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Die Chance für Open Innovation

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Wenn Unternehmen gemeinsam Lösungen entwickeln, kann dies ungeahnte Kräfte freisetzen. Nie war die Bereitschaft dazu größer als jetzt.

Von Linus Dahlander, Martin W. Wallin

In den ersten Krisenmonaten des Jahres 2020 geschah etwas Erstaunliches: Unternehmen legten ihre Scheuklappen ab und öffneten sich der Zusammenarbeit. Es ging nicht mehr um den Gewinn des Einzelnen; im Vordergrund stand, gemeinsam etwas Wertvolles zu schaffen. Siemens öffnete seine 3-D-Druck-Plattform Additive Manufacturing Network, damit Ärzte und Krankenhäuser schnell an Ersatzteile für medizinische Geräte gelangten. In Schweden taten sich der Lkw-Hersteller Scania und das Karolinska-Universitätskrankenhaus zusammen: Scania baute Anhänger zu mobilen Teststationen um und beauftragte 20 seiner Einkaufs- und Logistikexperten damit, Schutzkleidung für Mitarbeiter im Stockholmer Gesundheitswesen zu besorgen. Der US-Autobauer Ford machte mit der Gewerkschaft UAW, dem Medizintechnikunternehmen GE Healthcare und dem Technologiekonzern 3M gemeinsame Sache, um im US-Bundesstaat Michigan Beatmungsgeräte herzustellen. Zum Einsatz kamen Sitzlüfter aus dem Pick-up-Modell F-150, tragbare Batterien und Teile aus dem 3-D-Drucker.

Solche Kooperationen, das wissen wir aus Erfahrung, hätten in normalen Zeiten so gut wie keine Chance. Seit mehr als einem Jahrzehnt forschen wir zum Thema Open Innovation. Wir haben Tausenden von Managern und Studenten beigebracht, wie sie Innovationsprozesse für Externe öffnen, aufteilen und dezentralisieren können. Unsere Kursteilnehmer sind fast immer einer Meinung: "Wir brauchen mehr davon in unserem Unternehmen!" Die Begeisterung ist da. Aber in den Unternehmen bleiben dann die meisten Initiativen schon im Ansatz stecken. Wieder und wieder haben wir gesehen, wie Hackathons und andere Formen von Open Innovation haufenweise kreative Ideen hervorgebracht haben – von denen letztlich keine einzige umgesetzt wurde. Zurück blieben frustrierte Manager, Mitarbeiter und Geschäftspartner.

Bekannt geworden ist der Begriff Open Innovation durch Henry Chesbrough, der an der University of California in Berkeley lehrt. In seinem aktuellen Buch "Open Innovation Results" (Oxford University Press 2019) dokumentiert er, wie der Dax-Konzern Bayer Tausende Forscher in der Forschung und Entwicklung beschäftigt, aber nur zwei Leute damit beauftragt hat, Lizenzen für ungenutzte Ideen zu vergeben. Dabei ist das ein wesentlicher Teil von Open Innovation. Ähnliches sehen wir in vielen anderen Unternehmen. Kurz gesagt: Die Hoffnungen, die sich mit offenen Innovationsprozessen verbinden, haben sich bisher nicht erfüllt.

Doch das könnte sich nun ändern. In der Krise legen Unternehmen eine nie gekannte Kooperationsbereitschaft an den Tag. Das deutet darauf hin, dass sich Manager der Chancen offener Innovation bewusst werden. Die Idee ist klar: Wenn Unternehmen ihre Fähigkeiten bündeln, können sie Lösungen finden, auf die sie allein nie gekommen wären. Es geht nicht nur um mehr Wertschöpfung, neue Dienstleistungen oder neue Produkte. Sondern auch um etwas viel Wichtigeres: Open Innovation kann die Basis für eine lange, nachhaltige Zusammenarbeit liefern. Die soziologische Forschung hat gezeigt: Vertrauen entsteht, wenn Partner füreinander die sprichwörtliche Extrameile gehen – sie tun nicht nur das Nötigste, sondern weit mehr.

Sind die Bedenken der Vergangenheit nicht mehr relevant? Offene Innovation, so hieß es, gefährde geistiges Eigentum, lohne sich wirtschaftlich nicht und könne unvorhersehbare Folgen nach sich ziehen. All das bleibt wichtig. Aber Unternehmen sind gut beraten, sich jetzt auf die Chancen zu konzentrieren. Ihnen bietet sich eine einmalige Gelegenheit, neue, vielversprechende Partnerschaften zu schließen, die auch über die Krise hinaus Bestand haben. Hier sind vier Ratschläge, wie Manager die Hürden überwinden können, die Open Innovation bislang im Weg standen.

Untersuchungen haben ergeben: Viele Unternehmen sorgen sich vor allem darum, dass bei Kooperationen mit externen Partnern Werte aus ihren Organisationen abfließen könnten. Deshalb behalten sie all das, was sie für wichtig halten, für sich und beschränken die Zusammenarbeit auf Randbereiche. Wir kennen einige Chemieunternehmen aus Europa und den USA, die es ihren Open-Innovation-Partnern auf diese Weise so gut wie unmöglich machten, hilfreiche Beiträge zu liefern. Sie wollten ihnen nicht sagen, wo ihre größten Probleme lagen – weil sie befürchteten, das könnte künftige Patente gefährden. Als Folge versank die Partnerschaft in der Bedeutungslosigkeit.

Bedenken mit Blick auf geistiges Eigentum sind natürlich nicht von der Hand zu weisen. Aber sie können Open-Innovation-Initiativen daran hindern, überhaupt erst in Gang zu kommen. In der Corona-Krise kann es sinnvoll sein, erst einmal die Entwicklung eines neuen Angebots anzugehen, statt direkt dessen Kommerzialisierung im Auge zu haben. Unternehmen müssen ihren Partnern dafür einen Vertrauensvorschuss geben. Am besten ist es natürlich, Projekte zu verfolgen, die das eigene geistige Eigentum gar nicht erst in Gefahr bringen. Der Lkw-Hersteller Scania beispielsweise schickte einige seiner Produktionsexperten zur Arbeit nach Stockholm, um dem Medizintechnikunternehmen Getinge beim Aufbau einer Produktion von Beatmungsgeräten zu helfen. Das gefährdete in keiner Weise die eigenen technologischen Werte.

Ähnliches haben wir bei deutschen Start-ups beobachtet. Fintech-Vorreiter wie Finleap, Wefox und andere riefen die Non-Profit-Initiative "GesundZusammen" ins Leben. Ziel war es, technologische Lösungen für die Corona-Krise zu erarbeiten – etwa eine App, mit der sich Ansteckungen nachverfolgen lassen und die den strengen deutschen Datenschutzregeln entspricht. Zu den Partnern gehören prominente Digitalunternehmen wie die Bank N26 und der Lieferservice Delivery Hero ebenso wie Beratungsexperten der Boston Consulting Group und von Deloitte. Vorbehalte, jemand könnte das geistige Eigentum der anderen stehlen, sind uns nicht zu Ohren gekommen.

Die Erfahrung zeigt, dass die anfängliche Begeisterung für Open-Innovation-Initiativen nicht lange anhält. Unternehmen stellen dann fest, dass sie auf freiwillige und aktive Teilnahme von Mitarbeitern und Partnern angewiesen sind. Eine große Herausforderung ist die Tatsache, dass die traditionellen Mittel der Führung – gern als "Command and Control" bezeichnet – bei derartigen Kooperationen schnell an ihre Grenzen stoßen. Unternehmen sollten deshalb sowohl harte als auch weiche Anreize setzen, um interne und externe Mitarbeiter zu motivieren. Bei aller Verzweiflung ist die Corona-Krise auch eine Chance, die eigenen Leute hinter einem Ziel von höherer Bedeutung zu vereinen. Das Gleiche muss auch bei den Partnern geschehen.

Unsere Forschung über Open-Source-Software hat beispielsweise die unterschiedlichen Motivationen von Entwicklern aufgezeigt. Einige teilen bereitwillig ihren Code, weil sie sich davon Vorteile auf dem Arbeitsmarkt erhoffen. Gleichzeitig sind viele von ihnen von starken ethischen Bedenken getrieben. Sie widersetzen sich allen Bestrebungen, Software zu entwickeln, die nicht frei zugänglich ist sowie verändert und öffentlich verbreitet werden kann. Manche Unternehmen wiederum haben andere Motivationen: Sie wenden meist deshalb freiwillig Zeit und Ressourcen auf, weil sie auf Fähigkeiten aus der Onlinecommunity zugreifen können, über die sie selbst nicht verfügen.

Manager sind gut beraten, die wahren Motivationen ihrer Partner zu identifizieren – und auf sie einzugehen. Daimler beispielsweise kooperiert mit dem Deutschen Roten Kreuz und der Uniklinik Ulm, um einen ehemaligen Überlandlinienbus von Mercedes-Benz in den größten Intensivtransportwagen Deutschlands zu verwandeln: Er hat vier Betten, ist mit medizinischem Gerät und Medikamenten ausgestattet und verfügt über Blaulicht und Signalhorn. Das Interesse von Daimler könnte darin liegen, Erkenntnisse über ein neues Krankenwagendesign zu gewinnen, das mehr Platz für Intensivpatienten vorsieht. Gleichzeitig ist das Unternehmen aber ebenso motiviert wie seine Partner, einen Beitrag zur Lösung der Krise zu leisten.

Unternehmen, die sich außerhalb ihres üblichen Geschäftsfelds engagieren, könnten auch neue Bereiche entdecken, in die zu expandieren sich lohnen könnte – solche, die ihnen zuvor nicht in den Sinn gekommen wären. Der Heizungsspezialist Viessmann etwa hat mit der RWTH Aachen und dem Eon Energy Research Center ein Beatmungsgerät entwickelt. Einige Komponenten kamen zuvor in den Gasheizungen des Herstellers zum Einsatz. Dieses Projekt ging auf die Initiative von Mitarbeitern zurück. Auch hier wird deutlich: Sind Unternehmen und ihre Partner aus anderen Branchen gleichermaßen motiviert, kommen sie manchmal auf kreative Lösungen, die womöglich effizienter sind als bestehende Technologien.

Eine häufige Herausforderung bei Open Innovation ist der Zusammenschluss mit neuen Partnern. Sie bedeuten zunächst einmal Kosten – Suchkosten, Überprüfungskosten, Compliancekosten und den Aufwand, neue soziale Beziehungen zwischen Mitarbeitern unterschiedlicher Organisationen aufzubauen. Das Ausmaß der Krise hat zumindest zwei der größten Hürden für die Zusammenarbeit gesenkt.

Erstens hat das Topmanagement in vielen Unternehmen die Verantwortung für potenzielle Risiken übernommen, indem es die eindeutige Botschaft ausgesandt hat, dass Open Innovation der richtige Weg ist. Jim Hackett zum Beispiel, der President und CEO von Ford, hat seine Ingenieure und Entwickler aufgefordert, bei der gemeinsamen Lösungssuche mit GE Healthcare Kreativität und Bastelfreude an den Tag zu legen.

Zweitens: Es gibt nun viel mehr mögliche Partner als zuvor. Die Corona-Krise betrifft Unternehmen auf der ganzen Welt, und viele, die es vorher nicht waren, sind jetzt Kooperationen gegenüber aufgeschlossen. Weil Agilität wichtig ist, sind – wenig überraschend – viele Start-ups darunter. Der deutsche Drohnenhersteller Wingcopter zum Beispiel ist vor Kurzem eine Partnerschaft mit dem Paketriesen UPS eingegangen, um Lieferungen schneller ans Ziel zu bringen und entlegene Gebiete besser zugänglich zu machen. Langfristig könnte die Kooperation wegweisend für die Zukunft der Paketlieferungen sein.

In normalen Zeiten sind die ersten Schritte hin zu einer Innovation relativ simpel. Sie können beispielsweise ein paar Innovationsberater beauftragen, einen Ideenwettbewerb veranstalten und die Vorschläge bewerten, die sich daraus ergeben. Besonders großen Erfolg werden Sie damit in der Regel jedoch nicht erzielen. Open Innovation kann nur dann ihr volles Potenzial ausspielen, wenn Unternehmen erkennen, dass sie sich und ihr Geschäftsmodell grundlegend verändern müssen.

Wer sich mit Change-Management beschäftigt, weiß: Operative und strukturelle Veränderungen von Organisationen sind schwer durchzusetzen. Ein einzelner Mitarbeiter, ein Team oder sogar eine Geschäftseinheit kann dies normalerweise allein nicht bewerkstelligen.

In Krisenzeiten sieht das anders aus. Plötzlich erkennt auch das Topmanagement die Notwendigkeit, dem Unternehmen eine neue Richtung zu geben – und wird selbst zum Treiber des Wandels. Das erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit ungemein.

Die Hochschulen zeigen derzeit, dass auch ein konservativer Sektor sich verändern kann – und das drastisch. Uns Professoren wurde vielerorts von einem Tag auf den anderen gesagt, dass der Unterricht von nun an online stattfinden müsse und wir digitale Alternativen entwickeln sollten. Zum Teil waren wir dabei auf uns selbst gestellt, wir bekamen aber wichtige Unterstützung: Universitätspräsidenten ermutigten uns zu Experimenten und räumten bürokratische Hürden aus dem Weg. In den vergangenen Monaten haben sich Akademiker rund um den Globus zusammengetan, um Tipps, Tricks, Lehrpläne und Erfahrungen auszutauschen und aus schwerfälligen Bildungseinrichtungen agile Sprinter zu machen.

Ein anderes Beispiel ist die "Mittelstandsinitiative Covid-19" des Biotechunternehmens Centogene. Hunderte kleine und mittelständische Firmen aus ganz Deutschland haben sich ihr angeschlossen. Sie kommen aus so unterschiedlichen Bereichen wie dem Gesundheitswesen, der Bauwirtschaft, der Plastikproduktion und der IT-Wirtschaft. Gemeinsam wollen sie die Kapazität für Corona-Tests von wenigen Zehntausend auf eine Million am Tag steigern.

Diese Beispiele zeigen, dass ein gemeinsames Ziel Berge versetzen kann. Wer die Innovationsprozesse in seinem Unternehmen von Grund auf neu strukturieren will, sollte die Gunst der Stunde nutzen. Nie war es leichter als jetzt, Unterstützung für Veränderungen zu erhalten.

Die Vielzahl von Open-Innovation-Prozessen in den vergangenen Monaten ist eine vielversprechende Entwicklung. Aber: Wenn das Geschäft zur Normalität zurückkehrt – wird dann auch die Offenheit gegenüber Open Innovation wieder zurückgehen? Wir hoffen nicht. Im Gegenteil: Vielleicht hat die weltweite, vereinte Reaktion auf den gemeinsamen Feind Coronavirus die Geschwindigkeit, Stärke und Kreativität freigesetzt, um auch größere Herausforderungen wie den Klimawandel erfolgreich angehen zu können.

Manager müssen in Betracht ziehen, dass sie nach der Krise veränderte Aufgaben vorfinden werden. Kunden, Mitarbeiter und Geschäftspartner werden womöglich andere Prioritäten setzen. Wer sich schon jetzt auf die Denkweise einlässt, die für Open Innovation nötig ist, wird die notwendige Flexibilität entwickeln, um das Unternehmen an ein neues Umfeld anpassen zu können. Lassen Sie diese Möglichkeit nicht ungenutzt, indem Sie für die Rückkehr zur alten Normalität planen. Planen Sie für eine neue, offene Zukunft. 

© HBm 2020

Autoren

Linus Dahlander ist Professor für Strategie an der ESMT Berlin. Er lehrt zu den Themen Innovation, Entrepreneurship und Netzwerke. Martin W. Wallin ist Professor an der Chalmers University of Technology in Göteborg. Er lehrt im Bereich Technology Management und Economics.

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