Die Bedeutung von Augenhöhe
Mein erster Artikel als Xing-Insider, ein Meilenstein für mich. Den Artikel selbst haben wir erstmalig 2015 geschrieben und letztes Jahr aktualisiert. Da wir beide kontinuierlich neues lernen, ist das eine oder andere auch anlässlich der Veröffentlich hier auf Xing neu hinzugekommen.
Anmerkung: Wenn ihr im Artikel "wir" lest, meine ich damit jeweils Andreas Messerli, meinen Geschäftspartner.
Wie alles begann...
2014 sind wir durch Zufall via dem Netzwerk intrinsify.me auf das Projekt „AUGENHÖHE – Film und Dialog“ gestossen. Schnell waren wir Feuer und Flamme und haben uns auch gleich am Crowdfunding beteiligt ohne überhaupt zu wissen, wie das Endergebnis aussehen könnte. Wir waren einfach von der Idee überzeugt. Selbstredend, dass wir 2015 zur Premiere nach Hamburg gereist sind. Und dort waren wir dann doch überrascht, wie unterschiedlich das Verständnis des Begriffs ‚Augenhöhe‘ überhaupt war. Hier nur einige Antworten, die wir auf die Frage erhielten, was denn Augenhöhe sei:
Wenn der Chef seinen Mitarbeitern mehr Wertschätzung entgegen bringt. Wenn ein Unternehmen auf flexible und flache Strukturen setzt.
Wenn Möglichkeiten für Work-Life-Balance vorhanden sind.
Wenn der Mensch und nicht die Arbeit im Mittelpunkt steht.
Wenn die Work-Life Balance stimmt.
Es scheint also schon mit dem Menschen zu tun haben, aber klarer wurde es dadurch nicht für uns. Das ist grundsätzlich auch kein Problem, wir schätzen Unterschiedlichkeit. Dennoch hilft es, ein gemeinsames Verständnis zu haben, wenn man einen Begriff verwendet. Und so überlegten wir uns, was Augenhöhe für uns bedeutet.
Visuelle Darstellung
Im engeren Sinne ist Augenhöhe die vertikale Positionierung der Augen, durch welche die Körpergrösse anderer Personen mit der eigenen verglichen wird. Übertragen auf die zwischen-menschliche Interaktion steht dies für uns gleichbedeutend mit gegenseitiger Gleichwertigkeit unabhängig von eigenen Bewertungen.
Was heisst das aber nun genau in der Realität?
Hört sich erst einmal recht theoretisch an. Und doch ist bildlich gesprochen ein schöner Vergleich - siehe auch die Grafik des Textes. Denn in erster Linie entsteht Augenhöhe aus uns heraus, d.h. von innen nach aussen. Denn nur ich als Betrachter bin in der Lage, mir einen anderen Menschen als grösser oder kleiner vorzustellen. Tue ich das, bin ich automatisch mit Emotionen oder Gedanken meiner eigenen Unter- oder Überlegenheit konfrontiert. Und damit ist dann auch das Auf- oder Abwerten meines Selbstwerts sowie der Beurteilung des „Wertes“ meines Gegenübers verbunden.
Augenhöhe…
ist dann möglich, wenn sich Menschen in der Begegnung als tatsächlich gleichwertig, d.h. ohne Bewertungen und Erwartungen sehen.
entsteht bei jeder Begegnung neu, also im hier und jetzt.
dauerhaft beizubehalten ist unrealistisch.
Augenhöhe ist vor allem eine Frage der inneren Haltung.
Entscheidend dabei ist die Absicht, Augenhöhe immer wieder erreichen zu wollen. Denn wir sind nicht perfekt – die Absicht zählt also.
Schnelles Denken, langsames Denken – bewerten ist überlebenswichtig
Daniel Kahnemann beschreibt in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ zwei unterschiedliche Denksysteme, die der Mensch einsetzt, um zu beurteilen, bewerten und darauf Entscheidungen zu treffen. Er unterscheidet dabei zwischen dem schnellen Denken und dem langsamen Denken. Diese kann man wie folgt grob beschreiben:
System 1: Schnell, automatisch, immer aktiv, emotional, stereotypisierend, unbewusst
System 2: Langsam, anstrengend, selten aktiv, logisch, berechnend, bewusst
Die Entscheidungen werden über das System 1 (schnell) getroffen und basieren auf alten Erfahrungen, Erinnerungen und Verknüpfungen. System 1 übernimmt für uns das vergleichen und bewerten von uns und unserer Umwelt und entscheidet innerhalb von Millisekunden, was für uns selbst gut/schlecht, positiv/negativ oder auch richtig/falsch ist. Dies ist ein Mechanismus, der bereits früher für unser Überleben gesorgt hat.
Ist ein Geräusch gefährlich oder harmlos für mich?Macht das Auto vor mir eine Vollbremsung oder rollt es nur langsam an die Ampel heran?Stufe ich eine Person für gefährlich oder ungefährlich ein?
Stellen wir uns vor, wir müssten jede Entscheidung bewusst und damit genau analysiert treffen – wir würden es am Abend vermutlich nicht weiter als zur Haustier hinausgeschafft haben.
Heute spielen dort vor allem auch Sympathie und Antipathie für andere Menschen eine Rolle, die mit ganz unterschiedlichen Aspekten verknüpft sind: Alter, Geschlecht, kultureller und sozialer Hintergrund, Bildungsstand, Rollenbilder, Position in der Unternehmens-Hierarchie oder sozialer Status um nur einige zu nennen.
Denn egal ob wir wollen oder nicht – wir werden immer Wesen bleiben, die mit Bewertungen funktionieren. Wenn wir uns dessen bewusst sind, haben wir aber die Wahlfreiheit, uns anders zu entscheiden. Dies erfordert aber die Fähigkeit, den Moment zu erkennen, in dem ich mit System 1 automatisch reagiere. Und vermutlich wird jeder die Momente kennen, wo die schönsten Vorsätze dahin sind - egal ob im Verein, mit Kindern, in der Beziehung, mit unseren Eltern und natürlich auf der Arbeit mit Mitarbeitenden, Kunden, Partnern und Chefs.
Es reicht, wenn mein gegenüber einfach anders denkt und handelt als ich es persönliche tue. Wenn für mich meine Welt die einzig wahre ist, dann werde ich auch andere danach beurteilen. Und alleine hierdurch sind schon Spannungen und Konflikte vorprogrammiert, in denen Augenhöhe schnell vom Tisch ist. Dann reicht es, wenn man im falschen Moment angesprochen wird und ist schnell auf 180. Ein darauffolgender Streit ist in den wenigsten Fällen konstruktiv. Vermutlich hat jeder von uns seine eigenen, persönlichen Trigger-Punkte. Und das ist normal.
Oder anders ausgedrückt: Wenn ich es nicht besser weiss, nutze ich einfach das, was ich kenne in allen Situationen. Es geht also vor allem um mehr Bewusstheit.
Augenhöhe erfordert persönliche Entwicklung
Ohne zu wissen, in welchen Situationen ich automatisch reagiere und mich nicht auf Augenhöhe befinde, kann ich auch nicht erkennen, wann es soweit ist. Es braucht also Reflektion dazu, wissen über die eigenen Triggerpunkte und die Fähigkeit, mindestens innehalten zu können.
DEN universellen Weg gibt es nicht. Eine Variante, die sich in unserer Praxis bewährt hat, besteht aus 3 Schritten:
Bewusst werden – Selbstkenntnis (ICH): Was triggert mich gerade an? Brauche ich erst einmal einen Moment für mich? Kann ich ich dennoch auf Augenhöhe mit einem anderen Menschen kommen? Oder was benötige ich dafür?
Solange diese Art der Selbstklärung nicht abgeschlossen ist, werde ich mit den nächsten beiden Schritten eher Mühe habe.
Gegenüber einschätzen – Menschenkenntnis (DU): Was könnte den anderen Menschen beschäftigen? Was könnte ihm wichtig sein?
bewusste Interaktion – Sozialkompetenz (WIR): Wie kann ich das, was mir wichtig ist und das, was meinem Gegenüber wichtig sein könnte, berücksichtigen?
Ganz nebenbei – was bringt’s mir eigentlich
Das ist – für uns – die zentralste aller Fragen, da es den Schlüssel zur eigenen Motivation darstellt. Denn ohne intrinsische Motivation ist echt Veränderung nicht möglich. Menschen machen Systeme. Und so mag es nicht verwundern, dass die Motive sowohl auf persönlichen wie auch unternehmerischen Level sehr vielfältig sein können. Dennoch hier einige Möglichkeiten:
Aus persönlicher Sicht: Persönlicher Frieden und damit mehr Zufriedenheit, mehr (eigene) Freiheit, stabilere Beziehungen, einfachere Zielerreichung undundund...
Aus Unternehmenssicht: Weniger Spannungen und Konflikte, höhere Arbeitgeberattraktivität, höheres Mitarbeiterengagement, gesteigerte Innovationsfähigkeit, nachhaltigere Kundenbeziehung undundund...
Aus welchen Gründen aber Augenhöhe in den meisten Unternehmen eher schwierig zu sein scheint, greife ich in einem der kommenden Artikel auf.
Also Arbeiten auf Augenhöhe und alles ist gut?
Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Denn dort wo Menschen zusammentreffen und sich zu einer Organisation formieren, gibt es neben der menschlichen Seite auch immer die des Systems, d.h. Strukturen, Prozesse, Abläufe, Organisation etc.
Wächst man z.B. überwiegend auf der Seite der Zusammenarbeit ohne die Rahmenbedingungen auf Seiten des Systems zu verändern, so kann das schnell zu Frust und mehr führen und eine Negativ-Spirale auslösen.
Wächst man dahingehend überwiegend auf Seiten des Systems z.B. durch Agile Strukturen ohne die Seite des Menschen zu berücksichtigen, kann dies z.B. zur Überforderung führen, die die neu-gewonnene Verantwortung schwer angenommen werden kann.
Wir sind daher überzeugt, dass es Wachstum auf beiden Seiten benötigt – Mensch UND System.
Was bedeutet für euch Augenhöhe?
Wir sind sicher, dass es nicht DIE richtige Vorstellung davon gibt, was Augenhöhe ist. Daher sind wir daran interessiert, was euer Verständnis von Augenhöhe ist. Diskutiert hier auf Xing, kommt bei uns auf einen Kaffee vorbei, schreibt uns eine eMail.
Wir sind in jedem Fall gespannt!
Mit einem herzlichen Gruss
Ralf