwa auf einem landwirtschaftlichen Betrieb – nicht mehr geschätzt wird?
Wir leben in einer schnelllebigen Zeit, in der Likes und Impressions und Follower zählen. Es geht immer nach vorn, immer höher und schneller und weiter. Dass das Leben abseits dessen wunderschön sein kann, gerät in den Hintergrund. Es fehlt auch, glaube ich, die Wertschätzung dessen, was auf den Tisch kommt. Massentierhaltung ist für mich ein Beispiel dafür, wie maßlos der Mensch und die Industrie geworden sind. Ich bin in einem Umfeld groß geworden, in dem ich wusste, wo die Eier herkommen und der Fisch und das Fleisch, die wir gegessen haben. Auch hier wieder: Unser Essen auf dem Dorf war relativ einfach, wir haben kaum industriell gefertige Produkte konsumiert. Schokolade und andere Süßigkeiten waren etwas Besonderes, Fleisch gab es ein- bis zweimal in der Woche. Würden die Menschen in Massentierhaltungsbetriebe gehen, sie würden ihren Konsum von Fleisch und Eiern usw. überdenken. Hoffentlich.
Tiere sind in der heutigen Zeit zu Objekten verkommen, die effizient sein müssen. Das Leben an sich, die Natur spielt keine Rolle. Die Lebenserwartung von Hühnern liegt normalerweise bei etwa sieben oder acht Jahren, manchmal sogar bei zehn Jahren oder länger. In der Tierhaltung heute wird ein Masthuhn nur etwa sechs Wochen alt, Legehennen werden nach anderthalb Jahren geschlachtet, männliche Küken bald nach der Geburt geschreddert. Und alles nur im Namen des Profits, im Zeichen der Effizienz ...
Noch einmal zurück zu Deiner Kindheit: Drei Klassen hast Du in Mogutowo abgeschlossen und warst eine sehr gute Schülerin …
Ja, ich habe mich vor der Einschulung tatsächlich auf die Schule gefreut, konnte schon lesen, bevor ich in die erste Klasse kam. Wenn mein Bruder mit meiner Mutter auf dem Sofa Lesen übte, stand ich ihnen gegenüber – und habe so spiegelverkehrt lesen gelernt. Ich habe selbst irgendwann Gedichte geschrieben, sie gern vorgetragen und auch gern gesungen.
Wann hast Du damit begonnen? Gab es einen Impuls dafür?
Ich kann nicht genau sagen, wie alt ich war, als ich mit dem Gedichteschreiben angefangen habe. Das muss zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr gewesen sein. Deshalb kann ich auch nicht von einem Impuls sprechen. Ich denke, es war so, dass mich Sprache interessiert hat, dass ich einfach Spaß daran hatte, Reime zu finden. In Deutschland habe ich als Kind und Jugendliche auch Gedichte geschrieben. Vor allem in der Jugendzeit ging es dann schon um die Verarbeitung von Erlebtem, um das Artikulieren von Gefühlen, die ich nicht aussprechen konnte. Diese Gedichte waren meist melancholisch. Vielleicht gehört das einfach zu mir, dieses Traurige und Unaussprechliche. Vielleicht liebe ich deshalb die „Todesfuge“ von Paul Celan. Aber auch Liebesgedichte von Rilke habe ich gern gelesen ...
Wann bist Du nach Deutschland gekommen?
Als Aussiedlerfamilie sind wir 1994 nach Deutschland gekommen. Meine Mutter hat deutsche Wurzeln: Zu Zeiten Katharinas der Großen kamen ihre Vorfahren nach Russland. Deshalb ist sie in einem deutschen Dorf groß geworden, wo Plattdeutsch gesprochen wurde, das wie eine Mischung aus Englisch, Holländisch und Deutsch klingt. Mein Vater ist Russe und wollte lange nicht nach Deutschland. Meine Großeltern siedelten 1989 nach Deutschland über, nach und nach die Geschwister meiner Mutter. Sie wollte auch dorthin, wo alles geordnet und sauber ist. Es gibt lustige Geschichten, die sich die Leute damals erzählt haben.
Kannst Du ein Beispiel nennen?
Zum Beispiel, dass die Straßen in Deutschland so sauber sind, dass man von ihnen essen könnte. Dazu muss man wissen, dass wir auf dem Dorf ohne asphaltierte Straßen gelebt haben. Im Sommer war es also oft staubig und im Herbst matschig.
Wann hast Du die deutsche Sprache gelernt, und wie sah Dein weiterer Weg aus?
Einige Monate, bevor wir mit einigen Koffern per Zug über Moskau nach NRW gekommen sind, hat meine Mutter begonnen, Deutsch mit mir und meinem Bruder zu lernen. Ich weiß noch, dass ich damals „Ente“ nicht von „Ende“ unterscheiden konnte. Mein Wortschatz war damals also nicht so groß. Ich habe mich sehr auf Deutschland gefreut, das war für mich alles sehr spannend. Wir durchliefen hier dann verschiedene Stationen: Aufnahmelager in Hamm, Notunterkunft in Unna, Notwohnung in Dolberg bei Ahlen. Dort hatte ich großes Glück: In der Grundschule gab es zwei vierte Klassen – eine mit Aussiedlerkindern und eine nur mit deutschen Schülern. Ich bin als einziges Aussiedlerkind in letztere Klasse gekommen – keine Ahnung, warum. So habe ich ziemlich schnell Deutsch gelernt.
Ich bin ins zweite Halbjahr der vierten Klasse gekommen, war also ganz neu in einer schon über ein paar Jahre bestehenden Klassengemeinschaft. Dennoch habe ich mich gut aufgenommen gefühlt, sowohl von den Lehrern als auch von den Schülern. Ich habe mit meiner Sitznachbarin mit meinen rudimentären Deutschkenntnissen Späße gemacht, wurde zum Geburtstag einer Mitschülerin eingeladen.
Warum ist Dir das in besonderer Erinnerung geblieben?
Weil ihre Eltern einen Pool hatten, und ich liebe es, im Wasser zu sein. Das war für mich damals etwas Besonderes ... Ich kam dann in die Realschule, mein Deutsch war zu dem Zeitpunkt schon ziemlich gut. Auf dem Zeugnis der vierten Klasse bekam ich sogar eine Empfehlung fürs Gymnasium. Allerdings hatten meine Eltern aufgrund von Geschichten anderer Eltern Angst, ich könnte es auf dem Gymnasium nicht schaffen... Also bin ich zur Realschule I in Detmold gegangen, wo ich auch schnell Freunde gefunden habe. Es gibt eine lustige Geschichte, die sich in der fünften oder sechsten Klasse ereignet hat: Ich habe früher gern gelernt und mich manchmal ein wenig in der Schule gelangweilt. Und unsere Religionslehrerin hat uns einmal bei einem Stuhlkreis gefragt, was wir uns in Bezug auf den Unterricht wünschen. Ich habe die Hand gehoben und gesagt: „Ich wünsche mir mehr Hausaufgaben!“ Mir war es egal, dass meine Mitschüler mich für verrückt hielten ... Ich habe früher zu meiner Meinung gestanden.
Weshalb ist Sprache für Dich wesentlich?
Wie sonst soll man sich mit den Menschen in der neuen Heimat verständigen? Ohne Sprachkenntnisse bleibt man außen vor. Ich finde es schade, wenn Menschen zehn oder 20 Jahre in einem Land leben und die Sprache nicht sprechen. Ich kenne es von einigen Russlanddeutschen, die nach Deutschland gekommen sind, in Betrieben arbeiten, in denen die Belegschaft zum Beispiel größtenteils aus Russen und Kasachen besteht. Zu Hause schauen sie dann russisches Fernsehen, unterhalten sich auf Russisch mit ihren Kindern und haben nicht wirklich tiefergehende deutsche Kontakte. Ich glaube, dann kommt man nicht wirklich im neuen Land an.
Hat Deine Herkunft in der Schule je eine Rolle gespielt? Und wie ging es mit deiner Geschichte weiter?
Nein, meine Herkunft war nie ein Thema. Ich habe mich relativ schnell assimiliert. Nach der Realschule ging ich aufs Wirtschaftsgymnasium und schließlich kam das Studium an der Uni Paderborn. Während des Studiums habe ich angefangen, praktische Erfahrungen zu sammeln, zunächst als Redakteurin der Uni-Zeitung, dann beim Radio und Zeitungsredaktionen in Ostwestfalen. Im Kreis Lippe war ich viel als freie Mitarbeiterin für eine Zeitung unterwegs, habe mit vielen Menschen gesprochen, Artikel geschrieben und fotografiert.
Welche Bedeutung hat für Dich das Unterwegsein?
Als ich journalistisch gearbeitet habe – als freie Mitarbeiterin und Redakteurin –, hat mir das Unterwegssein ermöglicht, viele Menschen, Orte und Institutionen kennenzulernen. Ich kenne mich in den Städten und Gemeinden, in denen ich Menschen interviewt und Themen recherchiert habe, ganz gut aus. Und das ist auch beim Reisen ähnlich: Man kommt an einen Ort, den man vorher nicht kannte, orientiert sich dort, kommuniziert mit Menschen, entdeckt Neues. Ich mag das sehr. Deswegen war ich 2016, zu Beginn meiner Selbstständigkeit im Bereich Text, viel unterwegs: In Taghazout in Marokko habe ich zwei Wochen in einer Unterkunft mit 15 digitalen Nomaden gewohnt; jeder hat an seinen Projekten gearbeitet, aber wir haben auch zusammen Unternehmungen gemacht, waren surfen und haben uns Marrakesch angeschaut.
Welche Reisen sind Dir in besonderer Erinnerung geblieben und warum?
An meine Reise nach Kolumbien muss ich oft denken. Die Atmosphäre in Cartagena war für mich besonders, vielleicht weil ich es dort als sehr entspannt empfand, und die Menschen waren sehr freundlich. An einem Tag bin ich durch die wunderschöne Altstadt gelaufen und zwei ältere Herren, die auf einer Bank saßen, haben mich zu sich gebeten. Ich konnte damals nur ein paar Wörter Spanisch, aber irgendwie haben wir uns ein bisschen unterhalten. Das war ein schöner Moment. Von Kolumbien bin ich – auch mit digitalen Nomaden – mit einem Kreuzfahrtschiff nach Lissabon gefahren. Dort habe ich die meisten Kapitel für mein erstes Buch „Liebe deine Arbeit“ geschrieben.
Was bedeutet Dir das Schreiben?
Das Schreiben ist alles für mich, ich weiß nicht, wer ich ohne das Schreiben wäre. Es hilft mir, meine Gedanken zu ordnen und mich selbst zu reflektieren, aber auch Erfahrungen anderer Menschen weiterzugeben. Ich schreibe gern Geschichten anderer, weil ich finde, dass jeder etwas zu erzählen hat. Und ich gebe auch einen Einblick in meine Entwicklung, um anderen zu zeigen, dass Veränderung nicht von heute auf morgen passiert, dass zum Beispiel der Weg zum Glück eine Reise ist, die ein paar Jahre dauern kann.
Wie haben dich deine Reisen verändert? Was hast du als Erfahrungen mitgenommen oder gelernt?
Ich habe bei meinen Reisen mit digitalen Nomaden verstanden, dass ich nicht auf Dauer nomadisch leben möchte, sondern dass ich ein Zuhause haben will. Meine Reisen in die Ukraine – dort kommt übrigens meine Oma väterlicherseits her – haben mich gelehrt, mir Zeit zu nehmen, nicht so durchs Leben zu hetzen. Die Straßenmusik in Kiew und Lemberg hat mich teilweise zu Tränen gerührt, das ist mir auch sehr in Erinnerung geblieben.
Welche Beziehung hast Du heute zu Russland?
Ich sehe ganz klar Deutschland als meine Heimat. Zu Russland habe ich keine große Verbindung mehr. Ich war mit neun Jahren, als wir übergesiedelt sind, noch relativ jung, und jetzt, mit 34, habe ich deutlich mehr Zeit in Deutschland verbracht als in Russland. Meine Wurzeln sind also hier. Hier habe ich die meisten Lebenserfahrungen gesammelt. Hier habe ich Menschen, die mich annehmen, wie ich bin. Sicher, ich habe in Russland noch Familie. Der Zwillingsbruder meines Vaters lebt noch dort, seine Halbschwester. Es gibt Cousins und Cousinen und deren Kinder. Aber ich habe mit der russischen Lebensart nichts am Hut, im Gegenteil. Vor allem die politische und gesellschaftliche Situation erschrecken mich teilweise, die fehlende Toleranz, die veralteten Sichtweisen.
Wann warst Du das letzte Mal in Russland?
Im Herbst 2015 war ich zuletzt in Mogutowo, habe Verwandte besucht (meine Oma ist am zweiten Tag, nachdem ich angekommen bin, gestorben) – und mich wie ein Alien gefühlt. Ich war da über 30, nicht verheiratet, kinderlos, habe mich (wie jetzt immer noch) vegan ernährt. Für meine Familie war das alles schwer zu akzeptieren. Deshalb fällt es mir auch schwer, über die russische Seele zu schreiben. Ich bin dafür, glaube ich, nicht prädestiniert, weil ich zu deutsch bin. Es gibt die russischen Muttis und Omis, die sehr herzlich und fürsorglich sind, die russische Gastfreundlichkeit, die alten Tantchen, die im Sommer auf der Bank vor dem Haus sitzen und sich etwas erzählen. Aber ich sehe auch die psychologische Komponente dahinter, ich sehe, dass Kinder die Überzeugungen ihrer Eltern übernehmen und ihre Kinder bevormundend erziehen (was natürlich auch in Deutschland passiert). Ich sehe (das ist leider kein Klischee) den Alkoholkonsum im Dorf meines Vaters, weil Perspektiven und irgendein Sinn im Leben fehlen. Mein Bild von Russland ist nicht verklärt und idyllisch, wobei es natürlich wunderschöne Weiten und Natur gibt.
Welche Rolle spielt für Dich die russische Kultur?
Ich habe mich viel mehr mit der russischen Musik beschäftigt als mit der russischen Literatur. Ich spreche und schreibe noch auf Russisch, und manche Lieder (z. B. Podmoskownye Vechera) lassen mich innehalten. Zu Zeiten, als solche Lieder geschrieben wurden, lief die Zeit noch etwas langsamer.
Welche Bedeutung hat für Dich das Lesen?
Eine sehr große! Durch das Lesen habe ich mir die deutsche Sprache erschlossen. Ich habe ab der fünften Klasse sehr viel gelesen und viel Zeit in der Stadtbücherei verbracht. Die ersten Bücher habe ich mit einem Wörterbuch gelesen, habe Wörter rausgeschrieben, die ich nicht kannte, sie übersetzt und die russische Bedeutung danebengeschrieben. Mich hat Sprache immer sehr interessiert, später auch die englische und französische. Aktuell lerne ich Spanisch. Ich halte das Lesen für elementar, um eine Sprache zu lernen, um Zusammenhänge zu verstehen, um Neues zu lernen. Manche Menschen lernen lieber über das Hören – ich brauche das geschriebene Wort.
Was liest Du besonders gern?
Ich habe im Studium so gern Thomas und Heinrich Mann gelesen, bin in vergangene Zeiten eingetaucht, Habe mit Penthesilea gelitten und Günter Grass‘ Tulla gehasst. Heute lese ich das, was mir interessant erscheint, was mich fesselt. Ich habe Stephen King für mich entdeckt und John Grisham, Andreas Eschbach. Mich interessieren Geschichten, die menschliche Komponente: Warum handelt Person X, wie sie handelt? Was hat sie so werden lassen, wie sie ist? Mich interessieren Geschichten vom Wandel, von Transformation: Was hat Person Y getan, um glücklich und gelassen zu werden? Wie hat er oder sie es aus dem tiefen Tal geschafft?
Wie siehst Du Deine eigene Generation Y?
Ich sehe uns Vertreter dieser Generation Y als hinterfragend, als forschend. Wir wollen größtenteils nicht mehr so leben wie unsere Eltern, wir stellen infrage, ob es das Reihenhäuschen sein muss und die Ehe und die Arbeit, die man zwar nicht so gern macht, aber doch bis zur Rente „durchzieht“, um dann das Leben zu genießen. Status ist für viele nicht mehr so bedeutend, Karriere ist nicht so wichtig wie das Leben drumherum. Wir wollen im Grunde leben, nach unseren Vorstellungen, mit unseren Wünschen. Es geht nicht so sehr um Geld, sondern vielmehr um Selbstverwirklichung und das bloße Sein, um Zufriedenheit. Und die lässt sich auch im Kleinen finden.
Was bedeutet Dir das Thema Nachhaltigkeit?
Nachhaltigkeit ist für mich nicht nur eine vegane Ernährung, sondern ein bewusster Konsum im Allgemeinen. Ich lebe relativ minimalistisch, besitze keinen Fernseher und relativ wenig Kleidung und Schuhe. Wenn ich Kleidung kaufe, dann nicht immer neu, sondern oft Second Hand. Ich kaufe mir nicht jedes halbe Jahr ein neues Smartphone, sondern nutze Geräte, solange sie funktionieren. Ich kaufe Obst und Gemüse gern bio, das klappt aber nicht immer ... Ich versuche, so einfach wie möglich zu essen und nicht zu viele industriell produzierte Produkte zu konsumieren. Ich bin, was Nachhaltigkeit angeht, nicht perfekt. Ich fahre zum Beispiel Auto. Auch hier darf jeder schauen, was er verändern kann, was für ihn individuell machbar ist.
Seit Oktober 2013 lebst Du vegan. Warum?
Ich halte Veganismus für eine optimale Möglichkeit, um nicht nur das Tierleid zu beenden, sondern auch Nachhaltigkeit zu leben. Um tierische Produkte zu erzeugen, wird beispielsweise am meisten Wasser verbraucht. Die UNESCO hat ausgerechnet, dass 700 Liter Wasser nötig sind, um ein Kilogramm Äpfel zu produzieren. Ein Kilo Eier verbrauchen 3.300 Liter Wasser, ein Kilogramm Käse 5.000 Liter und ein Kilogramm Rindfleisch sogar 15.500 Liter. Und dabei hört es nicht auf: Kühe bekommen zum Beispiel Soja und Mais zu fressen, die auf Flächen von gerodetem Regenwald angebaut werden. Und dann noch das Thema CO2: Bei Spiegel Online habe ich gelesen, dass die Deutschen jedes Jahr pro Kopf etwa elf Tonnen Treibhausgase produzieren.
Wer sich pflanzlich ernährt, bei ansonsten gleichbleibendem Lebensstil (Auto, Reisen usw.), reduziert seine Bilanz um zwei Tonnen. Das sind, so der Spiegel, etwa acht Economy-Class-Flüge zwischen London und Berlin. Es ist eigentlich notwendig, dass wir ein paar Schritte zurückgehen, dass wir uns wieder darauf besinnen, was wir der Natur und den Tieren antun. Es gibt schon viele nachhaltige Projekte und Konzepte, Urban Gardening, Aktionen gegen Lebensmittelverschwendung, vegane Initiativen. Die Industrie werden wir, glaube ich, so schnell nicht verändern, auch wenn viele Unternehmen, die tierische Produkte herstellen, bereits umdenken und zum Beispiel pflanzliche Alternativen anbieten. Es braucht mehr Aufklärung und ein Bewusstsein für das eigene Tun und Konsumieren, ein Reflektieren. Und das fängt bei jedem Menschen an.
Leider sehe ich, dass viele Menschen in entscheidenden Positionen, die einen Einfluss auf ernährungstechnische Entscheidungen anderer haben, also etwa Ernährungsberater oder Mediziner, in diesem Bereich nicht genug Wissen haben. Es wird immer noch gelehrt, dass Milch und Fleisch gesund sind, obwohl zahlreiche Studien das widerlegen. Ich hoffe, dass die vegane Bewegung weiterwächst, weil Veganismus die Antwort auf so viele Probleme ist: Tierschutz, Umweltschutz, Welthunger.
Wie sollte Nachhaltigkeit kommuniziert werden, damit das Thema die Menschen persönlich angeht und berührt?
Im Grunde geht es darum, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen, sie mit den Themen anzusprechen, die sie bewegen. Wem Gesundheit wichtig ist, der ist möglichweise offen für eine Ernährungsumstellung. Wer sehr aufs Geld achten muss, ist vielleicht interessiert am maßvollen Konsum. Die eine Kommunikationsstrategie gibt es nicht, weil wir Menschen unterschiedlich sind. Manche Menschen werden vegan, nachdem sie Dokumentationen wie „Earthlings“ angesehen haben. Andere zucken nicht mit der Wimper, wenn sie das täglich stattfindende Elend in Massentierhaltungsbetrieben sehen. Manche lesen über den Klimawandel und nutzen öfter die öffentlichen Verkehrsmittel oder das Fahrrad, andere wollen nicht auf den Komfort verzichten. Ich glaube, es ist in den unterschiedlichen Bereichen der Nachhaltigkeit essenziell, den Menschen zu zeigen, dass eine Veränderung keinen Verzicht bedeuten muss. Aber oft kommt man einfach nicht gegen die Gewohnheiten der Menschen an ...
Warum sollten die Fridays-for-Future-Bewegung und die Anliegen der Jugend ernst genommen werden?
Ich finde, dass schon Kinder ernst genommen werden sollten, einfach weil jeder Mensch von Beginn an ein Individuum ist – mit Ideen und Vorstellungen, die wichtig sind. Jeder Mensch ist wichtig, jeder hat etwas zu sagen. Ein kleines Baby kann sich vielleicht noch nicht artikulieren, aber es hat auch Bedürfnisse und eine Persönlichkeit. Neulich hörte ich eine russische Redewendung, die mich auf die Palme gebracht hat: „Wenn sich Erwachsene unterhalten, sitzen die Kinder in der Ecke und popeln.“
Solch eine Einstellung (und die findet sich nicht nur in Russland) ist der Grund dafür, dass Kinder und Jugendliche verstummen, dass sie ihre Talente und Fähigkeiten „vergessen“, dass sie anfangen zu denken, dass sie nicht wichtig sind, dass ihre Meinung nicht zählt. Und dann richten sie sich nach dem, was andere sagen, gehen genau den Weg, den vielleicht schon ihre Eltern gegangen sind, um dann mit Anfang/Mitte 30 festzustellen, dass sie unglücklich sind. Das ist jetzt eine sehr vereinfachte Darstellung; es gibt viel mehr Aspekte, die auf dem Weg ins Erwachsenenleben zu berücksichtigen sind. Aber die Selbstwirksamkeit ist ein entscheidender Faktor, um erfolgreich erwachsen zu werden. Sich selbst zu kennen, sich selbst zu vertrauen, seine Meinung sagen zu können.
In der Pädagogik ist die Bindungsorientierung ein relativ neuer Ansatz, es geht darum, dem Kind auf Augenhöhe zu begegnen, es anzunehmen, ernst zu nehmen, sich als Erwachsener nicht über seine Bedürfnisse zu stellen. Natürlich darf es auch Grenzen geben, aber es geht vor allem um eine vernünftige Kommunikation, um ein Gehört- und Verstandenwerden.