Deutschlands Unternehmen benötigen auffällig wenig Gas – das steckt dahinter
Düsseldorf. Es klingt nach einer guten Nachricht: Die energiebedingten CO2-Emissionen sind laut einer Schätzung des Vereins AG Energiebilanzen in den ersten drei Quartalen 2023 um elf Prozent gesunken. Denn Deutschland hat neun Prozent weniger Energie verbraucht als im Vorjahr.
Das wird vor allem im Bereich Gas sichtbar. Hier lag der Verbrauch der Industrie in den ersten drei Quartalen dieses Jahres laut Bundesnetzagentur sogar rund 20 Prozent unter dem Durchschnittsverbrauch der Jahre 2018 bis 2021.
Doch was wie ein Erfolg für den Klimaschutz wirkt, hat eine gefährliche Kehrseite. Verantwortlich für den Emissionsrückgang sind nicht nur Umweltschutzmaßnahmen – sondern vor allem wirtschaftliche Probleme bei Deutschlands energieintensiven Unternehmen.
Deutlicher Produktionsrückgang in der energieintensiven Industrie
Aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, wie stark die Produktion der energieintensiven Industrie in Deutschland eingebrochen ist. Aus einem Produktionsindex, den die Behörde veröffentlicht, lässt sich errechnen: Die Produktion lag in den ersten drei Quartalen 2023 rund 15 Prozent unter dem Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2021.
Der Index liegt aktuell so tief wie seit Jahren nicht. Selbst im Coronajahr 2020 produzierte die energieintensive Industrie demnach deutlich mehr als in den ersten neun Monaten dieses Jahres.
Die Daten passen zu Aussagen großer Energieverbraucher in Deutschland. Die Kölner Lanxess AG teilt mit: „In der gesamten Chemieindustrie wird weniger produziert, was den Gasverbrauch im Vergleich zum Vorjahr reduziert.“ Auch der Kunststoffhersteller Covestro rechnet damit, in diesem Jahr verglichen mit dem Vorkrisenniveau gut 20 Prozent weniger Gas zu verbrauchen. Und ein Sprecher des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) sagt, die Chemieproduktion liege insgesamt ein Fünftel unter dem Niveau von 2021.
Der Industrieverband Feuerverzinken spricht mit Blick auf seine Mitglieder von Gaseinsparungen zwischen fünf und zwanzig Prozent – und einem durchschnittlichen Produktionsrückgang von sieben Prozent im ersten Halbjahr.
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Energiekrise: Energiesparende Produktionsprozesse
In der Branche mangelt es eigentlich nicht an Positivbeispielen, in denen tatsächlich Prozesse effizienter gemacht wurden. Andree Simon Gerken, Experte für Energiewende und Dekarbonisierung bei der Beratung PwC, sagt: „Die Energiekrise – bei all den negativen Auswirkungen – hatte auch den Effekt einer der größten Klimaschutzmaßnahmen, die es gab. Dadurch hat die Industrie viele Energiesparmaßnahmen erlernt, die jetzt weiterlaufen.“
Solche Schritte finden sich quer durch die Industrie: So hat etwa das nordrhein-westfälische Metallverarbeitungsunternehmen Mannstaedt gemeinsam mit Eon industrielle Abwärme aus einem Prozess-Ofen ausgekoppelt und nutzt sie vor Ort. So spart das Unternehmen jährlich 10.000 Megawattstunden Erdgas ein – rund acht Prozent seines Gesamtverbrauchs.
Die Unternehmensberatung Simon Kucher berichtet, Firmen hätten Schmelzen für Primärmetall temporär stillgelegt und stattdessen den Anteil der Schrottnutzung erhöht. Der Kupferhersteller KME hat seine Nutzung recycelter Materialien von 2021 bis 2022 um zwölf Prozent erhöht und außerdem erdgasbetriebene Feuerungsanlagen elektrifiziert.
Der Chemiekonzern BASF hat mit besseren Sensoren den Verbrauch von Prozessdampf gesenkt, der mit Gas hergestellt wird. Der Kunststoffhersteller Evonik setzt an einzelnen Standorten auf eine neue digitale Steuerung der Dampfströme in seinen Anlagen.
Und das Industrieunternehmen Thyssen-Krupp hat teils Vorwärmprozesse für Großanlagen angepasst und Produktionsprogramme nach Duisburg verlagert, „um die Vorteile des Energieverbundes auszuspielen und so Gas und Strom einzusparen“.
Gas-Einsparungen durch andere fossile Energieträger
Klar wird aber auch: Dahinter steht massiver wirtschaftlicher Druck. Von einem Thyssen-Krupp-Sprecher heißt es etwa: „Wir ergreifen jetzt vielfache Maßnahmen, die Gas und Strom einsparen, aber die wir unter wirtschaftlich normalen Bedingungen nicht umsetzen würden, um unsere Prozesse aufrechtzuerhalten und unsere Kunden zu versorgen.“
In vielen Fällen stecken hinter Gaseinsparungen auch einfach Ausweichmanöver auf andere, nicht selten ebenfalls fossile Energieträger. Mirko Schlossarczyk von der Energieberatung Enervis sagt: „Industrien haben im vergangenen Jahr ihre Produktion umgestellt, wo dies möglich war. Zum Beispiel in bivalenten Feuerungsanlagen von Gas auf Erdöl oder sogar auf Strom.“
Auch PwC-Experte Gerken berichtet, in einigen Fällen hätten Unternehmen bereits Gasprozesse auf Strom umgestellt. Andere hätten aber für viel Geld ihre alten Rohöltanks wieder aufgefüllt, um wirtschaftlich zu überleben.
Mit sogenannten „Fuel Switches“ – also Brennstoffveränderungen – hat auch das Chemieunternehmen Evonik ein Drittel seines früheren Gasbedarfs substituiert. Das Unternehmen hat unter anderem auf die Abschaltung des Kohleblocks im Kraftwerk Marl verzichtet und lässt ihn bis März 2024 statt bis Ende 2022 weiterlaufen. Dazu kam der Umstieg auf andere Energieträger wie Öl.
Gaspreise sind auch ein Jahr nach der Energiekrise hoch
Es erscheint auf den ersten Blick nicht intuitiv, dass Unternehmen immer noch so bedacht darauf sind, Gas einzusparen, obwohl die Spitzenzeiten der Energiekrise längst vorbei sind. Der Gaspreis, der im vergangenen Sommer mal bei 300 Euro pro Megawattstunde lag, hat sich wieder bei um die 50 Euro eingependelt.
50 Euro aber empfinden viele Unternehmen noch immer als zu viel. Vor der Krise lagen die Preise teils zwischen fünf und 15 Euro. Vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) heißt es entsprechend: „Nimmt man das Vorkrisenniveau als Mittel, stellen die Gaspreise immer noch eine hohe Belastung dar.“
Außerdem ist nicht klar, mit wie viel Verzögerung die hohen Börsenpreise für Gas bei den Unternehmen angekommen sind. So sagt ein BDI-Sprecher: „Grundsätzlich ist es natürlich möglich, dass Unternehmen Verträge zu günstigeren Bedingungen mit langen Laufzeiten hatten, die nun aber auslaufen.“
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Hohe Energiekosten: Angst vor der Deindustrialisierung
Die Industrie leidet weiterhin unter hohen Preisen. Von Thyssen-Krupp heißt es: „Die gestiegenen Energiekosten stellen für die gesamte Gesellschaft, für jeden Einzelnen und gerade auch für energieintensive Industrien wie die Stahlindustrie eine existenzielle Bedrohung dar.“
Energieexperte Gerken sieht deshalb gerade viele Unternehmen an einem möglichen Wendepunkt. „Sie realisieren, dass es eine Menge Geld kostet, ihre Produktion zu dekarbonisieren“, sagt er. Gerken warnt: „Ich höre von Unternehmen, die zur Dekarbonisierung all ihre Anlagen umbauen müssten. Und wenn sie eh neue Anlagen bauen müssen, liegt es nahe, darüber nachzudenken, dies auch in anderen Ländern zu tun – mit besseren Rahmenbedingungen für klimaneutrale Energien.“
Entsprechende Warnungen aus der Industrie gibt es bereits. Erst vor einigen Tagen hatte der Chef des Spezialchemieunternehmens Alzchem, Andreas Niedermaier, dem Handelsblatt gegenüber deutlich gemacht, dass er sich durch die hohen Energiekosten regelrecht aus Deutschland vertrieben fühle.
Auch der Düngemittelhersteller SKW Piesteritz hat wegen hoher Gaspreise gedroht, Teile seiner Produktion nach Österreich auszulagern. Und der Chemiekonzern BASF hat bereits ernst gemacht: Im Frühjahr hat er verkündet, mehrere energieintensive Anlagen, etwa für Ammoniak, zu schließen.
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